gelegentlich jedoch mit Gefühlen des Neids. Die eigene Lebenswelt als ein Atlas zu stemmen und ihr etwas entgegenzusetzen, erfordert Kraft und Ressourcen. Auf diese konnte der junge Abiturient zurückgreifen:
Vater Heinz Mosebach war ein »in der Lyrik lebender Arzt«, sein Deutschlehrer ein eiserner Goetheaner. Im Laufe seines Lebens sollten weitere Riesen Schützenhilfe leisten: Der Maler Peter Schermuly, dem Mosebach mit dem Buch Das Rot des Apfels ein Denkmal setzte, öffnete dem jungen Mann die Augen für bildhaftes Sehen. Mosebach sollte in seinen Romanen ein großer Bildbeschreiber werden.
Gómez Dávila wird sich in den späten Achtzigern als philosophisch-weltanschaulicher Prägestock erweisen, der seinem geneigten Leser den Stempel aufdrückt: Mosebach wird einer seiner profliertesten – darf man sagen: Jünger? Von nun an werden Romane mit Philosophemen gewürzt – kaum eine Beschreibung, die keine Tiefenreflexion nach sich zöge.
Am Ende des Jurastudiums 1979 versucht sich der »verbummelte Student« in der Kurzprosa, gewinnt 1980 einen Literaturpreis. Ab 1980 sei er »freier Schriftsteller«, kann man auf Klappentexten lesen, doch erst ab 1995 werden die Miniaturen gedruckt, allesamt solide, liebenswerte Arbeiten undefinierbarer Gattung. Das Lektorat von Hoffmann und Campe empfiehlt stattdessen den Roman als Betätigungsfeld.
Der Erstling Das Bett (1983) verarbeitet ironisch eine überzogene Holocaustlektüre der siebziger Jahre. Zwei Romane folgen im selben Verlagshaus: Ruppertshain (1985) und Westend (1992). Allen dreien ist eines gemeinsam: Trotz der je eigenen Qualität – man kann beobachten, wie sich hier ein Schriftsteller schreibend steigert, wie er vom Lehrling zum Gesellen aufsteigt – ist noch nicht das Maximale erreicht.
Der Folgeroman Eine lange Nacht, 1995–1997 in einem französischen Kloster verfaßt, wird zunächst gar nicht gedruckt. Mosebach hatte Hoffmann und Campe nach dem wenig erfolgreichen Westend verlassen; er sieht es jedoch immer noch als sein »Hauptwerk« an. Man muß ihm darin nicht folgen.
Die Lektüre von Die Türkin (1999) hebt den Leser schlagartig auf ein anderes Niveau. In diesem Roman stimmt alles: Die nach vorne drängende Story (ein Mann reist einer Frau in ihr Heimatland nach und scheitert im Liebeswerben), das Verhältnis von Handlung und Reflexion, die Glaubwürdigkeit trickreicher Wendungen, das unaufdringliche Symbolgeflecht, die Spannung bis zum lakonischen und doppelsinnigen Schluß. Dieser Roman braucht keine Vergleiche im 20. Jahrhundert zu scheuen.
Verinnerlichtes Handwerk wird unter dem Einfluß der Musen zur großen Kunst. Der Erfolg des Romans – Mosebach erhält nun Literaturpreise – ermutigt das Lektorat des Aufbau-Verlags zum Textrecycling: Eine lange Nacht wird in den Druck gegeben und erscheint 2000, Jahre später als faksimilierte Handschrift sogar ein zweites Mal.
Wie soll man Martin Mosebach überhaupt lesen? Als schriftstellernden Essayisten, als essayistischen Schriftsteller? Hier geht eines ins andere über. Der Roman ist belehrend, die Belehrung poetisch. Der Wechsel ermöglicht eine perspektivische Betrachtung seines Werkes. Die reine Fokussierung auf Personen und Gestalten kann in den Romanen ein kurioses und weltanschaulich neutrales Kasperletheater erblicken.
Was da alles herumläuft: schräge Typen, skurrile Personen in Nahaufnahme, bizarre Leute, deren Existenz man für erfunden hielte, wenn sie nicht so echt wirkten. Eine Hangellektüre an den weltanschaulichen Einsichten entlang ist jedoch ebenso legitim: In Nebensätzen werden ganze Programme formuliert, und am Ende bleibt von einem Fünfhundertseitenbuch vor allem die Sentenz auf Seite soundso, aber die läßt nicht mehr los.
Parallel zum Aufstieg des Schriftstellers ist der des Essayisten zu beobachten. In dem Mitteilungsblatt der Laienvereinigung für den klassischen römischen Ritus hatte Mosebach in den 1990er Jahren eigensinnige und kämpferische Miniaturen zu Fragen rund um die Liturgie formuliert. In diesen Copyshop-Heftchen riskiert er viel. 1995 hält er einen Vortrag bei der Jahreshauptversammlung, der als einer der besten und wirksamsten Texte in das Œuvre eingehen wird.
