der ursprünglich für die Jungle World verfaßt, vom verantwortlichen Redakteur jedoch abgelehnt wurde. Der Artikel liest sich über weite Strecken wie eine linke Selbstkritik, die am Ende gerade noch in eine Art Selbstvergewisserung umgebogen wird.
Seemann berichtet aus dem Inneren einer löchrig gewordenen Blase, deren Bewohner gerade mit Verwunderung entdecken, daß diese beste aller Welten auch von “Anderen” bewohnt wird, die eine gänzlich andere Sicht auf die Dinge haben als sie selbst.
Ich fühlte mich an einen erheiternden Kommentar aus dem österreichischen Bobo-Blatt Fleisch (Nr. 38, 2/2016) erinnert, wo das Platzen der Blase im Gefolge der 49,7 % Stimmen für Norbert Hofer beschrieben wurde. “Wer, zur Hölle, sind die Anderen?” fragte der irritierte Autor:
Die längste Zeit waren die Anderen zwar viele, viel mehr als wir, aber sie waren bloß eine Art Füllpersonal für uncoole Wohngegenden. Sie zählten nicht. Sie schienen keine Musik zu haben, keine Ideen, keinen Sinn für Fortschritt, stattdessen langweilige Jobs und Autos mit Garagenplätzen.
Sie waren das Gegenteil einer Hegemonialmacht und sie machten auch keine Anstalten, eine zu werden. Wir erdachten eine Welt aus Homo-Ehe, DJ-Kultur, Euro-Rettungsschirmen, Elektroautos und veganen Burgern, und errichteten ein System, das die von uns für prima befundenen Sachen für uns umsetzte. (Wie wir genau dieses System errichteten, ist gar nicht so einfach zu erklären, aber dass es existiert, können alle Gegner des Systems bestätigen.) Die Anderen kriegten die Homo-Ehe, die veganen Burger und all das per Gesetz oder Markt auch geliefert, sie mussten es ja deshalb nicht konsumieren. Manchmal ließen die Anderen deshalb ein Grummeln vernehmen, aber dann drehten wir den Volumen-Regler der DJ-Kultur etwas lauter und weg war es.
Wenn es nach uns gegangen wäre, hätte es immer so weiter laufen können.
KRACH! TRUMP! PAFF! GRENZZÄUNE! ORBAN! KAWUMM!
BREXIT! HOFER!Irgendjemand hat unser System kaputt gemacht.
Ähnlich Seemann (Jahrgang 1977):
Die westliche Welt ist in heller Aufregung. Von überall her sprießen neue rechte Bewegungen aus dem Boden oder gewinnen an Fahrt. Von Trump, über AfD, FPÖ, Le Pen bis zu Brexit scheinen sie Leuten eine Stimme zu geben, die vorher glaubten nicht zu Wort gekommen zu sein. Seitdem wird abseits der “besorgten Bürger” gerätselt, was die Ursachen für diesen Unmut sein könnte.
Das liest sich für unsereiner auf der anderen Seite der Barrikade einigermaßen drollig. Was bloß, was könnten bloß die “Ursachen für diesen Unmut” sein? Seemann weist die gängige Erklärung, es handele sich bei den Besorgten und Unmutigen um bloße “vom kapitalistischen System abgehängte Globalisierungsverlierer”, als zu einfach zurück:
Zwar ist es richtig, dass sich das Heer der Frustrierten zu einem Gutteil aus geringverdienenden und wenig gebildeten Dienstleistungsarbeiter/innen speist. Aber da ist ist noch eine zweite, fast genau so große Gruppe. Das mittlere Bürgertum ist ebenfalls gut vertreten auf den Barrikaden. Heinz Bude spricht schon von einer strategischen Allianz aus Arbeiterschaft und frustriertem Bürgertum. Doch während sich die Motivlagen der prekär Beschäftigten marxistisch deuten lassen, passen die Wutbürger nicht so recht ins Bild.
Ist das nicht ein merkwürdiger Klassenkampf, in der Arbeiter und Bürger Seit an Seit gemeinsam kämpfen?
Seemann konstatiert nun äugleinreibend und wimpernklimpernd, daß sich der Zorn dieser Arbeiter und Bürger seltsamerweise auf die Klasse oder Kaste richtet, der er selbst angehört:
Uns? Sie meinen tatsächlich uns?
