So fragen die anderen. Es war wohl noch nie so schwierig wie heute, den Hebel zu der einen großen Umwälzung anzusetzen, sofern man nicht in den Schaltzentralen der Macht sondern irgendwo im Außerhalb sitzt. Gibt es überhaupt einen solchen Hebel? Und gibt es den archimedischen Punkt, von dem aus die Welt aus den Angeln zu heben wäre?
Interventionsversuche nach Art von Harmodios und Aristogeiton wären sinnlos – diejenigen, die heute herrschen, sind austauschbare Funktionseliten ohne Charisma, das System gleicht der mythologischen Hydra. Ihre Beseitigung wäre nicht mehr als ein kleiner Betriebsunfall – ein Rädchen würde mühelos durch ein anderes ersetzt werden. Massenproteste, die zum Umsturz führen? Derartiges könnte in einem Drittweltland noch gelingen, sofern der Geheimdienst einer Großmacht diesen Aufstand organisierte.
Aber hier, mitten in Europa? Hier würde man allenfalls Rücktritte und Neuwahlen erreichen können – mit der Konsequenz, daß jede ernsthafte Folge ausbliebe. Unsere Situation gleicht ein wenig der Lage im Mahlstrom – je tiefer es hinabgeht, desto mehr nimmt die Geschwindigkeit zu. Doch wächst dort, in der Gefahr, wirklich auch das Rettende? Die Beschleunigung, das steigende Tempo der Veränderung, ist eines der größten Hindernisse, mit denen wir es zu tun haben, wenn wir der Frage nach dem Handeln nachgehen. Und dieses Tempo nimmt weiter zu, wie ein kurzer Rückblick zeigt.
Zwischen der neolithischen Revolution vor vielleicht 5.000 Jahren und der Zeit um 1400 n. Chr. hat sich nicht allzu viel im Leben der einfachen Leute geändert (auch die Christianisierung hatte für die meisten Menschen kaum Folgen, wie denn ja auch auf dem Lande bis weit in die Neuzeit hinein Heidnisches sich halten konnte). Man lebte zu allen Zeiten ein sehr elementares und vielfältig bedrohtes Leben zwischen Glaube und Aberglaube, zwischen Lust und Schmerz, wusste kaum, was drei Orte weiter geschah, geschweige denn am anderen Ende der Welt.
Die Zeit zwischen 1400 und 1800 brachte erstmals größere, für jeden spürbare Beschleunigungsschübe. Der Buchdruck, die öffentlich sichtbare Kirchturmuhr (als Symbol der neuen Zeitrechnung) sowie zahlreiche Erfindungen bis hin zur Dampfmaschine – die Beschleunigung des täglichen Lebens nahm langsam aber sicher Fahrt auf. Dennoch blieb das Leben zumal der einfachen Leute (und damit der großen Masse) weitgehend dem Leben einer langen Reihe von Urahnen nicht unähnlich.
Erst im 19. Jahrhundert gab es innerhalb weniger Jahrzehnte eine enorme Temposteigerung – die Maschinen wurden größer, energiegieriger, schneller und leistungsfähiger, auch der Informationsfluss nahm an Tempo und Reichweite dramatisch zu. Dauerte es wenige Jahrzehnte zuvor noch Monate, bis eine Nachricht zweitausend Kilometer zurückgelegt hatte, waren es jetzt nur noch Tage, bis sie einmal um die Welt kam. Heute geschieht dies in Sekunden. Das zwanzigste Jahrhundert brachte in mehreren gewaltigen Beschleunigungsschüben unendlich mehr an Veränderungen in den Lebensgewohnheiten als die gesamte Menschheitsgeschichte zuvor. Heute ändert sich innerhalb eines Jahrzehnts wiederum mehr als im gesamten zwanzigsten Jahrhundert.
Und das Tempo steigert sich weiter. Von Tag zu Tag. Von Stunde zu Stunde. Folge: Der Mensch verliert auf rasender Achterbahnfahrt die Orientierung, der Überblick geht verloren. Wichtiges wird für unwichtig, Unwichtiges für wichtig gehalten. Weder unser Seelenleben noch unser Geist können Schritt halten.