Auf hohem Niveau wird angeklagt und poetisiert, geschimpft und gepriesen, argumentiert und polemisiert. Als Zentraltext der 2002 bei Karolinger erschienenen Schrift Häresie der Formlosigkeit wirkt er wie eine intellektuelle Fräse, die mühelos theologische Argumente, schal gewordene theologische Korrektheit und ein biederes Katholikenmilieu aufschreckte.
Er schuf im theologisch einflußreichen Land der Reformation den Vorraum, in dem die päpstliche Anordnung von 2007, den alten römischen Ritus formell mit der reformierten Liturgie gleichzustellen, mühelos zu plazieren war. Der deutsche Papst hatte eine Art verrückten Liebhaber auf seiner Seite, dem, so sollte sich das Katholiken-Triumvirat abrunden, von einem der führenden Philosophen des deutschen Sprachraums sekundiert wurde: Robert Spaemann. Dieser Text voller Finten und Abgründe, eleganter Fehler und Übertreibungen ist ein Klotz, vor dem die Zunft steht wie die Affen in 2001 – Odyssee im Weltraum.
»Ich will das Missale behandeln, als hätte ich es an einem einsamen Strand gefunden.« In diesem Bild ist die Zeitlosigkeit der Verbalinspiration angedeutet, jedoch nicht bestätigt: Ist das Buch vom Himmel gefallen und angeschwemmt worden? Das hieße, es wäre immer schon fertig gewesen, und der theologische Fundamentalist wäre überführt.
Oder geht es um den subjektiven Zugang, der das Buch nach zweitausend Jahren nur als Ganzes vorfinden kann? Der Gläubige als Finder, das ist modern gut denkbar. Oder am Ende doch konkret: Wie sieht ein klatschnasses Missale am Strand aus? Vermutlich mitgenommen und wenig ansehnlich. Welcher Zelebrant nimmt denn solche Bücher in die Hand usw.
Es sind Sätze wie dieser, die Falltüren nach unten und Fenster nach oben öffnen, die den Leser zwingen, in Bewegung zu bleiben. Daß die theologische Forschung mit Mosebachs Liturgiebuch nichts Rechtes anfangen kann (der geneigte Leser um so mehr), obwohl es fraglos eines der wirkmächtigsten und kraftvollsten Bücher über die katholische Liturgie seit dem Zweiten Vatikanum ist, zeigt die derzeitige Formschwäche der Zunft.
Auch das Lästerwort von Altmeister Sloterdijk über das dort beschriebene Knien erweist sich als zu kleinkalibrig; so kommt man dem Text nicht bei. Mosebachs intuitiver Zugriff auf anthropologische Konstanten, die den großen, geduldigen, meditativen und kombinierenden Beobachter, den geborenen Romancier ausweist – hierin übrigens ganz thomistisch detailversessen –, hat an der klassischen römischen Liturgie ihre Meisterschaft bewährt. Glücklich die Religion, die solche Apologeten hat!
Die Häresie und Die Türkin sind die Kernstücke von Mosebachs Werk. Mit Der Nebelfürst (2001), erschienen in Enzensbergers Anderer Bibliothek (Eichborn-Verlag), gelingt ein Anschlußtreffer. Der Roman steht inhaltlich noch voll unter dem Liturgie-Diktat: Streitpunkt ist eine Polarinsel mit Gräbern von altgläubigen Liturgieverweigerern.
Man wird nicht zu hart sein, wenn man Mosebachs Lyrik auf den zweiten Rang verweist. Gewollte Komik des Kissenbuchs (1995) ist bewußt dem Kinderreim entnommen und will auch religiös provozieren. Formulierungen wie »Wer den Tod sucht, muß ihn zuerst verloren haben« lassen an Erich Frieds Wortkombinatorik denken, eine Richtung also, in die Mosebach vermutlich weniger arbeiten will.
2007 wird für Mosebach zum einschneidenden Jahr. Seit zwei Jahren ist er Hanser-Autor und erhält nun den Büchnerpreis. Seit zwei Jahren regiert Papst Benedikt, und die geliebte alte Messe wird rehabilitiert. Die Häresie der Formlosigkeit wird nun bei Hanser erweitert vorgelegt, der Autor steht im Zenit der gesellschaftlichen Anerkennung – auch und gerade als Querschläger.
Er hält die Balance zwischen In- und Outsider, sein Außenseitertum ist »in«. Gegner haben sogar den Begriff Feuilleton-Katholizismus geprägt, um Leute wie ihn zu diffamieren – ein fraglos polemisches Unterfangen, das der persönlich-christlichen Glaubensposition die kulturelle Prägekraft absprechen will.
