Die Banalität des Bösen

PDF der Druckfassung aus Sezession 57 / Dezember 2013

von Benjamin Jahn Zschocke

Meine Großmutter wurde wenige Wochen vor meiner Geburt im Sommer 1986 aus der Haft entlassen. Unschuldig saß sie zweieinhalb Jahre im Roten Ochsen, einem 1842 in Halle errichteten Gefängnismonumentalbauwerk aus rotem Backstein, in dem über hundert Jahre lang hauptsächlich Todesurteile vollstreckt wurden – ein Unort schlechthin. Erst viel später erfahre ich, daß sie eines von tausenden Stasi-Opfern ist, ihr Schicksal dem Übereifer eines historisch einmaligen Überwachungs- und Denunziationsdienstleistungsapparates verdankend.

»Sie ist Meis­te­rin der Ver­drän­gung«, sagt mein Vater. Die DDR: das sind für mich blas­se Pho­to­gra­phien. Ich blät­te­re in den von mei­ner Mut­ter ange­leg­ten Alben. Auf dem Küchen­tisch lie­ge ich im Säug­lings­al­ter, dane­ben sitzt eine noch nicht sech­zig­jäh­ri­ge, ele­gan­te Frau. Man sieht ihr das Erleb­te an. Aber: »Die Was­ser-und-Brot-Gefäng­nis­zeit hat mir gesund­heit­lich nicht gescha­det«, sagt die 85-Jäh­ri­ge. Sie ist heu­te noch so ele­gant wie damals auf dem Photo.

Für mich hat die DDR gedank­lich den Farb­ton der Bil­der in den Alben mei­ner Mut­ter. Auf­grund der dama­li­gen Auf­nah­me­tech­nik sind die­se Jah­re für mich von einem grün­li­chen Beige-Schlei­er über­zo­gen, der dem Bild­ge­gen­stand die Sät­ti­gung nimmt.

Genau die­sen Farb­wert fin­de ich im Bild­band Top Secret wie­der, das ist irgend­wie ver­traut. In zwei­jäh­ri­ger Arbeit wühl­te sich der Pho­to-Künst­ler Simon Men­ner durch die Res­te der uner­schöpf­li­chen Men­gen von Bild­ma­te­ri­al, die das ehe­ma­li­ge Minis­te­ri­um für Staat­s­i­cher­heit (MfS) in den Mona­ten vor und nach der Wen­de nicht ver­nich­ten konn­te. Hier fin­det sich kom­pri­miert und gesich­tet, was den Säu­re­bä­dern, Akten­ver­nich­tern und Flam­men entging.

Ich blät­te­re dar­in, und aus den Bil­dern spricht die Bana­li­tät des Bösen. Die­sel­be Bana­li­tät, mit der der DDR-Anwalt mei­nem Vater vor der Haupt­ver­hand­lung mit­teil­te, das Urteil gegen mei­ne Groß­mutter lie­ge längst in der Schub­la­de. »Es ist aus­sichts­los, ich kann höchs­tens auf Form­feh­ler ach­ten«, sag­te der Anwalt. »Wenn sie Glück haben, wer­den es etwas weni­ger als drei Jah­re, oder viel­leicht kommt eine Amnes­tie«. Sie kam nicht.

Was kam, war eine lebens­ge­fähr­li­che Lun­gen­ent­zün­dung infol­ge von Zwangs­ar­beit und Haft­be­din­gun­gen sowie Tage der Unge­wiß­heit danach, in denen Leben und Tod gleich wahr­schein­lich schie­nen. Es ist die­sel­be Bana­li­tät, mit der die Sta­si-Mit­ar­bei­ter mei­nen Vater bei der Haus­durch­su­chung nach Bewei­sen frag­ten, wohl wis­send, daß es kei­ne gab, wäh­rend sie gewis­sen­haft und ehr­furchts­los die gesam­te Habe mei­ner Groß­mutter durch­wühl­ten. Wir sind doch nicht vom Reichs­si­cher­heits­dienst, sag­ten die Stasi-Mitarbeiter.

Es ist die­sel­be Bana­li­tät, mit der ein Spit­zel mei­nen Vater in der Dis­ko reiz­te, indem er betreffs der Inhaf­tier­ten beton­te: »Die haben wir fer­tig­ge­macht!« Mein Vater bot ihm Prü­gel an: »Wenn Du mich anfaßt, las­se ich mich so fal­len, daß Du mir mein gan­zes Leben lang Ren­te bezahlst«, sag­te der Spitzel.

