Das waren stets nicht viele, und sie werden gern als schrullige Miesepeter verlacht oder gar angefeindet, weil sie sich der Gesellschaft mit dem Argument entziehen, sie seien von »anderer Art«, was sie daran hindere, sich an den menschlichen Gepflogenheiten zu beteiligen. Sie ziehen sich aus der Gesellschaft zurück, weil sie die Diskrepanz zwischen den Möglichkeiten des Menschseins und der praktizierten Wirklichkeit nicht ertragen können. Sie schauen auf die Welt, machen ihre Erfahrungen und vergleichen das Gesehene und Erlebte mit den Anforderungen, die sie an sich selbst und an die Menschen stellen.
Diese wenigen unterscheiden sich vom Rest der Gesellschaft dadurch, daß sie über das Absurde und Mangelhafte nicht einfach hinwegsehen können, sondern schwer daran tragen, weil es ihnen an Gleichgültigkeit fehlt.
Solche Menschen hat es zu allen Zeiten gegeben – im Altertum ebenso wie im Abendland. Heraklit ist ein berühmter Name, und natürlich Timon von Athen, dem Shakespeare ein literarisches Denkmal setzte. Der späte Petrarca gehört zu den Weltflüchtigen des Mittelalters, Molière zeichnete ein genaues Bild des »Menschenfeindes« im 17. Jahrhundert und Ibsen thematisierte dieses Phänomen in Die Wildente und Ein Volksfeind für das späte 19. Jahrhundert.
Tatsächlich sind Weltverlorenheit, Misanthropie und Menschenflucht zutiefst »kulturelle« Phänomene, die im Zustand der »Natur« genausowenig vorkommen wie in der »Zivilisation«. Deshalb spielt das Thema Misanthropie heutzutage öffentlich auch keine Rolle mehr. In der »Natur« war Menschenflucht unmöglich, weil nur die Gruppe das Überleben des Einzelnen sicherte, in der »Zivilisation« ist sie es, weil die Massengesellschaft keine echte Individualität duldet und jeden davon abhält, eine solche zu entwickeln.
Daher wissen die meisten Menschen in der »Zivilisation« mit Weltverlorenheit auch gar nichts anzufangen oder verwechseln sie mit bloßem Gesellschaftsüberdruß. Doch handelt es sich bei der Misanthropie stets um das Ergebnis einer tiefen Enttäuschung überhöhter Erwartungen an den Menschen – was solche Erwartungen aber überhaupt erst einmal voraussetzt. »Wer mit vierzig Jahren noch kein Misanthrop ist, hat die Menschen nie geliebt«, bemerkte Nicolas Chamfort und deutete damit auf den leicht und gern übersehenen Kern des Problems: die Liebe zum Menschen ist der eigentliche Grund des Leidens am Menschen.
»Mensch« meint hier natürlich die großen Möglichkeiten, die im Menschen schlummern. Weil diese Möglichkeiten aber niemals ausgeschöpft werden können, bilanzierte Voltaire: »Da ich nun einmal nicht imstande war, die Menschen vernünftiger zu machen, war ich lieber fern von ihnen glücklich.« Doch während Voltaire es bei solchen Lippenbekenntnissen beließ, lebte sein großer Gegner Rousseau tatsächlich lange in Abgeschiedenheit.
Der Misanthrop kommt ja nicht als Misanthrop auf die Welt, sondern wird es erst im Laufe zahlreicher Erfahrungen, die jeden seiner Ansprüche an ein höheres Menschentum über den Haufen werfen. Da sucht jemand nach Wahrheit, muß aber feststellen, daß die meisten Menschen lieber selbstbetrügerisch leben wollen. Da sehnt sich jemand nach geistreichen, gehaltvollen Gesprächen unter guten Freunden, wie sie nur in der Aura leiser, melancholischer Nachdenklichkeit entstehen können, muß aber feststellen, daß die Freunde dazu weder bereit noch geeignet sind, weil die meisten lieber belanglos plaudern möchten, um ihre zwei bis drei Meinungen, ihre Ressentiments und Gewohnheiten zu pflegen.