Die Dankesrede der Preisverleihung gerät zum Eklat, als wolle da einer nicht ins System eingespeist werden: Mosebachs Vergleich von Französischer Revolution und NS-Regime wird von Pressevertretern nicht akzeptiert, ein Vergleich übrigens, den der Dramatiker Heiner Müller, die Ikone der DDR-Anhänger, zur selbstverständlichen Grundlage seines geschichtspessimistischen Denkens gemacht hatte. Wenn Müller das unter dem Beifall der Medien verkünden konnte, bleibt Mosebach der Applaus verwehrt.
Lorenz Jäger verteidigt ihn zwar auf der Titelseite der FAZ, aber das nützt nicht viel, der Mann ist angeschossen: Meint er dies alles am Ende doch ernst? Der Umgang treibt komische Blüten: Romkenner Mosebach (er hat kurz zuvor ein Rombuch veröffentlicht) wird erst 2014, im Vorruhestandsalter, zusammen mit jungen Künstlern zum Stipendiaten der Villa Massimo.
2009 stellt sich Mosebach in rebellenhafter Pose vor Navid Kermani, da Kardinal Lehmann nicht gemeinsam mit dem bekennenden Moslem den hessischen Kulturpreis entgegennehmen will. In der FAZ erscheint eine Generalabrechnung mit dem Mainzer Kardinal, in der alte Konflikte neu auf den Tisch kommen, von der bischöflichen Umdeutung des Abtreibungsscheins 1999 bis hin zur Kritik an Lehmanns Theologie und, sinnigerweise, an der Tatsache, daß sie preisgekrönt sei. Nimmt man diesen Text zusammen mit Mosebachs Abrechnung mit Papst Franziskus im Spiegel 2014, so wird man eines neuen Tons gewahr. Eine ursprüngliche Wildheit hat sich verkrampft.
So kritiklos er ab einem gewissen Zeitpunkt Papst Benedikt zu loben begann und über dessen moderne Einlassungen großzügig hinwegsah, so schonungslos wurde auf die Gegner eingedroschen. Die Lehmann-Replik traf den Sachverhalt übrigens auf den Kopf: Ob die Traditionalisten ihm nicht umgekehrt eine gewisse Liberalität gegenüber dem Islam bei der gemeinsamen Preisverleihung hätten vorwerfen können?
Tatsächlich ist hier Mosebachs blinder Fleck: Kermanis Fähigkeiten als Romaneschreiber und ästhetischer Betrachter des Korans lassen ihn dessen neoidealistische Lesart der Religionsphilosophie – die jener übrigens mit Lehmann teilt – übersehen. Kermani und Lehmann, zwei Männer vom Geiste der Lessingschen Ringparabel, stehen sich theologisch näher als Mosebach und Kermani, und dessen verzückte Beschreibungen christlicher Ikonen (Ungläubiges Staunen, 2015) ändern daran nichts.
Mosebach ist – bei allen Einschränkungen und Variationen – Thomist, Kermani – ohne Einschränkungen und Variationen – Aufklärer. Auch die Kritik an Papst Franziskus relativiert sich angesichts der Tatsache, daß Katholiken auf dessen Anordnung neuerdings und offziell bei der Piusbruderschaft beichten dürfen.
2012 erscheint Mosebachs Papstbuch Der Ultramontane im St.-Ulrich-Verlag auf eine kuriose Weise: Dessen zentralste Äußerungen über das Papsttum fehlen, etwa eine Verteidigung von Benedikts Aufhebung der Exkommunikationen der Piusbischöfe (Der Spiegel, 2009). Offenbar war das Vorlegen der unzensierten Variante im Karolinger-Verlag keine Option wie 2002.
Das Bändchen wird mit anderen Aufsätzen aufgefüllt, darunter der Zeitungsartikel über das Thema »Blasphemie« von 2012, so daß in dem zensierten Büchlein über Zensur nachgedacht wird. Mosebachs Ruf zur Ordnung scheiterte an mißverständlichen Formulierungen, in denen er Verständnis für die (gesetzlich nicht gedeckten) Einschüchterungen durch Moslems zeigte. Das Büchlein insgesamt erscheint trotz beschnittener Textbasis als vorzeitiger Nachruf auf ein geglücktes Pontifkat; Monate später sollte der deutsche Papst abdanken.
Auf den ersten Blick scheint das Gesamtwerk unübersichtlich auf Verlage verteilt. Bei genauerem Hinsehen bleiben Hoffmann und Campe, Aufbau, Hanser und neuerdings Rowohlt übrig. Ansonsten wurden Nischenthemen in Nischenverlagen untergebracht. Die Verlage spiegeln Mosebachs Werdegang und periodisieren qualitativ: Die erfolgsarmen Lehrjahre, die Meisterschaft und schließlich die Jahre des Ruhms im renommiertesten deutschen Verlagshaus. (Daß Hanser neue Wege geht, erklärt den Wechsel zu Rowohlt.)
