Das Thema ist seit Jahren ein Kassenschlager. Die auf dem deutschen Markt verkauften Bücher dieses Genres dürften in die Abermillionen gehen. Da fällt mir ein: Eigentlich ist diese Tochter mit zwei Großmüttern des Jahrgangs 1943 doch eher ein Kriegsurenkel. Das gibt es noch nicht, als Titel – wäre vielleicht lohnend.
Die buchgewordenen Kriegskinder, ‑enkel und nun eben auch –urenkel zeichnen sich charakterlich durch Sparsamkeit und Vorsorgementalität aus. Sie können es nicht ertragen, daß Dinge verrotten. Man könnte all die Sachen noch brauchen! Was jene Tochter einmacht, lagert und sammelt für eventuell schlechte Zeiten, geht auf keine Kuhhaut. In punkto Trockenobst, sauer Eingelegtem und süß Eingekochtem, Möbeln und Klamotten ist hier bereits für jeden Ernstfall vorgesorgt, auf Jahre.
Kenn ich gut, schätze ich, ist ja keine Untugend. Jetzt aber bekam sie mit, daß unsere Sekretärin ihr schönes Brautkleid entsorgen wollte. Die Kriegsurenkelin ist nun definitiv die unromantischste unserer Töchter. Klar, als Pragmatikerin! Sie probierte das Kleid an, völlig anlaßlos: „Na, ist doch super! Paßt doch! Schön schlicht und doch elegant!“ Kichernd huschte sie durch die Räume. Der Saum der Robe besorgte ein bißchen den immer überfälligen Hausputz.
Ätzte eine andere Tochter: „Merkste was? Den Ballast? Damit kannste nur noch schreiten, nicht mehr durch die Gegend wandern. Heißt: Du bist angebunden. Kleid als Symbol!“ Die Kriegsurenkelin: „Pah! Du kennst mich nicht! Da heb ich mal den Saum, und wetten, ich bin auf zwei Kilometer immer noch schneller als du!“ – „Haha, ja, auf zwei Kilometern, klar. Eine Ehe kann tausende Kilometer dauern.“ – „Na und, du hast ja keine Ahnung, wie schnell und lang ich saumtragend rennen kann!“ Saum-selig hat eigentlich eine andere Bedeutung, oder?
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16.10. 2016 – Eine meiner Lieblingskapellen, Darkwood, spielt auf in Leipzig. Grandios! Denk ich an Deutschland… denk ich auch an Darkwood, Finsterwalde. Die Texte: poetisches Raunen um Standhalten, Hoffnung, Verzweiflung, Mut, Bleiben, Waghalsigkeit, Dagegen und Dafür. Zum Glück wohnen wir hier, im Osten! Nur hier ist so etwas zu haben, zu hören. Ich stehe in zweiter Reihe, seltener Moment: Es nimmt mich mit.
Vor mir ein Pärchen mit markanten Zügen, eigentlich hübsch, er etwa mein Alter, sie etwas darunter. Zusammengezählt finde ich bei den beiden etwa 15 sichtbare Bodymodifications – die Tätowierungen mal außer acht gelassen. Wo ich gerührt bin von Klang & Text, sind diese beiden geradezu ekstatisch begeistert, freilich in dem Rahmen, den diese melancholische (und wenig „tanzbare“) Musik läßt. Die beiden sind keinesfalls Dauertänzer, es muß sich hier also speziell etwas rühren, hervorgerufen durch genau diese Lieder.
Der Typ – ich kann kaum die Augen abwenden – hat in einem Ohr gleich zwei Fleischtunnel übereinander. Große, gigantische! Heißt, das Läppchen hängt ihm knapp über der Schulter. Heißt, er muß sich eigentlich bewegen wie eine Dame im Korsett. Wie leicht können die dünnen Häutchen einreißen! Man muß keine Schlägerei imaginieren, bereits ein derbes Gedränge würde Blutzoll einfordern! Das andere Ohrläppchen ist gespalten, fünf Plastiknadeln verbinden die beiden Teile. Ich sehe bzw. interpretiere das als: Betonung der Verletzlichkeit, als Halt – und Maßlosigkeit, Sprengung der guten Sitten, auch als übergroße Beschäftigung mit sich selbst, also als Modeaffentum. Und doch scheint der Kerl diese Musik zu lieben wie ich. Ein seltsames Gefühl.
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18. 10. 2016 – Betrete unsere Bibliothek und höre im Nebenzimmer Kubitschek telephonieren: „… nee, ich will nur noch mal deutlich nachfragen, ob der auch so ein richtiger Kerl [verlegenes Lachen] ist, also, Sie wissen, was ich meine. Unsere Frolleins sind schon, hm, naja, aus hartem Holz, und im Zweifelsfall verstehen die keinen Spaß. …. Ja, gut. Gut, dann hat er’s ja gewissermaßen schon unter Beweis gestellt, hehe. …. Nee, im Ernst, im vergangenen Jahr hatten wir so einen Anwärter, der mußte leider bei seinen erbärmlichen Anbahnungsversuchen sein Leben lassen, also buchstäblich. … Nein, war nicht schön, glauben Sie mir. Unsere Damen haben’s faustdick hinter den Ohren. Nur noch eine letzte Frage: Stinkt der Kerl sehr? Ich mein, ich hab ihn dann ja für ein Stündchen als Mitfahrer, und außerdem muß man Rücksicht nehmen auf die Leute im Dorf…“
Hahaha. Mir war in Wahrheit rasch klar, um was und wen es geht. Natürlich um einen Bock, der unsere Ziegen deckt. Die Ladies sind übrigens Weiße Deutsche Edelziegen. Kann ich nichts für, ergab sich. Der Bock, den wir nach der Buchmesse abholen dürfen, ist ein Bure. Man kann sagen: aus Afrika. Naja, es wird ohnehin auf cross & kill hinauslaufen. Kubitschek erzählte übrigens später: Von fünf Bockverkäufern, die er anrief, hätten drei betont, daß man Wert auf artgerechte Schlachtung lege. Inwiefern? „Naja, ein Moslem sind Sie a nicht, klingen nicht so. Wir haben schon Anfragen aus anderen Kulturkreisen gehabt, und schächten laß ich meinen Bock nicht.” Das ganze auf sächsisch. Schön!
Brandenburger Sandstein
Merci! Wieder mal gelungene Unterhaltung!
Was die "Bodymodification" angeht: ein Aspekt wurde vergessen: da geht's denke ich auch oft darum, Besitz vom eigenen Körper zu ergreifen. Im Sinne von er passt mir nicht dann wird er eben platt gemacht und nach meinem Bilde wieder aufgebaut. Gibt mittlerweile mehr Frauen als Männer mit tattoos..wäre evtl mal eine Untersuchung wert. Was so Drähte Eisen und Tunnel angeht: ich finds einfach nur abstoßend! Besonders weils auch nur Mode ist, gibt ja zunehmend Leute die sie wieder rausnehmen..die Löcher bleiben als nettes Andenken an eine sehr dumme Charakterschwäche. Sieht man in Berlin häufig. Ob die (ehemaligen) Träger das auch so beurteilen?
PS: bitte auf dem laufenden halten wie der Ziegenbock sich so schlägt in der Hyänengesellschaft. Kann man ja fast Mitleid bekommen ;(