Da bringt jemand Feinsinniges hervor, muß aber feststellen, daß die meisten Menschen gar keine Ohren dafür haben, sondern lieber im Dumpfen und Abgeschmackten ihres auf wenige Themen reduzierten Weltbildes verharren. – Und so kommt es, daß zu allen Zeiten diejenigen, die widersprechend und mit irritierenden Beobachtungen an die Welt herantreten, von dieser Welt eben gerade dafür abgestraft werden, daß sie es wagten, gegen das Gewöhnliche bestimmter Erwartungen zu verstoßen.
Daher trifft jeder skeptische, illusionslose Philosoph auf die natürlichsten Vorbehalte. Man könnte dies das Sokrates-Syndrom nennen. Der Mensch will nicht über sich und seine Mängel belehrt werden, schon gar nicht von einem anderen Menschen: Dafür sind die Götter zuständig, die eigens zu diesem Zweck erfunden wurden.
Denn das Kleine und Niederträchtige, das sich so gern hinter Alltagsmeinungen, Dogmen und Modegesinnungen versteckt, bildet zugleich die große Übereinkunft derjenigen, denen es nie um Vernunft oder Gerechtigkeit, sondern bloß um die Durchsetzung von Weltanschauungen geht, also darum, wer wen niederhalten kann.
Ein aktuelles Beispiel liefert der öffentliche Umgang mit Georg Büchner. Die Gemeinheiten, unter denen zarte Naturen wie Büchner litten, sind die gleichen, mit denen er heute vereinnahmt wird. Wogegen Büchner rebellierte, war ja gerade jene Ungerechtigkeit des Parteigängers, der die Übel, die von ihm selber ausgehen, nicht sehen will, der überall mit zweierlei Maß mißt und dadurch der Freiheit täglich ins Gesicht schlägt. Wer gegen die Priester und Fürsten von heute aufbegehrt, sieht sich den gleichen Denunziationen, Diffamierungen und Schikanen ausgesetzt wie ehedem. Nur die Methoden sind verfeinert worden.
Denn das Gemeine und Verlogene, aber auch Feige und Bequeme am Menschen hat sich ja nicht geändert oder aus der Welt verabschiedet. Es ist der immer gleiche Stumpfsinn, dem gestern zum Opfer fiel, wer Sozialkritik übte, und dem heute zum Opfer fällt, wer sich gegen die Totalität des linken Gesinnungsstaates empört. Hierin sind alle Herrschermilieus stets verwandt, egal, ob sie einen kirchlich, königlich oder demokratisch geführten Staat bilden.
Nennen sie sich nun Fürsten von Gottes Gnaden oder Zivilgesellschaft, regieren sie mit offener oder verdeckter Zensur, stellen sie nun Adelsprivilegien oder ideologische Bekenntnisse über jedes objektive Recht, ihre Charaktere unterscheiden sich nie voneinander. Einst war es der klerikale Stumpfsinn, später der chauvinistische Stumpfsinn und heute ist es der sozial-demokratische Stumpfsinn, an dem sich der freie Mensch den Kopf blutig stößt; denn immer wird er des gleichen Vergehens beschuldigt: des Angriffs auf die »Religion«.
Neben Büchner, Heinrich Heine und vielen anderen, die heute so gerne als »Linke« etikettiert werden, hat der konservativ-aristokratisch denkende Schopenhauer auf diesen Unterschied zwischen sich und den allermeisten anderen ebenfalls und am deutlichsten hingewiesen: Der gewöhnliche Mensch wolle an einen Gott glauben, der für ihn sorgt und alles zum Guten lenkt, werde dieser Gott nun durch die Kirche oder den Staat repräsentiert.
