Das Buch hält sich fünf Monate nach Erscheinen immer noch auf Platz zwei der SPIEGEL-Bestsellerliste, obwohl es trotz reichlich Zündstoff keine politische Debatte ausgelöst hat. Vermutlich haben es viele Leute aufgrund des bereits länger vernehmbaren Trends der „Landlust“ gekauft. Zeh ist ein kluger Schachzug gelungen, indem sie diese Leserschicht zwar anspricht, im Roman allerdings deren Seifenblasen zersticht.
Unterleuten ist nicht nur irgendein fiktives Dorf in Brandenburg, in dem die Bewohner alle ihre Utopien verlieren, durchdrehen und sich gegenseitig an die Gurgel springen. Juli Zeh hat in ihren Interviews immer wieder betont, daß die einzelnen Figuren „absolut stellvertretend für die Gesellschaft im Ganzen“ stehen. Die „engagierte“ Schriftstellerin erklärt selbstverständlich auch, was sie damit politisch aussagen will. Gegenüber der Wiener Zeitung sagte sie:
Das ist eins meiner großen Themen: die Frage, wie wir postideologisch und postreligiös noch zueinander halten können. Ich habe kein schwarzgefärbtes Menschenbild, ich glaube nicht, dass der Mensch nur ein Wolf unter Wölfen ist. Ich glaube aber schon, dass die Seite in uns, die empathisch, sozial, loyal ist, immer unter Legitimierungsbedarf steht. Die braucht immer Unterstützung durch eine Idee, eine Vision, eine Geschichte. Wir sind jetzt in einer Phase, in der das alles abgebaut ist und uns diese Geschichten fehlen. Deswegen hat das Eigeninteresse so ungeheuren Stellenwert bekommen und wir driften in eine große Infantilität ab.
Zeh skizziert in ihrem Roman keinen Ausweg aus diesem Dilemma. Vielmehr schildert sie, wie alle unter dem Verlust der großen Erzählungen leidenden und auf sehr verschiedene Weise infantilen Charaktere ihre Dorfgemeinschaft und damit die Gesellschaft selbst zerstören. Diese Selbstzerstörung – so läßt sich dies nur interpretieren – geht auch ohne Terrorismus, Überfremdung und staatliche Bevormundung vonstatten, weil das, was in den Köpfen der Menschen dekonstruiert wurde, sich nun verspätet im für jedermann sichtbaren Zerbrechen aller sozial stabilen Beziehungen zeigt.
Die Figuren in Unterleuten versuchen dagegen mit zwei von Vornherein zum Scheitern verurteilten Strategien anzukämpfen. Die „progressiven“ Charaktere – allen voran Linda Franzen – verfallen einem Selbstoptimierungswahn. Zeh beschreibt die junge Generation in Unterleuten als eine, die der „absurden Vorstellung“ anhängt, „das eigene Schicksal kontrollieren zu können“. An einer Stelle im Roman heißt es dazu:
Man musste nur immerzu alles richtig machen, Strategien entwickeln, keine Fehler begehen. An sich selbst arbeiten und überhaupt alles optimieren, was bei drei nicht auf den Bäumen war. Einer Frau wie Linda kam es darauf an, sich an die Spitze von Was-auch-immer zu setzen.
Das Problem dabei: Umso mehr die Selbstoptimierung vorangetrieben wird, desto mehr bleiben persönliche Bindungen auf der Strecke. Wer nun aber glaubt, man könne sich diesem Perfektionismus einfach so entziehen, aus der Gesellschaft der Streber aussteigen und danach ein freies, selbstbestimmtes Leben führen, den enttäuscht Zeh. In ihrem Roman mißlingt sowohl das Streben nach Fortschritt als auch das Aufhalten des Neuen, weil die diffus konservativen Figuren keine Traditionen mehr kennen und an Machtkämpfen sowie der Disposition ihrer eigenen Persönlichkeit scheitern.
Gerade der linkskonservative Intellektuelle, Aussteiger und Vogelschützer Gerhard Fließ hat in seinem Leben anscheinend nur eins gelernt: zu kritisieren. Im Zweifelsfall bekämpft er deshalb das Neue, das er ablehnt, weil dahinter wirtschaftliche Interessen stecken und die Umwelt leidet, genauso wie das bestehende „System“, da dies – von links her gedacht – kapitalistisch, hierarchisch und traditionell (d.h. in seiner Logik: reaktionär) ist. Was bleibt aber dann noch? Eben nur die Utopie von der Landidylle, nach der sich jedoch nicht lange leben läßt. Leute wie Gerhard Fließ besitzen schließlich überhaupt nicht die Fähigkeiten, um sich auf dem Land zu behaupten.
