Denkt die Wissenschaft?

aus Sezession 73 / August 2016

von Felix Dirsch

Nach den großen Debatten über Heidegger, die sich wellenartig seit rund dreißig Jahren hinziehen, ist es mutig, noch über den »Meister aus Deutschland« zu schreiben. Zuviel steht mittlerweile auf dem Papier und im Internet.

Mit dem chi­le­ni­schen Ger­ma­nis­ten Vík­tor Farí­as haben die mehr medi­en­wirk­sa­men als wis­sen­schaft­lich wei­ter­füh­ren­den Kon­tro­ver­sen Ende der 1980er Jah­re begon­nen, mit Peter Traw­nys (häu­fig als sen­sa­tio­nell bezeich­ne­ter) Her­aus­ga­be der Schwar­zen Hef­te enden die öffent­li­chen Debat­ten vor­erst. Die Ankla­gen gegen Heid­eg­ger wer­den von Deka­de zu Deka­de hef­ti­ger. Das wird häu­fig auch von Fach­wis­sen­schaft­lern goutiert.

Obwohl Rein­hard Meh­ring, der vor Jah­ren eine viel­dis­ku­tier­te Schmitt-Bio­gra­phie auf den Markt gebracht hat, auf der Woge des modi­schen Heid­eg­ger-Bas­hings schwimmt, hat er jen­seits die­ses popu­lä­ren Gen­res dem Leser, der an seriö­ser Deu­tung inter­es­siert ist, etwas zu sagen.

Die vor­lie­gen­de Publi­ka­ti­on ver­sam­melt ver­schie­de­ne Stu­di­en in über­ar­bei­te­ter Form, die an unter­schied­li­chen Orten bereits zugäng­lich sind. Das erklärt ihren Sam­mel­su­ri­um-Cha­rak­ter. Meh­rings Schrift rückt, wie der Titel besagt, den Nietz­schea­ner Heid­eg­ger ins Zen­trum der Betrachtung.

Der ers­te Abschnitt bemüht sich um eine per­form­anz­ana­ly­ti­sche Betrach­tung, in der sowohl Fried­rich Höl­der­lin, für Heid­eg­ger der Dich­ter schlecht­hin, wie Elfrie­de Jeli­nek vor­kom­men, die in ihren Stü­cken mit­un­ter über den Tau­send­sas­sa wit­zelt. Der zwei­te Teil prä­sen­tiert Heid­eg­ger im Kon­text eines gro­ßen Dis­kurs­ge­flech­tes der Zwischenkriegszeit.

In die­sen Aus­ein­an­der­set­zun­gen spie­len die jüdi­schen Schü­ler des Frei­bur­ger Gelehr­ten, etwa Karl Löwi­th, Her­bert Mar­cu­se und Hel­mut Kuhn, eine nicht zu unter­schät­zen­de Rol­le. Der drit­te Abschnitt geht auf das Endl­os­the­ma »Heid­eg­ger im Natio­nal­so­zia­lis­mus« ein. Der angeb­li­che oder tat­säch­li­che Anti­se­mi­tis­mus fehlt natür­lich nicht. Auf Heid­eg­gers Kri­tik am NS-Regime, die Sil­vio Viet­ta schon vor eini­ger Zeit näher aus­ge­führt hat, geht Meh­ring indes­sen zu wenig ein.

Immer­hin fin­den sich eini­ge Hin­wei­se auf Heid­eg­gers Ableh­nung des Zeit­geis­tes nach 1945, ins­be­son­de­re auf des­sen Anmer­kun­gen zu Ree­du­ca­ti­on und poli­ti­schen Impli­ka­tio­nen des Mono­the­is­mus. Schwer­punkt der Ver­öf­fent­li­chung ist Heid­eg­gers Nach­laß- bezie­hungs­wei­se Nach­laß­in­ter­pre­ta­ti­ons­po­li­tik. Die bald über hun­dert Bän­de umfas­sen­de Gesamt­aus­ga­be, detail­liert vor­be­rei­tet, dis­ku­tiert und aus­ge­klü­gelt, hat erst den­je­ni­gen Heid­eg­ger geschaf­fen, als der er heu­te gilt.

Meh­rings dies­be­züg­li­che Erör­te­run­gen machen das Buch auch für jene zu einem Gewinn, die vom übli­chen »Fall Heid­eg­ger« gelang­weilt sind.

+ Rein­hard Meh­ring: Heid­eg­gers »gro­ße Poli­tik«. Die seman­ti­sche Revo­lu­ti­on der Gesamt­aus­ga­be, Tübin­gen 2016. 334 S., 49 €.

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