Wenn einem die Stimme versagt

Sektenbeauftragte stehen selten in Verdacht, besonders liberale Menschen zu sein. Jörn Thießen, Mitglied des Bundestags und Sektenbeauftragter der SPD, fordert nun ernsthaft, in Deutschland eine Wahlpflicht einzuführen.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

 Nach Wah­len mit gerin­ger Wahl­be­tei­li­gung (die Wahl zum Euro­pa­par­la­ment gehört noto­risch dazu) sehen sich Poli­ti­ker regel­mä­ßig einem Legi­ti­ma­ti­ons­de­fi­zit aus­ge­setzt. Wie “all­ge­mein” ist eine Wahl, wenn weni­ger als die Hälf­te der dazu berech­tig­ten über­haupt ihr Kreuz­chen macht?

In sei­nem aktu­el­len kur­zen Video­blog sehen wir Thie­ßen vor der fran­zö­si­schen Tri­ko­lo­re (war­um auch immer; hät­te es nicht ein Pfer­de­pos­ter o.ä. getan?) sit­zen und mit einem Sta­pel aus­ge­druck­ter emails wedeln, die ver­är­ger­te Bür­ger ihm geschrie­ben haben. Sowas!, empört er sich, die ken­nen ihn nicht mal per­sön­lich und nör­geln ihn an!

Ande­re Län­der pfle­gen bereits die Wahl­ver­wei­ge­rung zu bestra­fen, in Chi­le, Ägyp­ten und auf den Fidschi-Inseln hand­habt man es so, auf Wider­set­zung hagelt es Geld- oder gar Gefäng­nis­stra­fen. In Grie­chen­land erhal­ten Nicht-Wäh­ler kei­nen Rei­se­pass, aber weil sich’s in Grie­chen­land anschei­nend ganz gut leben läßt, zog es dies­mal den­noch kaum über 50% an die Wahlurnen.

Das schla­gen­ds­te Argu­ment pro Wahl­pflicht nann­te ein Poli­to­lo­ge im Deutsch­land­funk: Es habe sich doch gezeigt, daß die Wahl­pflicht meist zu einer signi­fi­kant bes­se­ren Wahl­be­tei­li­gung füh­re! Ja, erstaun­lich! Bei den Volks­kam­mer­wah­len 1986 in der DDR warens gar 99, 7%; was aller­dings nicht als Argu­ment ins Feld geführt wurde.

Vor län­ge­rer Zeit hat­te es im Köl­ner Stadt­an­zei­ger einen pro-und-con­tra-Schlag­ab­tausch zum The­ma. Der Befür­wor­ter einer Wahl­pflicht, Tobi­as Kauf­man von der Jüdi­schen All­ge­mei­nen, argu­men­tier­te da knall­hart: “Es gibt kei­nen Grund und kei­ne Ent­schul­di­gung dafür, daß so vie­le Men­schen vor­ges­tern ihr Wahl­recht ver­fal­len lie­ßen.(…) Wäh­len ist für vie­le Fami­li­en ein schö­nes, erha­be­nes Ritu­al, das aus­drückt, wie­viel ihnen die­se Demo­kra­tie bedeu­tet. (…) Wahl­pflicht, das klingt nach Zwang und Bucke­lei. Genau das ist das auch. Aber manch­mal ist so etwas nötig.”

Welch Zusam­men­klang der Wor­te! Ritu­al! Erha­ben! Zwang! Bucke­lei! Daß die Wäh­le­rei (und umge­kehrt also auch die Wahl­mü­dig­keit) anzei­ge, wie­viel den Bür­gern die­se Demo­kra­tie bedeu­te, ist noch der ratio­nals­te Kern die­ser Einlassung.

Das aber­wit­zigs­te und zugleich das Haupt-Argu­ment für einen Wahl­zwang ist, daß haupt­säch­lich des­in­ter­es­sier­te, unen­ga­gier­te Bür­ger sich dem Par­tei­en­an­ge­bot ver­wei­ger­ten. Durch eine Wahl­pflicht müß­ten sich jene über Par­tei­pro­gram­me infor­mie­ren. Das ver­rin­ge­re die Gefahr, auf “popu­lis­ti­sche Stim­men­fän­ger” her­ein­zu­fal­len. Hel­au! Was hieß noch mal “Popu­lis­mus”? Und ist es – die­ser Logik fol­gend – nicht bes­ser, daß die für den Popu­lis­mus anfäl­li­gen Wäh­ler sich eben nicht betei­li­gen am Urnengang?

Natür­lich fin­det der Wahl­pflicht-Vor­stoß mehr Kri­ti­ker als Zustim­mer. (Bei diver­sen online-Abstim­mun­gen äußert sich aller­dings rund ein Drit­tel zustim­mend – Teil­neh­mer von Online-Umfra­gen wäh­len halt gewohn­heits­mä­ßig extrem gern…) Jeden­falls macht die­ser zustim­mungs­hei­schen­de Satz nun wie­der sei­ne Run­de; Lies­chen Mül­ler, Otto Nor­mal im Chor mit Ulrich Wickert: “Also: Ich fin­de, wer nicht wählt, darf auch nicht meckern.”

Nicht meckern? Kositza heißt “Zie­ge”. Wir kön­nen gar nicht anders. Uns bleibt kei­ne Wahl.

Bild­quel­le: Joa­chim S. Müller

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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