Immer wieder Rudolf Heß

PDF der Druckfassung aus Sezession 57 / Dezember 2013

von Stefan Scheil

Es ist eine völlig sachliche Feststellung: Rudolf Heß ist inzwischen ein Mythos. Im Mythos verbinden sich bekanntlich Dichtung und Wahrheit, Fakten und Deutungen zu einer unauflösbaren Einheit. Er kennt leidenschaftliche Gegner und Anhänger; der Umgang mit ihm ist irrational, bisweilen atavistisch. Beredter Ausdruck dieser Entwicklung im Fall Heß war die 2011 getroffene Entscheidung, ihn zu exhumieren, sein Grab in Wunsiedel aufzulösen und die sterblichen Überreste im Meer zu verstreuen.

Getrof­fen wur­de die­se Ent­schei­dung erklär­ter­ma­ßen aus poli­ti­schen Grün­den, was Heß zu einem ein­zig­ar­ti­gen Fall macht. Es ist zwar schon vor­ge­kom­men, daß poli­tisch unlieb­sa­me Per­so­nen nach ihrem Tod noch ein­mal aus dem Grab geholt wur­den, um post mor­tem hin­ge­rich­tet zu wer­den. Eng­lands Lord-Pro­tek­tor Oli­ver Crom­well war etwa so ein Fall.

Aber einen Mann, der als poli­tisch Ver­ur­teil­ter Jahr­zehn­te in Haft ver­bracht hat, dort starb, regu­lär begra­ben und fünf­und­zwan­zig Jah­re spä­ter ohne einen poli­ti­schen Umbruch wie­der aus­ge­gra­ben wur­de, um aus poli­ti­schen Grün­den phy­sisch end­gül­tig ver­nich­tet zu wer­den, kann­te die Welt­ge­schich­te bis dahin noch nicht.

Das liegt natür­lich nur zum Teil an der Per­son Heß. Einen gro­ßen Bei­trag zu die­ser Situa­ti­on leis­tet der all­ge­mei­ne geschichts­po­li­ti­sche Umgang der Bun­des­re­pu­blik mit der NS-Zeit. Sie ist gewis­ser­ma­ßen der dunk­le Mythos, von dem sich die gesam­te Repu­blik umfas­send zu distan­zie­ren und zu unter­schei­den ver­sucht. In die­ser Sache hat sich die Ton­la­ge in den letz­ten Jahr­zehn­ten ste­tig verschärft.

So hat­te Richard von Weiz­sä­cker im Manu­skript sei­ner berühmt-berüch­tig­ten Rede zum 8. Mai 1985 als vier­zig­jäh­ri­gem Jah­res­tag der Befrei­ung ursprüng­lich noch eine Pas­sa­ge ste­hen, in der die Frei­las­sung von Rudolf Heß befür­wor­tet wur­de. Die Deu­tung der Nie­der­la­ge als Befrei­ung und die Frei­las­sung von Heß hät­ten zusam­men­ge­nom­men viel­leicht einen ent­spann­te­ren Umgang mit der Ver­gan­gen­heit ein­läu­ten kön­nen. Davon blieb nach der Über­ar­bei­tung nur noch die bekann­te Ankla­ge­schrift übrig, in der Weiz­sä­cker so gut wie allen attes­tier­te, alles gewußt und gewollt zu haben.

In die­sem Geschichts­bild blieb für die Frei­las­sung von Heß kein Platz mehr. Der ehe­ma­li­ge Stell­ver­tre­ter des Staats- und Par­tei­chefs rag­te wegen sei­nes aben­teu­er­li­chen Schick­sals aller­dings auch beson­ders her­aus. Sein geheim­nis­um­wit­ter­ter Flug, die gesperr­ten Akten zu die­sem The­ma, die end­lo­se Ein­zel­haft, die Debat­te um die Frei­las­sung und schließ­lich der Tod, den vie­le für einen Mord hal­ten: Stoff für Spe­ku­la­tio­nen gab es in die­sem Fall reichlich.

Immer wie­der tauch­ten neue Doku­men­te auf. Zuletzt konn­te das Auk­ti­ons­haus Alex­an­der His­to­ri­cal Auc­tions im ame­ri­ka­ni­schen Che­s­apea­ke City im Sep­tem­ber 2013 ein mehr als drei­hun­dert Sei­ten star­kes Ensem­ble von Heß-Papie­ren anbie­ten. Der gefor­der­te Min­dest­preis des anony­men Anbie­ters betrug stol­ze 300.000 Dol­lar, die aller­dings nie­mand zah­len wollte.