Denn der gewöhnliche Mensch benötige eine Weltanschauung, die ihm schmeichle und in irgendeine, möglichst mächtige Gruppe integriere. Dagegen sei keiner, der wirklich philosophiere, religiös, sondern gehe »ohne Gängelband, gefährlich aber frey.«
Folglich blieben die meisten der wahrhaft unabhängigen Autoren zu Lebzeiten weitgehend ungehört, isoliert und ausgegrenzt. Doch ein den kender Mensch, der es ernst mit seinem Denken meint, schreibt ja nie allein für die Gegenwart, nie allein für die Zeitgenossen, sondern stets für die Wenigen aller Zeiten, die mit ihm auf eben diese Weise verwandt sind. Er ist zugleich Chronist und hinterläßt Dokumente des freien Geistes, die zumeist immer erst für spätere Generationen interessant werden, sobald ein neues Regime und eine andere Gesinnung sich durchgesetzt haben.
Und so bleibt der vom Gängigen abweichende, der denkende und vernünftige Mensch, der sensibel genug ist, sich an der Heuchelei jeder totalitären Herrschaftsform zu stören, stets für sich allein, darf nirgendwo auf größeren Beistand hoffen und findet deshalb auch nirgends eine Heimat. Denn er weiß, daß es um die Freiheit des Nichteinverstandenen überall gleich schlecht steht, und daß die Anhänger irgendeines Glaubens oder irgendeiner Ideologie zumeist nur solange nach »Freiheit« rufen, wie sie selber noch nicht mächtig genug sind, diese anderen zu verbieten.
Doch der freie, denkende, vernünftige Mensch will sowenig Pfaffenherrschaft oder Fürstenwillkür erleiden wie er unter einer linken Gesinnungsdiktatur zu leben wünscht. Er ist eben kein »Reaktionär«, der im ewigen Wechselspiel der Meinungsmächte gefangen bleibt, sondern will gerade diesen Zirkel der sich ewig abwechselnden Torheiten durchbrechen.
Ein Heraklit floh in die Berge, ein Montaigne zog sich in den Turm zurück, ein Leopardi irrte unglücklich umher, ein Schopenhauer lernte früh die »Fabrikwaare« Mensch zu verachten, und ein Pessoa verkroch sich in die Traurigkeit.
Die großen Weisen neigten stets dazu, dem Treiben der Menschen aus dem Weg zu gehen. Für Chamfort lag der Weisheit Anfang in der Furcht vor dem Menschen, denn auch er wußte, wie Leopardi, daß der »Betrug die Seele des sozialen Lebens« ist. Und so wohnten die Weisen unter Menschen stets wie unter Fremden.
Ein gewöhnlicher Mensch mag sich damit abfinden und sich auf die jeweilige Siegerseite schlagen; ein politischer für den »Machtwechsel« kämpfen, um die einen Unterdrücker gegen die anderen auszutauschen; ein religiöser sich in die ihm gemäße Ordnung irgendeiner Kirche begeben; – ein philosophischer, skeptischer Mensch jedoch kann das alles nicht.
Also ist er durchaus ein Abwegiger, ein Unverbundener, »der anderen Unbegreifliches spricht«, ein Privatmensch, der abseits steht oder beiseite tritt, der sich der Gesellschaft entzieht und in die Einsamkeit geht wie »in eine unerhörte Offensive«, ein »Idiot« im antiken Wortsinn, l’homme isolé, an dessen sonderbare Stellung in der Welt Botho Strauß erst jüngst wieder erinnert hat.
Der Misanthrop ist also deshalb Misanthrop, weil er unter Menschen nicht findet, wonach er sucht. Das ist sein Unglück. Deshalb zieht er sich zurück, befaßt und umgibt sich lieber mit Büchern, Tieren oder Pflanzen als mit Menschen, lieber mit Landschaft als mit Gesellschaft. Der Umgang mit Menschen, der fast immer nur ein oberflächlicher, gezierter sein kann, wo das Grobe und Banale den Takt angibt, reizt ihn nicht, stößt ihn vielleicht sogar ab. Denn er eignet sich so wenig zum Austausch von Belanglosigkeiten wie zur Heuchelei.