Diejenigen, die sie besitzen, läßt Zeh allerdings auch an der Selbstzerstörung der alten dörflichen Tauschgesellschaft aktiv teilnehmen. Die Langeweile der Alteingesessenen wecke die „Sehnsucht nach Skandalen und Katastrophen“. Aufgrund der so verlorengegangenen Einigkeit über die Zukunftsprojekte der Gesellschaft werden alle Vorhaben von allen Seiten torpediert und zersetzt. Das Dorf Unterleuten besteht – abgesehen vom blassen Bürgermeister – nur noch aus Individualisten, die sich nebensächliche Kriegsschauplätze suchen (z.B. den Kampf gegen von oben verordnete Windkraftanlagen), um sich anstelle einer größeren Idee zumindest für irgendetwas leidenschaftlich einsetzen zu können.
Die Aussteiger zählen ebenfalls zu diesen Individualisten, die auf dem Land eben nur irgendein utopisches Projekt verfolgen, im tiefsten Inneren aber „Menschen ohne Erinnerung“ sind. Würden Journalisten, die mit Juli Zeh sprechen dürfen, kluge Fragen stellen, würden sie genau hier nachhaken. Zeh behandelt in ihrem Roman einige Altlasten des Dorfs. Übertragen auf unsere Gesellschaft kann sie damit nur den Schuldkult meinen, der es unmöglich macht, aus der Erinnerung heraus eine Erzählung vorzutragen, die es dem Volk ermöglicht, eigene Traditionen unverkrampft fortzuentwickeln und sich auf neue, gemeinsame Projekte zu einigen, oder?
Statt bei dieser Frage im Roman oder den Interviews in die Tiefe zu gehen, biegt Zeh aber vorher elegant ab und erklärt die Selbstzerstörung der Gesellschaft mit der „Abwesenheit jeglicher Moral“ und dem Fehlen von Werten. Als Lösung schlägt sie allen Ernstes vor, die „gesamte Gesellschaft in einen Wertekurs“ zu stecken. Haben wir also lediglich die westlichen, universalistischen Werte noch nicht häufig genug wiederholt und sind deshalb Deutschland und Europa in eine Identitätskrise geraten?
Die Antwort darauf ergibt sich von selbst. Juli Zeh ist in all ihren Romanen und Essays unfähig, positive, sinnstiftende und negative, sinnzerstörende Traditionen zu erkennen. Sie ist nur in der Lage, Kritik zu üben. In ihrem Roman Spieltrieb (2004) hat sie das Wesen der Macht auf individueller Ebene auseinandergenommen. In Corpus Delicti (2009), wo sie eine entstehende Gesundheitsdiktatur schildert, beschreibt sie hingegen sehr schön, wie ein Staat den Selbstoptimierungswahn der Gegenwart durch Bevormundung auf die Spitze treiben kann. In Unterleuten finden diese beiden Themen nun zusammen, weshalb es durchaus berechtigt ist, dieses Buch ihren bisher wichtigsten und besten Roman zu nennen.
Die Qualität ihrer Romane leidet nicht darunter, daß Zeh nur Kritik üben kann. Auch ihrer Gesellschaftskritik (Flexibilitätshype, staatliche Überwachung, …) kann man in weiten Teilen zustimmen, aber wo ist die Alternative für das Leben der einfachen Menschen da draußen? Zeh sträubt sich gegen zwei wichtige Einsichten, ohne die man heute nicht vorankommt, wenn man etwas verändern will. Erstens: Ohne eine große Erzählung funktionieren Gesellschaften im rein technischen Sinne vielleicht noch einige Jahrzehnte oder sogar ein bis zwei Jahrhunderte. Langfristig müssen sie allerdings zerfallen. Zweitens: Auch wenn wir dabei immer wieder auf die Nase fallen, muß weiter „ausgestiegen“ werden – und zwar nicht nur aus dem Stadtleben, sondern ebenso aus allem, was die totalitäre Moderne so unerträglich macht: der Vermassung, der Verdummung, der Vereinsamung, der technischen Perfektionierung (das heißt nicht gleich, daß Sie alle ihre Smartphones und Computer wegschmeißen müssen), der Entortung, …
Zeh hat mit ihrer Kritik an den Aussteigern, zu denen sie ja paradoxerweise selbst zählt, nur insofern recht, als diese sich immer sehr bewußt darüber sein sollten, wie mühsam und beschwerlich der bevorstehende Weg ist. Es wartet dabei keine schnelle Idylle auf uns. Der Ausstieg ist vielmehr ein langsames Abtasten der eigenen Umwelt, um auf Traditionen zu stoßen, für deren Bewahrung und praktische Anwendung wir einige längst vergessene Kulturtechniken neu erlernen müssen.
Alexander Heumann
"Ohne eine große Erzählung funktionieren Gesellschaften im rein technischen Sinne vielleicht noch einige Jahrzehnte oder sogar ein bis zwei Jahrhunderte. Langfristig müssen sie allerdings zerfallen."
Dostojewski sagte sinngemäß: Der Westen hat Jesus Christus verloren; nur daran wird er zugrunde gehen. Dies ist die "große Erzählung", an die Europa wieder anknüpfen muss, wenn es eine Zukunft haben will. Vorher müssen allerdings die glaubens- und volksverräterischen Pharisäer aus den Kirchen und Tempeln vertrieben werden. Jesus hätte es nicht anders gemacht.