Es ist die­sel­be Bana­li­tät, die Simon Men­ner in sei­nem Bild­band zeigt. Im Haupt­sitz des MfS haben sich hoch­ran­gin­ge Sta­si-Funk­tio­nä­re ver­sam­melt, um einem, der noch höher steht als sie, ihre Geburts­tags­glück­wün­sche dar­zu­brin­gen. Selbst hier noch müs­sen sie sich bewei­sen. Alles Hun­dert­fünf­zig­pro­zen­ti­ge. Sie haben sich als die »Staats­fein­de« ver­klei­det, die sie beruf­lich, nein, mit der See­le, bekämp­fen: Kir­chen­leu­te, Bür­ger­recht­ler, Anwäl­te und Künst­ler, alle­samt (poten­ti­el­le) Abweich­ler des Sys­tems, die auf ihren Ein­satz hin in Baut­zen, Hohen­schön­hau­sen oder Hal­le schmo­ren, oder ihnen gar den Tod ver­dan­ken. Eine staats­bür­ger­li­che Pflicht.

Nach 1989 wird klar, daß selbst die Sta­si-Spit­zel von Sta­si-Spit­zeln sta­si­be­spit­zelt wur­den. Es sind Sze­nen der Selbst­be­stä­ti­gung und Rei­ni­gung, die die eige­ne Schuld ver­klä­ren sol­len. Es ist immer und immer die­sel­be Bana­li­tät, mit der die Ange­stell­te eines Dresd­ner Kre­ma­to­ri­ums in Frau­en­hand­schrift das Wort »Ana­to­mie­ab­fall« ins Ein­äsche­rungs­buch schreibt und damit die Lei­che eines zuvor Hin­ge­rich­te­ten bezeich­net. Beim stich­pro­ben­haf­ten Öff­nen eines Sar­ges erstarrt das Per­so­nal: Der Kopf liegt zwi­schen den Füßen. Doch gemel­det wird es nicht – wem auch? – es wird schon alles sei­nen Grund haben.

Die Bana­li­tät des Bösen ist die ahnungs­lo­se Nai­vi­tät der tüch­ti­gen Ein­fäl­ti­gen. Es ist das von jeher exis­tie­ren­de, in Deutsch­land so cha­rak­te­ris­tisch in legi­ti­mie­ren­de Ver­wal­tungs­struk­tu­ren gefaß­te Böse, das für jede Abhör­maß­nah­me eine Dienst­an­wei­sung kennt, für jeden Haft­be­fehl einen Form­bo­gen, für jeden Hin­rich­tungs­be­schluß einen Para­gra­phen und damit für jeden Zwei­fels­fall eine ein­deu­ti­ge und ent­per­so­na­li­sier­te Lösung, die mit dem Gesetz ver­ein­bar ist. Wir hat­ten kei­ne Wahl, sagen die Täter (www.orte-der-repression.de).

231 Todes­ur­tei­le wur­den nach der­zei­ti­gem For­schungs­stand bis zur Abschaf­fung der Todes­stra­fe 1987 in der DDR ver­kün­det, 160 voll­streckt: mit dem Fall­beil bis 1950 im Roten Och­sen und bis 1956 am Münch­ner Platz in Dres­den. Durch Genick­schuß bis 1981 in der Leip­zi­ger Hin­rich­tungs­stät­te Alfred-Käst­ner-Stra­ße. Wäh­rend in der Alt­bau­zei­le der Süd­vor­stadt Men­schen ihren all­täg­li­chen Geschäf­ten nach­gin­gen, erfuh­ren die Häft­lin­ge im nach außen unsicht­ba­ren Sicher­heits­trakt, daß ihr Gna­den­ge­such abge­lehnt wur­de. Dann setz­ten sich die Para­gra­phen und Ver­ord­nun­gen in Bewe­gung, dann wur­den Stem­pel gerückt und Unter­schrif­ten getä­tigt und am Ende trat der Scharf­rich­ter an den Häft­ling her­an und töte­te mit »uner­war­te­tem Nah­schuß ins Hinterhaupt«.

Es ging alles sei­nen sozia­lis­ti­schen Gang. Die Situa­ti­on in den Neu­en Bun­des­län­dern ist seit­dem eine beson­de­re. Anders als den Tätern von 1933–1945, begeg­net man denen von 1949–1989 auf der Stra­ße. Die SED sitzt nach zwei Umbe­nen­nun­gen auch in der neu­en Legis­la­tur wie­der im Bun­des­tag, quer durch die Par­tei­en­land­schaft ist der Rest der eins­ti­gen Wür­den­trä­ger verteilt.