Ja, das tun sie. Arbeiter und Bürger haben sich zusammengeschlossen, um gegen eine dritte Klasse zu kämpfen.
Offenbar gibt es in dieser “dritten Klasse” einen “blinden Fleck”, und Seemann fordert sein Milieu auf, sich ihm zu stellen:
Man muss, statt den Frust der Wutbürger als verkappten Verteilungskampf wegzuinterpretieren, einmal hinhören, was diese Leute von sich geben. Man muss sich in sie hineinversetzen, muss den Slogans lauschen und ihre Narrative nachvollziehen. Man muss zwar nicht ihre Ängste, aber ihre Parolen ernst nehmen.
Er gibt die Sichtweise unseres Lagers ziemlich korrekt wieder:
Da ist zunächst die Erzählung einer Verschwörung, über alle Parteigrenzen hinweg. Es gäbe gar keine echte Demokratie mehr, sondern nur noch die Einheits-Blockpartei CDUSPDFDPGRÜNELINKE. Auch die Medien (“Lügenpresse”) steckten mit unter der Decke. Gut wird empfunden, dass die endlich Gegenwind bekämen (Trump, Le Pen, AfD, FPÖ, Brexit) und sich eine „echte Alternative“ (Alternative für Deutschland, Alt-Right-Movement) bildete.
Ja, ist so. Bloß hat das mit “Verschwörungen” nichts zu tun. Für alle, die noch Augen im Kopf haben, liegt das offen zutage. Wer mitten in der Soße steckt und obenauf auf der Suppe schwimmt, wird sich freilich schwertun, es zu sehen.
Es ist leicht, diese Vorstellungen als Spinnerei abzutun, aber wenn man sich die drei wesentlichen Eckpfeiler der neurechten Programmatik besieht – Migration, Globalisierung und Political Correctness – dann ist nicht zu leugnen, dass es in diesen Bereichen tatsächlich einen gewissen Grundkonsens in den Medien und Parteien (die CSU mal ausgeschlossen) gibt.
Nun: Die CSU ist nichts weiter als der Good cop der CDU, der den Unmutigen noch einen Rest von Pluralismus vorspielt. Sie hat eine Alibi- und Ventilfunktion. Ihre Abweichungen vom Grundkonsens sind in der Regel minimal, und sie ist ebenso fixer Bestandteil des Bundessandkastens wie der Rest der genannten Parteien.
Ein Konsens, von dem allerdings gerne angenommen wird, dass es ein gesamtgesellschaftlicher Konsens ist. Weil es vernünftig ist. Weil es menschlich ist. Weil es das einzig richtige ist. Da müssten doch alle dafür sein. Nicht?
Nein, es sind eben nicht “alle dafür”. Zur Verblüffung all jener Bien-pensants, die dachten, sie wären endgültig angekommen in der Welt der Vernünftigen, Menschlichen und Richtigen, in der man nichts mehr falsch machen kann. Und gerade diese Klientel muß nun von Seemann daran erinnert werden, daß “politische Verortung eine Frage der Perspektive ist”, was für jeden Rechten eine Selbstverständlichkeit ist.
Wie William F. Buckley sagte:
Liberals claim to want to give a hearing to other views, but then are shocked and offended to discover that there are other views.
Die (Links-)Liberalen beteuern, daß sie anderen Sichtweisen Gehör schenken wollen, und sind dann schockiert und beleidigt, wenn sie darauf kommen, daß es andere Sichtweisen gibt.
Seemann weiter:
So wie Köln und Düsseldorf sich als grundverschiedene Städte begreifen und der Berliner nur “Ruhrpott” sieht, sehen die besorgten Bürger in uns eine homogene Gruppe.
Umgekehrt wird ein Schuh daraus!
Wir sind das nicht gewohnt, weil es unserer binnenwahrnehmung widerspricht. Aber das spielt keine Rolle, denn wir werden von rechtsaußen so wahrgenommen. Und wir werden längst so referenziert. Donald Trump und das Alt-Rightmovement haben einen Namen für uns. Sie nennen uns „the globalists“.
