Mal die der frommen Marie, dann die ihrer androgynen, in jeder Hinsicht hemdsärmeligen Schwester Liese, mal die von Hans, dem ungeschickten Lateiner, der Lehrer werden will, und die von Hermann, der eigentlich noch ein Knabe ist. Nun, was erzählen sie? Etwa, wie Hermann, dessen Onkel Schuhmacher ist – und Leder ist knapp in dieser Zeit –, sich nächtens heimlich auf den Acker begibt, wo die toten Soldaten notdürftig verscharrt sind und ihrer eigentlichen Beerdigung harren. An den herausragenden Fußspitzen sind die Stellen zu erkennen. Hermann entledigt die Toten ihrer Schuhe.
Blut und Leichenwasser sind Richtung Kopf gelaufen statt in die Füße! Glück muß man haben!, denkt Hermann. (…) In Hermann regt sich etwas. Finderstolz und Erntestimmung. (…) Sein Onkel wird stolz auf ihn sein. Und bald gibt’s für ein paar Leute in Sandheim wieder neue Schuhe.
Von Erntestimmung kann hingegen für die Sandheimer Frauen keine Rede sein. Die Massenvergewaltigungen durch marokkanische Soldaten in französischem Dienst hat man »Maroquinaden« genannt – ein, zumal literarisch, völlig unbeleuchtetes Terrain. Metzger tut sein Bestes, um keiner Schwarzmalerei bezichtigt werden zu können. Die Sicht von Ahmad, einem guten Nordafrikaner, wird nicht ausgelassen. Ahmad wird fallen, kurz vor Sandheim.
Seine Kampfgefährten nehmen den Ort ein, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Sie penetrieren einen Hort der Unschuld, auch Frauen wie »die Marie« und »die Liese«, die bislang keinen Mann, geschweige denn einen »schwarzen«, »ganz« gesehen haben. Sie tun es mit äußerster Brutalität, es sind Gangbangs avant la lettre. Glücklich jene jungen Frauen, denen man ausgetüftelte Verstecke verschaffen konnte. Jene, in deren Häusern Offiziere einquartiert waren. Und jene ganz jungen, die sich per Schere und Verkleidung von Antonia zu Anton, von Hanna zu Hannes verwandeln konnten.
Marie will hernach tapfer bleiben, und wie tapfer! Sie trägt nun Kopftuch und »die Sachen der verstorbenen Tante. Die Kleider einer Toten«. Eine Zeitlang hilft ihr der Glaube; die Leute im protestantischen Sandheim sind sehr fromm. »Dafür hat der Herr sie [Marie] auserwählt: die Last der anderen zu tragen.« Schwer beladen ist der Wagen, der eines Tages Marie und ihre Schicksalsgefährtinnen ins Krankenhaus nach Bruchsal fährt.
Hans hingegen ist gerade aus Rußland zurückgekehrt. Nun nehmen ihn die Franzosen mit. Man bedauert, nicht in die Fänge einer anderen Besatzungsmacht gekommen zu sein. Schwulaufdringliche marokkanische Wärter und Suppe voller Käfer und Maden – das gäbe es bei denen wohl nicht. Hans gelingt die Flucht nach Sandheim, wo das Leben weitergeht. Muß ja.
Sandheim, das kommt im Buch nicht heraus, ist in Wahrheit der Ort Graben-Neudorf nahe Bruchsal. Der Autor hat in seinem Heimatdorf, in dem er seit langem nicht mehr lebt, recherchiert: Was damals eigentlich wirklich geschehen sei. In einem Interview sagte Metzger, daß er der ungeschriebenen Regel, daß man »darüber nicht spreche«, irgendwann nicht mehr geglaubt habe.
»Fast niemand hat mir einen Korb gegeben, wenn ich ein Gespräch über die letzten Kriegstage angefragt habe. Im Gegenteil: Die meisten schienen froh zu sein, daß da endlich mal einer war, der zugehört hat.« Metzger ist – zunächst im Gespräch mit einer Tante – das widerfahren, was viele Nachgeborene erleben: Fragt man gezielt, ja »direkt«, dann gibt es gar kein Schweigegebot. Scheint, als sei nur keiner dagewesen, der es wirklich wissen wollte! Und in der damaligen Zeit selbst wäre es hinderlich gewesen, die Ereignisse erzählend noch einmal durchzumachen.
Metzger (zuvor Textchef bei diversen Frauenmagazinen) hat hiermit einen inhaltlich bewegenden und thematisch wohl einzigartigen Roman vorgelegt. Damit nicht genug, das Buch glänzt auch durch stilistische Brillanz. Wie nahe hätte es gelegen, sensationistisch zu schreiben, klagend, bitter, ätzend. Metzger entgeht dieser Versuchung, es ist ein klares, stilles Buch, eine feine, bildreiche Sprache.
Metzgers Gerüst ist das Konkrete. Die Kapitelüberschriften heißen beispielsweise »Das Damenrad«, »Die Mähmaschine«, »Der Suppenteller«. Es sind Alltagsdinge, die überdauern, die schon »davor« da waren, in Sandheim, und es auch nachher noch sind. Den Überschriften ist je eine kurze Beschreibung beigefügt, etwa so:
Der Erntesack. Die dunkle Zahl 1832 steht auf seiner blassen Vorderseite, und jede Faser an ihm ist Handarbeit. Seine ersten Besitzer haben den Flachs gebaut, sie haben ihn geerntet und geröstet und gebrochen und gebleicht (…) Ein Getreidesack ist eine Investition. Der Vater hat ihn an seinen Sohn vererbt und der wieder an den seinen. Noch in zweihundert Jahren kann man sein Korn darin sammeln, wenn man welches hat.
+ Jochen Metzger: Und doch ist es Heimat, Reinbek 2016. 368 S., 19,95 €.