Nach Wahlen mit geringer Wahlbeteiligung (die Wahl zum Europaparlament gehört notorisch dazu) sehen sich Politiker regelmäßig einem Legitimationsdefizit ausgesetzt. Wie “allgemein” ist eine Wahl, wenn weniger als die Hälfte der dazu berechtigten überhaupt ihr Kreuzchen macht?
In seinem aktuellen kurzen Videoblog sehen wir Thießen vor der französischen Trikolore (warum auch immer; hätte es nicht ein Pferdeposter o.ä. getan?) sitzen und mit einem Stapel ausgedruckter emails wedeln, die verärgerte Bürger ihm geschrieben haben. Sowas!, empört er sich, die kennen ihn nicht mal persönlich und nörgeln ihn an!
Andere Länder pflegen bereits die Wahlverweigerung zu bestrafen, in Chile, Ägypten und auf den Fidschi-Inseln handhabt man es so, auf Widersetzung hagelt es Geld- oder gar Gefängnisstrafen. In Griechenland erhalten Nicht-Wähler keinen Reisepass, aber weil sich’s in Griechenland anscheinend ganz gut leben läßt, zog es diesmal dennoch kaum über 50% an die Wahlurnen.
Das schlagendste Argument pro Wahlpflicht nannte ein Politologe im Deutschlandfunk: Es habe sich doch gezeigt, daß die Wahlpflicht meist zu einer signifikant besseren Wahlbeteiligung führe! Ja, erstaunlich! Bei den Volkskammerwahlen 1986 in der DDR warens gar 99, 7%; was allerdings nicht als Argument ins Feld geführt wurde.
Vor längerer Zeit hatte es im Kölner Stadtanzeiger einen pro-und-contra-Schlagabtausch zum Thema. Der Befürworter einer Wahlpflicht, Tobias Kaufman von der Jüdischen Allgemeinen, argumentierte da knallhart: “Es gibt keinen Grund und keine Entschuldigung dafür, daß so viele Menschen vorgestern ihr Wahlrecht verfallen ließen.(…) Wählen ist für viele Familien ein schönes, erhabenes Ritual, das ausdrückt, wieviel ihnen diese Demokratie bedeutet. (…) Wahlpflicht, das klingt nach Zwang und Buckelei. Genau das ist das auch. Aber manchmal ist so etwas nötig.”
Welch Zusammenklang der Worte! Ritual! Erhaben! Zwang! Buckelei! Daß die Wählerei (und umgekehrt also auch die Wahlmüdigkeit) anzeige, wieviel den Bürgern diese Demokratie bedeute, ist noch der rationalste Kern dieser Einlassung.
Das aberwitzigste und zugleich das Haupt-Argument für einen Wahlzwang ist, daß hauptsächlich desinteressierte, unengagierte Bürger sich dem Parteienangebot verweigerten. Durch eine Wahlpflicht müßten sich jene über Parteiprogramme informieren. Das verringere die Gefahr, auf “populistische Stimmenfänger” hereinzufallen. Helau! Was hieß noch mal “Populismus”? Und ist es – dieser Logik folgend – nicht besser, daß die für den Populismus anfälligen Wähler sich eben nicht beteiligen am Urnengang?
Natürlich findet der Wahlpflicht-Vorstoß mehr Kritiker als Zustimmer. (Bei diversen online-Abstimmungen äußert sich allerdings rund ein Drittel zustimmend – Teilnehmer von Online-Umfragen wählen halt gewohnheitsmäßig extrem gern…) Jedenfalls macht dieser zustimmungsheischende Satz nun wieder seine Runde; Lieschen Müller, Otto Normal im Chor mit Ulrich Wickert: “Also: Ich finde, wer nicht wählt, darf auch nicht meckern.”
Nicht meckern? Kositza heißt “Ziege”. Wir können gar nicht anders. Uns bleibt keine Wahl.
Bildquelle: Joachim S. Müller