Hier wäre der erste Einspruch fällig: “Globalisten” meint nicht in erster Linie das Fußvolk der Blogger, Journalisten und der “Digital Bohème”, aus deren Reihen sich Seemann rekrutiert, also all jene Shareholder am konformen, ubiquitären Rauschen der Meinungsmache, die hoffen, auf diese Weise auf der Seite der “Globalisierungsgewinner” zu bleiben und am Herrschaftskuchen mitnaschen oder sich zumindest in seinem Abglanz sonnen zu dürfen.
“Globalisten” sind für den Rechtspopulisten in erster Linie die großen Tiere, die inter- und übernationalen Finanz‑, Wirtschafts‑, Medien- und Bildungsmächte, die einen weltweiten “Globalismus der offenen Grenzen” (Open border globalism) durchzusetzen versuchen und deren Hauptversuchsanstalt momentan “die westliche Welt” ist.
Man könnte diesen Komplex durchaus altlinks als “Kapitalismus” bezeichnen (wie es Benedikt Kaiser in seinen exzellenten “Thesen zur europäischen Rechten” in der aktuellen Sezession tut), und die große Nuß für jene Linken, die darüber “erschrecken” (es sind nur sehr wenige, denen dies überhaupt auffällt!), daß sie sich, so Seemann, “in so vielen politischen Fragen auf einmal an der Seite von Angela Merkel” wähnen, ist die Frage, warum es gerade die Mächte des Kapitals sind, die heute ihre Lieblings-Agenden wie Migration, Multikulturalismus, Political Correctness oder “Menschenrechte” unterstützen.
Als Mitglied der angegriffenen Klasse geht es Seemann jedoch vor allem um die Verteidigung des eigenen Status in dem großen Schema. Seine (Selbst-)Beschreibung der “globalisierten Klasse der Informationsarbeiter, der die meisten von uns angehören und die viel homogener und mächtiger ist, als sie denkt”, ist ziemlich anschaulich und treffend:
Es sind gut gebildete, tendenziell eher junge Menschen, die sich kulturell zunehmend global orientieren, die die New York Times lesen statt die Tagesschau zu sehen, die viele ausländische Freunde und viele Freunde im Ausland haben, die viel reisen, aber nicht unbedingt, um in den Urlaub zu fahren. Es ist eine Klasse, die fast ausschließlich in Großstädten lebt, die so flüssig Englisch spricht, wie ihre Muttersprache, für die Europa kein abstraktes Etwas ist, sondern eine gelebte Realität, wenn sie zum Jobwechsel von Madrid nach Stockholm zieht. (…) Diese neue globalisierte Klasse sitzt in den Medien, in den StartUps und NGOs, in den Parteien und weil sie die Informationen kontrolliert (liberal Media, Lügenspresse), gibt sie überall kulturell und politisch den Takt vor. (…) Diese Klasse entspringt dem Bürgertum, aber hat sich von ihm emanzipiert. (..)
Irgendwann begann sich der progressivere Teil des Bürgertums sozial enger mit seinesgleichen über Ländergrenzen hinweg zu vernetzen und kulturell zu orientieren. Die globale Klasse entstand und hat den kulturellen Wandel der Globalisierung beschleunigt. Globale Standards nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in Politik, Kultur und Moral. Die progressiven, zunehmend global orientierten haben die anderen einfach abgehängt. Aber weil sie anders herrscht und weil sie sich dabei mit der Gesellschaft selbst verwechselt, merkt sie es nicht mal. Sie hat keine Gewalt auf ihrer Seite und die meisten haben noch nicht einmal wahnsinnig viel Geld. Im Gegenteil. Die globale Klasse hat zwar sehr reiche Individuen hervorgebracht, vor allem im Silicon Valley, aber interessanter Weise nutzen sie diesen Reichtum vor allem wieder, um es in diskursives Kapital zurückzuverwandeln; in andere StartUps oder in ambitionierte Weltrettungsprogramme. Denn insgeheim weiß sie längst, was die eigentliche Quelle ihrer Macht ist: Sie kontrolliert den Diskurs, sie kontrolliert die Moral.