Sein Unglück besteht darin, daß er für ein Small-Talk-Leben einfach nicht taugt. Dadurch aber zieht er den Argwohn der anderen auf sich. Denn natürlich glaubt man ihm nicht und verspottet ihn sogar wegen seines Einspruchs. Wie kann da jemand behaupten, nicht so zu sein wie wir anderen sind? Ist er denn kein Mensch? Hält er sich für etwas Besseres? – Also ist der Beschuldigte es leid, sich ständig dafür rechtfertigen zu müssen, vom Üblichen abzuweichen, indem er tatsächlich anders denkt und etwas anderes fühlt und will als der große Rest, der täglich durch sein Verhalten beweist, wie verschieden beide voneinander sind.
Weil jede Gesellschaft, vielleicht sogar jedes menschliche Leben auf Lüge und Heuchelei basiert, wird auch von jedem die Bereitschaft zur Lüge und Heuchelei erwartet. Wer nun aber unfähig ist, sich mit billigen Illusionen zu täuschen, gerät automatisch in einen schweren Konflikt mit der Welt und muß sich irgendwann entscheiden, ob er an jener Welt teilnehmen will und kann oder nicht.
Doch natürlich weiß er, daß jeder, der nach unbedingter Wahrhaftigkeit strebt, dies nur für sich alleine tun kann, da dieser Anspruch in der Welt keine Gültigkeit hat. Denn, wie es in Ibsens Wildente heißt: »Nehmen Sie einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge, und Sie nehmen ihm zu gleicher Zeit das Glück.« – Wer nun aber genau andersherum funktioniert, da ihn allein das Streben nach Wahrheit glücklich macht und nicht irgendeine Lebenslüge, wird sich früher oder später aus allen Gesellschaften entfernen müssen.
Was also den Misanthropen vom bloß gesellschaftskritischen Zeitgenossen unterscheidet, ist das tragische Bewußtsein aufgrund des Wissens um die unwandelbare Natur des Menschen, die stets dafür sorgt, daß man ein Gleicher unter Gleichen sein muß, um in Gesellschaft glücklich leben zu können. Denn natürlich hat es nie und nirgends »bessere Zeiten« oder »andere Menschen« gegeben.
Überall stoßen wir auf die immer gleichen Verhältnisse, egal, wie weit und wohin wir zurückblicken, und sei es auf die vermeintlich »edelsten« Epochen, wie etwa nach Hellas, wo die Misanthropie besonders weit verbreitet war. Schließlich stellte bereits Bias, einer der Sieben Weisen, ernüchtert fest: »Die meisten Menschen sind schlecht«.
Man verurteile den Misanthropen daher nicht vorschnell als arrogant und asozial, nur weil er sich seiner Natur nach keinem Staat und keiner Gesellschaft gefügig machen kann, sondern von bestimmten anthropologischen Konstanten immer abgestoßen bleibt.
In Molières Menschenfeind erlebt der Protagonist Alceste sein Zeitalter gänzlich von Schmeichelei, Verstellung und Betrug durchdrungen, weshalb er sich nach zahlreichen Erniedrigungen gezwungen sieht, der Welt den Rücken zu kehren: Er macht sich auf und sucht nach einem abgeschiedenen, einsamen Fleckchen Erde, »wo man die Freiheit hat, ein Ehrenmann zu bleiben«. Alceste zieht sich aus der Welt der anderen zurück, weil sein soziales Immunsystem nur äußerst schwach ausgeprägt ist und er also nicht nach jenen inneren Gesetzmäßigkeiten funktioniert, die sich entwickelt haben, damit Staaten, Kirchen und Gesellschaften entstehen und überdauern können.
Weltverlorenheit ist also vor allem eine Frage der Idiosynkrasie: wohl dem, der indolent genug ist, um des Menschen wegen nicht dauernd innerlich aufschreien zu müssen.
Viele sind mit einem dicken Fell gesegnet, andere mit einem weniger dicken; manche jedoch haben nicht einmal ein Fell, sondern bloß eine dünne Haut und sind daher den Wettern der Welt beinahe schutzlos ausgeliefert. – Deshalb ist Menschenflucht für diese weltverlorenen Naturen tatsächlich oft die einzige Möglichkeit, dem Leben erhalten zu bleiben.