Gilad Atzmon, die offene Gesellschaft und Auschwitz

Apropos "Obama und Auschwitz" werde ich auf folgenden Text von Gilad Atzmon aus dem Jahr 2007 hingewiesen.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Atz­mon ist ein 1963 in Isra­el gebo­re­ner und in Lon­don leben­der Jazz­mu­si­ker, der immer wie­der durch stei­le poli­ti­sche Stel­lung­nah­men von sich reden macht. Vie­le Punk­te, die ich in mei­nem Blog­ein­trag gestreift habe, wer­den von ihm bestätigt.

Da wäre zum Bei­spiel das Pro­blem der Ver­wal­tung und der Mon­ta­ge einer his­to­ri­schen Iko­no­gra­phie, der poli­ti­schen Sinn­ge­bung eines his­to­ri­schen Ereig­nis­ses.  Eine “Erzäh­lung” (nar­ra­ti­ve) wird kon­stru­iert, um eine bestimm­te Geschich­te zu über­lie­fern, ein­zel­ne Fak­ten aus­zu­wäh­len, und um eine Deu­tung anzubieten.

Atz­mon nennt als typi­sche Ele­men­te der Ausch­witz-Iko­no­gra­phie die “erschre­cken­den Zah­len, Men­ge­le und die Selek­ti­on, den kli­ni­sche Mas­sen­mord, die Gas­kam­mern, die Züge, die berühm­te Arbeit macht frei-Inschrift über dem Tor”. Die media­le Prä­senz die­ser Bil­der kann jedoch eben­so gut Auf­klä­rungs- wie Ver­schleie­rungs­zwe­cken die­nen (Über­set­zung von mir):

Jede his­to­ri­sche Erzäh­lung kann als Nebel­wand die­nen;  Erzäh­lun­gen sind sehr wir­kungs­voll, wenn es dar­um geht, kol­lek­ti­ve Blind­heit zu för­dern.  Nicht anders ver­hält es sich in die­sem Sin­ne mit Ausch­witz und der Holocaust-Erzählung.

Fol­ge­rich­tig kommt Atz­mon auf die Rol­le zu spre­chen, die “Ausch­witz” als dun­kel­schwar­zer Hin­ter­grund zu spie­len hat, um das US-domi­nier­te, west­lich-libe­ra­le Sen­dungs­be­wußt­sein (die­ses meint Atz­mon auch vor­ran­gig, wenn er vom “Wes­ten” spricht)  umso hel­ler erstrah­len zu lassen:

Mit dem Bild von Ausch­witz im Hin­ter­kopf malen unse­re west­lich-libe­ra­len Den­ker und Poli­ti­ker enthu­si­as­tisch ein nai­ves Bild unse­rer sozia­len Wirk­lich­keit, indem sie uns eine sim­pli­zis­ti­sche, binä­re Tei­lung sug­ge­rie­ren. Auf der einen Sei­te steht die offe­ne Gesell­schaft, auf der ande­ren ihre vie­len Feinde.

Und genau hier ist der Sub­text von Oba­mas “Aus­rut­scher” zu suchen:

Auf unse­rer Sei­te zu ste­hen, bedeu­tet, daß man dar­an glaubt, daß wir es waren, die Euro­pa befreit haben, daß wir es waren, die Ausch­witz befreit haben, daß wir die Juden geret­tet haben, und daß wir immer noch die Idee der Demo­kra­tie in die ent­fern­tes­ten Win­kel die­ses über­ko­chen­den Pla­ne­ten tragen. (…)

Es scheint so, daß Ausch­witz für unser recht­schaf­fe­nes west­li­ches Selbst­bild ent­schei­dend ist.

Die­se “Recht­schaf­fen­heit” ist aller­dings eher “Selbst­ge­rech­tig­keit”, was sich für Atz­mon unter ande­rem in den zivi­len Opfern des anglo­ame­ri­ka­ni­schen Bom­ben­krie­ges, von Hiro­shi­ma, Viet­nam, Korea und Irak zeigt – und sie kann ange­sichts der reich­lich beleg­ten Gleich­gül­tig­keit der Alli­ier­ten des Zwei­ten Welt­kriegs gegen­über dem Schick­sal der euro­päi­schen Juden nur als Heu­che­lei bezeich­net werden.