Auch die heutige Linke ist heute nichts anderes als ein Mitläufer und Mitschwimmer in dem großen nordamerikanisch-globalistisch-kapitalistischen Strom:
Wer die Jungleworld liest, gehört unweigerlich zur globalen Klasse. Egal, wie linksradikal oder gar kommunistisch sich die Leser hier wähnen mögen, mit ihrem Weltbild sind sie uneingestandener Maßen viel näher an Obama und Justin Trudeau, als an den meisten Deutschen. Wir halten trotz der „neoliberalen Scheiße“ die EU für eine gute Idee und gucken zu Hause Netflixserien im Original. Wir haben uns losgesagt von den regionalen und nationalen kulturellen Standards, Idomen (gemeint ist wohl “Idiomen”), Weltanschauungen und sind auch noch stolz darauf. Wir rümpfen die Nase über die, die für ihre Identität und ihr Wertegefüge auf den Bezugsrahmen Nation nicht verzichten können oder wollen.
Die Titelzeile des Tagesspiegels bringt Seemanns Thesen folgendermaßen auf den Punkt:
Das Bürgertum hat die Deutungshoheit verloren. Eine neue, die globale Klasse hat die Herrschaft übernommen. Sie kontrolliert den Diskurs und die Moral.
Den Aufstieg dieser “globalen Klasse” hat der US-amerikanische Historiker und Sozialkritiker Christopher Lasch (1932–1994) bereits vor über zwanzig Jahren analysiert und kritisiert. Lasch war ein ehemaliger Sozialist, der für einen konservativen, kapitalismuskritischen Populismus eintrat. Als sein bekanntestes Werk gilt Das Zeitalter des Narzissmus (1979, dt. 1980), eine treffende und nach wie vor aktuelle Analyse der regressiven Folgen des westlichen Konsumindividualismus.
Sein 1995 – ein Jahr nach seinem Tod – erschienenes Buch Die blinde Elite (The Revolt of the Elites) warf der von Seemann beschriebenen Klasse vor allem eines vor: sich immer weiter von der Lebenswelt der “gewöhnlichen Menschen” – Arbeiter und Bürger – zu entfernen und in den Dienst einer letztlich postdemokratischen Ordnung zu stellen.
Dieser “neue Klassenkampf” besteht also nicht erst seit heute, und es sind die Eliten der “globalen Klasse”, die ihn eröffnet haben, nicht umgekehrt. Wenn ihnen heute der Zorn der “Wutbürger”, der Trump‑, AfD‑, Le-Pen- und Hofer-Wähler entgegenschlägt, dann bekommen sie lediglich die Rechnung dafür präsentiert, daß sie jahrzehntelang “die regionalen und nationalen kulturellen Standards” und “Wertegefüge” (Seemann) verächtlich gemacht haben, dabei immer an der Zipfeln der Macht und des Geldes hängend oder gierig danach schielend. Wenn sie nun ganz unschuldig darüber “rätseln”, woher dieser Zorn und “Unmut” kommen, dann deswegen, weil sie, wie Lasch bereits 1994 schrieb, blind für alles geworden sind, das außerhalb ihrer digitalisierten, globalisierten, kosmopolitischen Lebenswelt liegt.
Es ist essentiell, zu begreifen, daß die von Seemann beschriebene Entmachtung des Bürger- und Arbeitertums auf nichts anderes hinausläuft als auf einen massiven Verlust der demokratischen Teilhabe, die ihnen auf dem Papier immer noch garantiert wird. Diese Teilhabe wird den Arbeitern und Bürgern zunehmend von einem medial-politischen Komplex verweigert, der gleichzeitig unaufhörlich den Begriff der “Demokratie” im Munde führt und seine Gegner und Kritiker routinemäßig als “un-” oder “antidemokratisch” diffamiert. Ist es da noch ein Wunder, daß sich diese Arbeiter und Bürger zunehmend um ihre Rechte und Interessen geprellt sehen, daß sie zunehmend gereizt auf die Versuche reagieren, sie einerseits therapeutisch nach bestimmten ideologischen Vorgaben zu erziehen, andererseits mit der Zuchtrute der politischen Korrektheit zu diffamieren und einzuschüchtern?