Die Unübersichtlichkeit und Vielschichtigkeit der Veränderung tut ein Übriges und ist ein zusätzliches Hindernis, das dem entschlossenen und zielgerichteten Handeln im Wege steht. Es passiert heute zu vieles zur gleichen Zeit an zu vielen Orten – ein Chaos, das vor allem auch in unseren Köpfen geschieht, wenn wir (durchaus freiwillig) über die Medien Kenntnis davon nehmen.
Natürlich wird ein ambitionierter Theoretiker auch heute noch versuchen, systematische Erklärungsversuche anzubieten, doch ehe er in seiner Rede das erste Mal Luft geholt hätte, hätten sich die Verhältnisse erneut geändert, neue Aspekte würden zu beachten sein, Bedeutungen hätten sich verschoben, bewährte Deutungsmuster wären obsolet geworden. Jeder noch so weit ausholende und mit großer Geste offerierte Erklärungsversuch (ob mit oder ohne Verschwörung) ist Schattendeuterei.
Hinzu kommt das Massenhafte der Veränderung: Was geschieht, geschieht nicht nur rasend schnell und in vielerlei Gestalt, es setzt auch immer mehr Masse in Bewegung. Vom global anschwellenden Warenverkehr bis hin zur global anschwellenden Massenmigration: Alles wird zunehmend in den Zustand der Bewegung versetzt – eine Art Zwang zum Wachstum und zur Dynamik vor allem zerstörerischer Tendenzen scheint sämtliche Lebensbereiche zu erfassen: Das Menschsein im Ganzen gerät in Bewegung, das ist wie soziale und ökonomische Plattentektonik für jedermann in Echtzeit.
Es wird immer schwieriger, in der Beschleunigung der Massenbewegung das Besondere und das Individuelle zu erkennen. Genau das bräuchte es aber als Ansatzpunkt für ein zielgerichtetes Handeln. Man kann als Einzelner ein Individuum aufhalten, aber keine Massen. Ob Massen ihrerseits Massen aufhalten könnten? Vielleicht – wenn sie nicht in ihrem Verhalten handlungsunfähig gemacht worden wären. Womit wir bei der Rolle der nicht umsonst so genannten Massenmedien sind.
Die Medien berichten nur über das, was sich verändert, nie über das (möglicherweise) Bleibende. Sie tun dies undifferenziert, Hauptsache es gibt Veränderungen, über die berichtet werden kann. So entsteht eine ungeheure Menge an Informationsmüll. Was in jedem Haushalt seit langem üblich ist – die Mülltrennung – funktioniert im Medienbetrieb nur bedingt. Welche Information ist wirklich wichtig? Welche kann ich getrost ignorieren? Wäre eine konsequente Medienabstinenz (neben einem generellen Konsumfasten) ein geeignetes Mittel, um wenigstens wieder etwas klarer sehen und denken zu können? So etwas kann nur im Individuellen begonnen werden. Wie aber sieht es dort aus?
Auch die ganz persönliche Inanspruchnahme durch kleine alltägliche Veränderungen nimmt Zeit und Kraft zum Handeln. Nicht wenige unter denen, die heute eine Notwendigkeit zum Handeln erkennen, sind bereits durch die zahlreichen kleinen Veränderungsprozesse in ihrem Alltag dermaßen beansprucht, daß kaum noch Ressourcen für wichtigere Dinge bleiben.
Die Inanspruchnahme betrifft das Berufliche wie auch das Private. Die meisten Menschen sind alleine schon durch berufliche Anforderungen, durch den ständigen Aktualisierungszwang und Tarifwechsel für diverse Kommunikationsmedien, durch die Suche nach einer günstigeren Krankenversicherung, durch Anbieterwechsel in der Energieversorgung, durch die Hatz nach günstigen Einkaufsquellen für Dinge des täglichen Bedarfs stark beschäftigt. Hinzu kommt der Organisationszwang im Alltag (für Familien noch erheblich gesteigert): Urlaub, Schule, Fortbewegung, Bildungsoptimierung, Altersvorsorge und nicht zuletzt die immer stärkeren Einsatz fordernde Verpflichtung zur Gesundherhaltung.