Ein 2012 im Land­kreis Dah­me-Spree­wald durch­ge­führ­tes Sta­si-Über­prü­fungs­ver­fah­ren des Kreis­ta­ges för­der­te zuta­ge, daß ein Abge­ord­ne­ter der FDP und einer der NPD beim MfS aktiv waren. Von 1961 bis 1988 fer­tig­te Ger­hard Mül­ler unter dem Deck­na­men »Emil« 97 Treff­be­rich­te an. Sei­ne Akte wur­de nie archi­viert, sie ende­te wegen des Unter­gangs der DDR. Bis heu­te ver­steht das NPD-Mit­glied sei­ne dama­li­ge Tätig­keit als Dienst- und Staats­bür­ger­pflicht. »Ich sehe kei­nen Grund, mein Wahl­amt nie­der­zu­le­gen«, sagt Emil (Amts­blatt für den Land­kreis Dah­me-Spree­wald. 19. Jahr­gang, Num­mer 17. Lüb­ben (Spree­wald), den 29.6.2012).

Im Vor­feld eines eben­sol­chen Ver­fah­rens soll­ten die Mit­glie­der des Chem­nit­zer Stadt­ra­tes zur sel­ben Zeit eine Erklä­rung unter­zeich­nen, mit der sie bestä­ti­gen, nicht für die Sta­si gear­bei­tet zu haben. Zwan­zig Pro­zent der alters­mä­ßig in Fra­ge kom­men­den Stadt­rä­te ver­wei­ger­ten sich der Unter­schrift. Den­noch wur­de von der Stadt­ver­wal­tung ein Über­prü­fungs­ver­fah­ren gegen alle betref­fen­den Stadt­rä­te ein­ge­lei­tet, mit dem Ergeb­nis, daß die Ober­bür­ger­meis­te­rin von 45 über­prüf­ten Stadt­rä­ten heu­te 39 nega­ti­ve Ergeb­nis­se vor­lie­gen hat.

Die ande­ren sechs stün­den irgend­wie noch aus. Einer nament­li­chen Nen­nung ver­wei­gert sie sich bis heute.

Auf dem Gebiet der ehe­ma­li­gen DDR herrscht ein trü­ge­ri­scher Frie­den. Im Schat­ten der zivil­re­li­giö­sen NS-Auf­ar­bei­tung bleibt die eige­ne Schuld meist unent­deckt. Und wenn doch jemand unan­ge­neh­me Fra­gen stellt, sit­zen noch genü­gend Alt­ei­sen in hohen poli­ti­schen Ämtern, auf deren Hil­fe man bau­en kann. Alt­ei­sen etwa, wie Simon Men­ner sie zeigt.

Auf einem Grup­pen­pho­to haben sich hohe MfS-Funk­tio­nä­re ver­sam­melt. Es sind die typi­schen Phy­sio­gno­mien aus Weich­heit, Selbst­wert­kom­plex und mani­schem Ehr­geiz: Trut­hahn­hals und Topf­lap­pen­fri­sur, immer im Dienst, immer humor­los, immer unter Erfolgs­druck. Betrü­ger­ge­sich­ter, Hei­rats­schwind­ler­ge­sich­ter, Kin­der­schän­der­ge­sich­ter. Sta­si ist eine Cha­rak­ter­fra­ge (www.simonmenner.com/pages/Stasi-Index.htm).

Mei­ne Groß­mutter erzählt von den Mona­ten kurz vor der Wen­de. Im Kre­ma­to­ri­um des nahe­ge­le­ge­nen städ­ti­schen Fried­ho­fes fuh­ren wochen­lang schwer bela­de­ne Lkw der Staats­si­cher­heit ein. Stun­de um Stun­de gin­gen Kilo­me­ter von Akten durch den Schorn­stein und ver­schaff­ten heu­ti­gen Wür­den­trä­gern eine wei­ße Wes­te, wäh­rend sich im Kühl­haus die zur Ein­äsche­rung bestimm­ten Lei­chen stapelten.

In einem Aus­tausch­pro­gramm von Nord nach Süd und von Süd nach Nord bezo­gen ab 1989 eigen­ar­tig stum­me und distan­zier­te Leu­te aus Ros­tock oder Schwe­rin plötz­lich Eigen­hei­me in Mitt­wei­da oder Mari­en­berg. Kei­ner wuß­te, wo die­se Leu­te frü­her gear­bei­tet hat­ten. Nur der Dia­lekt ver­riet die Her­kunft. Das iden­ti­sche Bild im Nor­den. In Wis­mar oder Neu­bran­den­burg tauch­ten die­sel­ben Typen auf: Trut­hahn­hals und Topflappenfrisur.

Sie stamm­ten aus dem Erz­ge­bir­ge oder der Lau­sitz. Dort wo sie jetzt woh­nen, lau­fen sie ihren Opfern nicht so häu­fig über den Weg, sagt mei­ne Großmutter.

+++ Simon Men­ner: Top Secret. Bil­der aus den Archi­ven der Staats­si­cher­heit, Ost­fil­dern 2013. 128 Sei­ten, 16,80 €.

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