Die “Informationsarbeiter” der “globalen Klasse” betrachten es heute als ihre Aufgabe, das Hohelied des herrschenden demokratischen Simulacrums zu singen, der “Demokratur”, wie Thorsten Hinz diese Spätphase des demokratischen Staats nennt. Als Hohepriester eines Diskurses, der keiner mehr ist (Lasch spricht von einer “verlorenen Kunst des Disputierens”), und als Profiteure der Macht haben sie keinen Grund zur Opposition gegen den Status quo. Dies kann Seemann freilich in dieser Deutlichkeit nicht erkennen, wohl geblendet durch seine Klasseninteressen:
Auf magische Weise hat das Bürgertum trotz Grundbesitz, privater Krankenvorsorge und leitenden Angestelltenfunktion die Deutungshoheit verloren. „Take Back Control“, der Slogan der Brexiter ist der eigentliche Schlachtruf all der neurechten Bewegungen. Es gibt gerade im Bürgertum das Gefühl des Kontrollverlusts. Gemeint damit ist der Verlust der kulturellen Hegemonie, der als nationale “Souveränität” erinnert wird.
Demgegenüber hat Lasch bereits in den neunziger Jahren die Partei dieses zurückgelassenen Bürgertums ergriffen, das immerhin einst als das Rückgrat der demokratischen Institutionen galt. Trotz aller Unterschiede zwischen den USA und der BRD gibt es genug Parallelen, die auch auf unsere Lage zutreffen – sind wir doch mehr oder weniger eine amerikanische Kolonie! Im Anschluß an Mickey Kaus schrieb Lasch:
Laut Kaus geht die schwerste Bedrohung für die Demokratie in unserer Zeit nicht so sehr von der ungleichen Verteilung des Wohlstands, sondern vielmehr vom Verfall oder der Preisgabe der öffentlichen Institutionen aus, in denen Staatsbürgerinnen und ‑bürger sich als Gleiche begegnen. (…) Das Dilemma unserer Gesellschaft liegt nach Kaus nicht einfach darin, daß die Reichen zu reich sind, sondern daß ihr Reichtum sie, mehr als es früher einmal der Fall war, vom gewöhnlichen Leben isoliert. Daß Manager und Angehörige höherer Berufe “routinemäßig als gesellschaftliche Klasse für sich anerkannt werden”, hält Kaus für eine unheilvolle Entwicklung, ebenso wie “die selbstgefällige Verachtung, die diese Kaste für die wirtschaftlich und sozial weniger Privilegierten hegt”.
Dem fügt Lasch hinzu:
Ein Teil des Problems liegt darin, daß wir den Respekt für solide körperliche Arbeit verloren haben.
… hier frage ich mich nebenbei, ob die prätentiöse Selbstbezeichnung “Informationsarbeiter” nicht ein inneres Unzulänglichkeitsgefühl gegenüber “echter” Arbeit kompensieren soll.
Lasch weiter:
Unter “kreativer” Arbeit verstehen wir abstrakte geistige Prozesse, die sich in einem Studio oder Büro abspielen, vorzugsweise computerunterstützt, und nicht die Produktion von Nahrung, Wohnraum und anderen Lebensnotwendigkeiten. Die intellektuellen Schichten sind auf verhängnisvolle Weise von der physischen Seite des Lebens abgetrennt (…). Ihre einzige Beziehung zur Produktion ist die von Konsumenten. Sie haben keine Erfahrung darin, irgend etwas Substantielles oder Dauerhaftes herzustellen. Sie leben in einer Welt der Abstraktionen und Symbole, einer simulierten Welt, die aus computergenerierten Modellen der Welt der Realität besteht, einer “Hyperrealität”, wie sie genannt wurde, im Unterschied zu der handgreiflichen, unmittelbaren, physischen Realität, in der gewöhnliche Menschen zu Hause sind.
Laschs Beschreibung dieser Klasse – zu ihr zählen Betätigungsfelder wie Banken, Immobilienhandel, Ingenieurswesen, Consulting, Publizistik, Systemanalyse, Werbung, Verlagswesen, Film, Fernsehen, Unterhaltung, Journalismus, die Universitäten, die Künste und die Literatur – ähnelt Seemanns aufs Haar. Diese Eliten “operieren” auf einem “Markt”, der “internationale Reichweite” hat:
Die neuen Eliten sind mehr am reibungslosen Funktionieren des Systems als Ganzem interessiert als an irgendeinem seiner Teile. Ihre Loyalitäten – wenn der Begriff als solcher in diesem Zusammenhang nicht anachronistisch ist – sind eher internationaler als regionaler, nationaler oder lokaler Natur. (…) Die Geld- und Bevölkerungsbewegungen über die Ländergrenzen hinweg haben (…) die grundlegenden Vorstellungen von Zugehörigkeit transformiert. Die privilegierten Klassen in Los Angeles empfinden mehr Verwandtschaft mit Leuten ihrer Art in Japan, Singapur und Korea als mit den meisten ihrer eigenen Landsleute.