Die “Holo­caust Muse­ums”, die in den USA in jeder grö­ße­ren Stadt zu fin­den sind, haben des­halb jen­seits ihrer offi­zi­el­len Absich­ten eine spe­zi­fi­sche poli­ti­sche Funk­ti­on. Es sei kein Zufall, daß nicht weit ent­fernt vom Wei­ßen Haus ein gro­ßes “Holo­caust Muse­um” stehe.

In die­sem Muse­um geht es nicht vor­ran­gig um Men­schen oder nicht ein­mal um Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit, son­dern dar­um, die Illu­si­on der offe­nen Gesell­schaft auf­recht zu erhal­ten. Es geht um die Auf­recht­erhal­tung einer sehr bestimm­ten Erzäh­lung. Es geht dar­um, zu zei­gen, wie recht wir haben, und wie kate­go­risch unrecht die ande­ren haben, wer immer sie sein mögen.

Die­ses Muse­um han­delt nicht wirk­lich vom Leid der Juden. (…) Die zuge­las­se­ne Ausch­witz-Erzäh­lung ist im Grun­de genom­men ein Mythos, der die ame­ri­ka­ni­sche Expan­si­on­po­li­tik unter­mau­ern soll.  Ausch­witz ist die mora­li­sche Säu­le der ame­ri­ka­ni­schen Politik.

In die­ser Per­spek­ti­ve spielt es kaum eine Rol­le mehr, und wird selbst vom ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten ver­ges­sen, daß Ausch­witz in der Tat von einem der schlimms­ten Fein­de der “offe­nen Gesell­schaft” befreit wur­de, näm­lich von Sta­lin und der Roten Armee.

Und nun der für Deutsch­land ent­schei­den­de Punkt :

In Euro­pa ist es die par­la­men­ta­ri­sche Lin­ke, die aus Ausch­witz Pro­fit schlägt.  Solan­ge Ausch­witz im täg­li­chen Dis­kur­ses ver­wur­zelt ist, kann die Rech­te nie­mals ihr Haupt erheben. (…)

In Euro­pa wird jeg­li­che natio­na­le Ambi­ti­on, und wenn es nur eine demo­gra­phi­sche Sor­ge ist, die nach Frem­den­feind­lich­keit klin­gen mag, sofort als Wie­der­erwa­chen des Nazis­mus eti­ket­tiert. Die­se nie­der­drü­cken­de Welt­an­schau­ung ver­langt, daß die Men­schen kei­ne Zunei­gung zu ihrem Land zei­gen dürfen.

Und spä­tes­tens seit Josch­ka Fischer wis­sen wir, daß Atz­mon auch mit sei­ner Schluß­fol­ge­rung mit­ten ins Schwar­ze trifft:

Es scheint so, daß Ausch­witz als ein Sym­bol für die Part­ner­schaft zwi­schen der euro­päi­schen par­la­men­ta­ri­schen Lin­ken und der ame­ri­ka­ni­schen expan­sio­nis­ti­schen Rech­ten steht. Für bei­de ist Ausch­witz eine Iko­ne der Bedro­hung gegen das Bild der offe­nen Gesellschaft.

Dar­in ist in einer Nuß­scha­le auch schon das gan­ze Dilem­ma und der gan­ze Selbst­wi­der­spruch der deut­schen Lin­ken ent­hal­ten. Deren mani­sche “anti­fa­schis­ti­sche” und “anti­deut­sche” Akti­vi­tät scheint mir das Opi­um zu sein, mit dem sie sich über die­se Sack­gas­se hinwegbetäubt.

Gilt das nur für die Lin­ke, nur für deren Selbst­wi­der­spruch, nur für die­se Sackgasse?

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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