Viele vordergründige Widersprüche, mit denen Mosebach als vermeintlicher Querdenker kokettiert, lösen sich auf, wenn der rechte Blickwinkel eingenommen wird: Der Katholik, der mit einem Moslem befreundet ist, ist primär mit einem Ästheten befreundet; der Anzugträger, der sich im Poloshirt ablichten läßt, kokettiert mit dem Stilbruch; der Papist, der den Papst beschimpft, beschimpft einen Mann, der vermeintlich das Amt schlecht ausübt; der Reaktionär, der sich im Lager des Gegners tummelt, vermeidet mittlerweile jugendlichen Sturm und Drang – was die Gelegenheitsrandale nicht ausschließt.
Mosebach kann in die Phase der Einholung treten: Seine Strahlkraft ist stark. Seine Überlegungen zur klassischen und modernen Architektur sind Referenzpunkte der Zunft geworden, man beginnt dort zu ahnen, daß »betongewordenes Millimeterpapier« nicht ausreicht.
Seine theologischen Reflexionen graben sich in den Fußnotenapparat akademischer Arbeiten, Gegner gestehen, seine Thesen seien zwar irgendwie einseitig, jedoch »anschlußfähig«. Seine Reisetagebücher inspirieren Globetrotter. Der Adel will ihn an der fürstlichen Tafel.
Man wird nicht fehlgehen, wenn man ein Wechselverhältnis von Kunst und Reflexion, Roman und Essay ausmacht. Mosebach selber hat ja ein Romankapitel in der Häresie der Formlosigkeit abgedruckt. Der Mond und das Mädchen (2007) lebt von den katholischen Einsichten in das Wesen des Exorzismus. Bei allem Humor und bei aller Ironie: Der historische Kontext ist die Förderung des Exorzismuswesens durch Papst Benedikt.
Daß in Frankfurter Garagen nach muslimisch-afrikanischem Volksritus Dämonen ausgetrieben werden, ist im Bereich des Realistischen wie die wüste Party aus dem Blutbuchenfest. Die Romane enthalten klare inhaltliche Statements zu harten ethischen und politischen Fragen: Modernisierung, Städtebau, Abtreibung, Bürgerkrieg, Monarchie.
Das dort Gesagte mag auf manche skurril und abwegig, ja lachhaft wirken; es bleibt der Verdacht, daß der Autor es trotz Ironie grundsätzlich ernst meint. Wenn man auf Internetbildern Felicitas von Lovenberg strahlend neben einem ihrer Lieblingsautoren sieht, dann darf vermutet werden, daß sie sich nicht über weltanschauliche Stellungnahmen im Romanwerk freut.
Mißverständnisse werden diesen Mann weiter begleiten, er wird sie auch genießen; sie gehören zu Martin Mosebach.
Winston Smith 78699
Dieser brave Aufsatz oder gar Vortrag liest sich wie von einem deutschen Goldrandprofessor, der immer schon Stipendieat sein durfte. Gut gemeint in seiner Bemühung um gönnerhafte Differenziertheit, kann ihm in diesem Habitus keine Werbung für Mosebach gelingen, es sei denn er wendet sich an Leser, die lange über das in eine bestimmte Lücke im Regal einzupassende Buch nachdenken, des würdigen Regals wegen.
Na dann, wozu noch lesen? Bei Faust 2 hatte ich immer dieses Problem. Eigentlich alles geklärt, ein weiser Mensch läßt ein paar Puppen tanzen, aber alles wird sich in Wohlgefallen auflösen, so kam mir das ab den ersten Zeilen vor und so trieft hier ab Seite drei oder vier, nach Verlöschen der kleinen Liturgierakete, jeder Satz von Abgeklärtheit. Und ich weiß bis heute nicht, was in Faust 2 drinsteht.
... und dieser Aufsatz oder gar Vortrag eines Professors mit akademischem Verein und Goldrandbrille (langweilt die Wiederholung bereits?) hat das schon hinter sich. Das hat Gomez-Davila nicht verdient. Jetzt weiß ich auch, an was mich der Stil (neben einem Dichterfürsten) erinnert. Jene Landschafts- und Architektursendungen von Dieter Wieland waren immer so klug und so weise und so tief und so umsichtig, aber in der Vortragsweise derartig deprimierend, dass sie nachhaltigen Schaden bei Kindern anrichteten. https://www.br.de/br-fernsehen/sendungen/unter-unserem-himmel/dieter-wieland-topographie-100.html