Das hat weitreichende politische Implikationen:
Volksbefragungen über die Vereinigung Europas enthüllten eine sich immer weiter vertiefende Kluft zwischen der Kaste der Politiker und den gewöhnlichen Mitgliedern der Gesellschaft, die befürchten, daß Bürokraten und Technokraten, die kein Gefühl für nationale Identität oder Bindungen haben, die europäische Wirtschaftsgemeinschaft beherrschen werden. Ein von Brüssel aus regiertes Europa wird aus ihrer Sicht der Kontrolle durch das Volk und den politischen Interessen des Volkes immer weniger zugänglich sein. Die internationale Sprache des Geldes wird die lokalen Sprachen übertönen. Das Wiedererstarken des ethnischen Partikularismus in Europa ist unter anderem auf solche Ängste zurückzuführen. (…)
Die Denationalisierung von wirtschaftlichen Unternehmungen geht mit der Herausbildung einer Klasse von Kosmopoliten einher, die sich selbst als “Weltbürger verstehen, ohne jedoch auch nur einen geringen Teil der Verpflichtungen zu übernehmen, die normalerweise mit der Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen verbunden sind” (Lasch zitiert hier Robert Reich).
Wie gesagt: Lasch schrieb diese Sätze bereits Anfang der neunziger Jahre, lange vor Samuel Huntingon.
Nach Lasch ist nun “Beherrschung” zur “Obsession” der “intellektuellen Schichten” geworden – Beherrschung vor allem des Lebens jenseits der “sozialen Konstrukte” (ihrer prägenden Ideologie) und der “artifiziellen Umwelt”, gegen die “unvorhersehbaren Wechselfälle der menschlichen Existenz”. Damit haben sich diese Eliten “von der Realität selbst” losgesagt. In diesem Zusammenhang ist vielleicht interessant, daß Seemann ein Buch über den “digitalen Kontrollverlust” veröffentlicht hat.
Nun, wenn man schon die eigenen Daten nicht mehr kontrollieren kann und feststellt, daß man selbst auch nur eine kleine kontrollierte Fliege im großen globalen Datennetz ist, dann bleibt vielleicht die Kompensation, wenigstens noch Einfluß auf die öffentlichen Diskurse nehmen, gar sie kontrollieren zu können. Wie Seemann selbst sagt: Die globale Klasse “kontrolliert den Diskurs und die Moral”.
Insofern ist es ziemlich heuchlerisch, wenn er ein paar Absätze später behauptet:
Und weil man gegen die globale Klasse nicht moralisch und argumentativ gewinnen kann, bleibt der alternativen Rechten nur noch, jede Moral und jedes Argument zu verweigern.
Das Gegenteil trifft zu: Es ist umgekehrt die “globale Klasse”, die via Diskurskontrolle heute hartnäckig jegliche argumentative Auseinandersetzung (etwa über die “Flüchtlingskrise” und die Realität der multikulturalistischen Ideologie) verweigert, verhindert und unterdrückt, und zwar eben deswegen, weil sie allmählich spürt, daß sie sich derart ins Unrecht gesetzt hat, daß sie in einem offenen Disput nicht mehr “argumentativ gewinnen kann”. Anders kann man sich ihre hysterischen Abwehrreaktionen und ihre Stasi-Maßnahmen à la Heiko Maas kaum erklären. Sie verschanzt sich hinter ideologischen Begriffen und Schlagwörtern, die sie wie Keulen zum Diskussionsabbruch einsetzt. Erneut Lasch:
Sobald Wissen mit Ideologie gleichgesetzt ist, braucht man mit Gegnern nicht mehr aus intellektuellen Gründen zu argumentieren oder sich auf ihren Standpunkt einzulassen. Es genügt, sie als eurozentrisch, rassistisch, sexistisch oder homosexuellenfeindlich, mit anderen Worten: als politisch suspekt abzuqualifizieren.