Das Angebots- wie auch das Kostengefüge ist in diesen Bereichen dermaßen stark dynamisiert, daß man schon Absicht dahinter vermuten kann: Haltet die Leute mit Updates aller Art und der Jagd nach dem günstigsten Preis beschäftigt, damit sie nicht anfangen, nachzudenken oder gar zu handeln! Hinzu kommen all die freiwillig und gern in Kauf genommenen Zerstreuungen und Ablenkungen durch vielfältige Unterhaltungsangebote. Den grundsätzlichen Fragen kann sich im Wesentlichen heute wohl nur zuwenden, wer ein asketisches Einsiedlerleben führt, keinem geregelten Broterwerb nachzugehen gezwungen ist, gut situierter Rentner ist, keine Familie hat und ein konsequenter Konsumverächter ist (Ausnahmen bestätigen natürlich wie immer die Regel).
Wie also handeln? Gibt es den archimedischen Punkt? Wo ist er? Der archimedische Punkt ist stets außerhalb des Systems zu suchen. Wenn das System Beschleunigung braucht und generiert, wenn das System selbst Beschleunigung ist, dann ist der archimedische Punkt der der absoluten Ruhe. Verweigern wir uns der Bewegung – Konsum- und Medienentzug, Ignoranz gegenüber den angesagten Themen – werden wir zwar nicht ausgenommen von der Bewegung, die uns trotzdem noch erfassen und in Mitleidenschaft ziehen kann, doch wir gewinnen vielleicht einen überlegenen Standort der Betrachtung und des Nachdenkens, um den Punkt ausfindig zu machen, von dem aus die Bewegung insgesamt zum Stillstand zu bringen wäre – der Griff in die Speichen des Rades will sorgfältig geplant sein.
Schwächster Punkt der Bewegungswelt sind ihre beiden Haupttriebwerke: das globale Datennetz inklusive der an ihnen hängenden Finanzmärkte und die Infrastruktur der Energieversorgung. Beide Großsysteme sind dezentral organisiert, was aber nichts anderes heißt, als daß es statt einer großen Zentrale viele kleine Zentren gibt, die untereinander vernetzt sind. Synchrone Ausschaltungen mehrerer dieser Zentren und Verbindungswege wären einem schweren Schlaganfall vergleichbar – kognitive Ausfälle, Lähmungserscheinungen, Handlungseinschränkung, Aussicht auf Totalzusammenbruch. Das herbeizuführen, das wäre widerständiges Handeln schlechthin.
Doch wer wollte die Verantwortung für im Kern nicht beabsichtigte, aber doch unausweichliche katastrophale Folgen für Unbeteiligte auf sich nehmen? Vielleicht also doch lieber nicht handeln (jedenfalls nicht in diesem Maßstab) und stattdessen darauf setzen, daß die Beschleunigung an ihr selbst zugrunde geht – daß also das sich steigernde Tempo die Bewegungswelt unausweichlich überfordern und zerreißen wird? Im Ergebnis wäre dieses Abwarten dem Versuch, die Beschleunigung durch Eingriffe von außen radikal zu stoppen, wohl sehr ähnlich. Das wäre nicht notwendig ein absolutes Ende von allem, sondern nur die Wegbereitung für einen neuen Anfang.
Ein anderer Weg: Im Mahlstrom bleiben – und wie der alte Mann in Edgar Allan Poes Erzählung durch Beobachtung der Gegebenheiten und durch umsichtiges Verhalten der Vernichtungsgefahr zu entrinnen versuchen. Das freilich wäre eine rein individuelle Angelegenheit.
Helga Müller
"SICH VERWEIGERN IST DIE EINZIGE MACHT DER MACHTLOSEN "
las ich vor vielen Jahren. Ich weiß aber nicht , wer das gesagt hat.
Mich hat das getragen und im leben gehalten