Und:
Die Kulturkriege, die Amerika seit den sechziger Jahren erschüttern, versteht man am besten als eine Art Klassenkampf, in dem eine (selbsternannte) aufgeklärte Elite nicht etwa versucht, der Majorität (einer Majorität, die als unverbesserlich rassistisch, sexistisch, provinziell und fremdenfeindlich angesehen wird) ihre Wertvorstellungen aufzudrängen, geschweige denn, diese Majorität mit den Mitteln einer rationalen öffentlichen Debatte zu überzeugen, sondern bestrebt ist, parallele oder “alternative” Institutionen zu schaffen, die jede weitere Konfrontation mit den Unaufgeklärten überflüssig machen.
Sobald nun die “Liberalen der oberen Mittelschicht” auf Widerspruch stoßen, reagieren sie meistens gereizt und aggressiv:
Wenn sie mit Widerstand gegen diese Initiativen (etwa hygienische oder politisch korrekte Kreuzzüge) konfrontiert sind, legen sie den giftsprühenden Haß an den Tag, der unter der Oberfläche der wohlwollenden Obere-Mittelschicht-Einstellung liegt. Angesichts von Opposition vergessen Streiter für die humanitäre Sache die liberalen Tugenden, die sie zu verfechten glauben. Sie werden gereizt, selbstgerecht und intolerant.
Die Argumente unserer “Informationsarbeiter” sind indes inzwischen imposant angewachsen, wobei der derzeitige Zustand der Lügen‑, Lücken- und Lumpenpresse uns eine Steilvorlage nach der anderen liefert. Seemann steckt wohl immer noch so tief in seiner Klassenblase, daß er noch gar nicht weiß, daß es überhaupt Gegenargumente gibt.
Was die “globale Klasse” dagegen “Moral” nennt, meint in der Regel nur eine bestimmte, absolut gesetzte, und verengte Form von Moral, als Gesinnungsmoral, Hypermoral, abstrakte oder partikulare, zumeist erpresserisch gehandhabte Moral; das sogenannte “moralische” oder “hypermoralische” Argument dient in der Regel dazu, sachliche Argumente in Hate facts zu verwandeln und die Diskussion mit rhetorischen Nebelkanonen einzudecken. Es ist ja so einfach, sich in der bequemen Vorstellung zu wiegen, man habe “die Moral” für sich gepachtet! Die globale Klasse ist in ihrer Selbstgerechtigkeit unfähig, ihre eigenen Moralvorstellungen zu hinterfragen und zu kritisieren. Es liegt auf der Hand, warum das so ist: “die Moral” ist ihre stärkste Waffe zur Kontrolle des “Diskurses”.
“Moral” wird dabei auch meistens mit politisch korrekten Ideologemen identifiziert. Auch das gibt Seemann mehr oder weniger zu:
Sie (die “kulturell Abgehängten”) merken, dass uns ihre Welt zu klein geworden ist, dass wir uns moralisch überlegen fühlen und dass wir nach größerem streben. Vor allem merken sie, dass wir dabei erfolgreich sind, dass wir auf diesem Weg die Standards definieren, die nach und nach auch an sie selbst angelegt werden. Ökologische, antirassitische, antisexistische Standards. Politisch korrekte Standards eben. Und die Standards, die dabei entwertet und verdrängt werden, kamen mal aus dem Bürgertum, aus einer Zeit, als sie noch das Sagen hatten. Es ist eine kulturelle Gentrifizierung.
Vergleiche dies mit Christoper Laschs Analye:
Die gleichzeitig arroganten und unsicheren neuen Eliten, insbesondere die höheren Berufsstände, stehen den Massen mit einer Mischung von Geringschätzigkeit und Besorgnis gegenüber. In den USA symbolisiert “Middle America”- ein Begriff, der sowohl das konservative Kleinbürgertum als auch die geographische Zone bezeichnet, in der sich sein Einfluß am stärksten bemerkbar macht – mittlerweile alles, was dem Fortschritt im Wege steht: “Familiensinn”, geistloser Patriotismus, religiöser Fundamentalismus, Rassismus, Homophobie, rückständige Ansichten über Frauen. In den Augen der meinungsprägenden Gebildeten sind die “Middle Americans” hoffnungslos schäbig, altmodisch und provinziell, nicht auf dem laufenden, was Veränderungen im Zeitgeschmack oder in intellektuellen Trends angeht, süchtig nach kitschigen Liebes- und Abenteuerromanen und durch Dauerfernsehen verblödet. Sie sind lächerlich, aber gleichzeitig auch irgendwie bedrohlich, nicht etwa, weil sie die bestehende Ordnung stürzen wollten, sondern weil ihre entschiedene Verteidigung eben dieser Ordnung offenbar von so irrationalen Motiven gesteuert ist, daß sie sich auf der höchsten Intensitätsstufe als fanatische Religiösität äußert, als repressive Sexualität, die sich gelegentlich in Gewalt gegen Frauen und Homosexuelle Bahn bricht, und in einem Patriotismus, der imperialistische Kriege und eine nationale Ethik aggressiver Männlichkeit unterstützt.
Man erkennt in dieser Karikatur unweigerlich Hillary Clintons “Basket of deplorables” wieder:
Man könnte die Hälfte von Trumps Unterstützern in einen, wie ich es nenne, „Korb der Erbärmlichen“ stecken. Sie sind rassistisch, sexistisch, homophob, xenophob, islamophob…
Worauf Trump via Twitter antwortete (10. September 2016):
Wow, Hillary war so BELEIDIGEND zu meinen Unterstützern, Millionen von großartigen, hart arbeitenden Menschen. Das wird sie Stimmen kosten.
Wie ein Kommentator des American Conservative bereits im April anmerkte: Der Geist von Christopher Lasch kehrt im Phänomen Trump wieder:
Donald Trump ist eine schlechte Spielcasino-Nummer. Sicher. Er ist ein klassischer Demagoge mit einem gemeinen Zug. Er ist aber auch der Katalysator für den Widerstand des ländlich-proletarischen (yeoman) Amerikas gegen Globalismus, “Diversity” und progressive Dogmen. Wie konnte das passieren?, fragen sich die Eliten der Nation. Sie haben immer noch keine Ahnung, inwiefern ihre Arroganz den Trumpismus hervorgebracht hat, oder warum sich jemand mit so vielen Defekten stetig gegen alle Widerstände behauptet.
Fünfzig Jahre linksliberaler Kampagnen, um die amerikanische Gesellschaft inklusiv und “fair” nach genau festgelegten Vorgaben zu machen, sind nach hinten losgegangen. Das Steißbein des weißen Salz-der-Erde-Amerikas der Mittelschicht hat erkannt, daß man es im Stich gelassen und erniedrigt hat. Die verbindliche Anteilnahme der herrschenden Klasse am “Flyover”-Amerika – oder an der ganzen Nation, wenn wir schon dabei sind – ist lose oder noch weniger als das. Donald Trump ist für die Enteigneten ein Demagoge wie auf Bestellung.
Was hier auf die “Globalisten” zukommt, auf die großen ebenso wie auf ihr Fußvolk in der digitalen Bohème und anderswo, ist die Rechnung für ihr eigenes Versagen, ihre eigene Verblendung, ihre eigene Arroganz, ihre eigene Gier, ihre eigene Maßlosigkeit, ihren eigenen Narzißmus. Vielleicht ahnen einige in der Blase bereits, daß all dies nicht ewig so weitergehen kann, ohne mit einem großem Knall zu zerplatzen. Vielleicht ist Michael Seemann schon auf dem besten Weg zu dieser Erkenntnis. Ihm und seiner Kaste gebe ich noch ein Zitat von Christopher Lasch mit:
Das Schwinden der Fähigkeit zur Selbstkritik ist das sicherste Zeichen des Absterbens einer intellektuellen Tradition.
Alle Zitate aus: Christoper Lasch: Die blinde Elite, Hamburg 1995.
Stogumber
Kleine Korrektur. Wenn Seemann von regionalen und nationalen "Idomen" spricht, dann meint er wahrscheinlich Idiome/idioms, nicht Idole.
Übrigens kann man vieles davon schon vor Lasch finden: bei Helmut Schelsky ("Die Arbeit tun die anderen"), der schon die Diskursherrschaft als formierendes Merkmal einer neuen Klasse beschreibt.