Man hät­te für die­ses Geld Doku­men­te bekom­men, die Heß in der Haft geschrie­ben hat. Ihr Über­lie­fe­rungs­weg ist nicht völ­lig klar, aber die Hin­wei­se deu­ten auf einen der Wach­sol­da­ten hin, der Heß sowohl in Groß­bri­tan­ni­en als auch wäh­rend des Nürn­ber­ger Pro­zes­ses beaufsichtige.

Die Hand­schrif­ten gel­ten Exper­ten als echt, es han­delt sich zum Teil um bereits an ande­rer Stel­le bekannt gewor­de­nes Mate­ri­al. Ein Teil ist aber auch neu und ent­hält bri­san­te Infor­ma­tio­nen. So erwähnt Heß in einer Pas­sa­ge eines Briefs an den Her­zog von Hamil­ton ein Ver­spre­chen an Hit­ler: »Ich habe dem Füh­rer übri­gens auf mein Wort ver­spro­chen, daß ich kei­nes­falls Selbst­mord bege­he. Er weiß, daß ich dies halte.«

Dies ist das bis­her klars­te Signal dafür, daß der Eng­land­flug tat­säch­lich mit Hit­ler abge­spro­chen war. Mit der Offen­le­gung die­ses Ver­spre­chens gab Heß aber auch ein deut­li­ches Signal an sei­ne bri­ti­schen Kon­tak­te. Sie brauch­ten sich kei­ne Hoff­nung zu machen, sei­nen Tod gege­be­nen­falls als Selbst­mord tar­nen zu können.

Für ein Mit­wis­sen Hit­lers beim Heß-Flug hat schon immer viel gespro­chen. Hit­lers Stell­ver­tre­ter galt vie­len als zu loy­al für ein sol­ches Unter­neh­men auf eige­ne Faust. Der wäh­rend der Vor­be­rei­tung des Eng­land­flugs ins Ver­trau­en gezo­ge­ne Lei­ter der Aus­lands­or­ga­ni­sa­ti­on der NSDAP, Ernst Wil­helm Boh­le, gehör­te bei­spiels­wei­se zu jenen, die an ein Mit­wis­sen des Staats­chefs in die­ser Ange­le­gen­heit geglaubt hat­ten und auch nach dem Ereig­nis noch davon ausgingen.

»Er glaub­te, der Füh­rer mache durch Heß Frie­den mit Eng­land ohne Rib­ben­trop«, ließ er spä­ter Joseph Goeb­bels wis­sen. Hit­lers Außen­mi­nis­ter Rib­ben­trop wuß­te von die­sen Vor­be­rei­tun­gen sei­ner­seits tat­säch­lich nichts, war aber an ande­ren Ver­su­chen betei­ligt, mit der bri­ti­schen Sei­te ins Gespräch zu kom­men. Im Som­mer 1940 gelang es auch, wenigs­tens Lord Lothi­an, den bri­ti­schen Bot­schaf­ter in Washing­ton, davon zu über­zeu­gen, das deut­sche Ange­bot sei »über­aus zufrie­den­stel­lend«. Gegen die in Lon­don herr­schen­de Kriegs­par­tei um Chur­chill konn­te der sich aber nicht durchsetzen.

Daß es von deut­scher Sei­te vie­le sol­cher Kon­takt­ver­su­che gab, von der bri­ti­schen Sei­te aber kei­nen ein­zi­gen, zumin­dest kei­nen ehr­li­chen, ist in der For­schung lan­ge bekannt. Spä­tes­tens Rai­ner Schmidt hat 1997 in sei­ner Habi­li­ta­ti­ons­schrift Boten­gang eines Toren? (sicher­heits­hal­ber noch mit einem Frag­zei­chen ver­se­hen) gezeigt, daß dies auch für Rudolf Heß gilt.

Wahr­schein­lich ist Heß einem bri­ti­schen Manö­ver auf den Leim gegan­gen. Er glaub­te, auf den bri­ti­schen Inseln lan­den, ver­han­deln und wie­der zurück­flie­gen zu können.

Bedeu­ten­der Teil des Heß-Mythos ist die­ses deut­sche Frie­dens­an­ge­bot, das Heß bei sei­nem Flug nach Groß­bri­tan­ni­en im Mai 1941 mit im Gepäck gehabt haben soll. Alle Jah­re wie­der erscheint ein neu­es Buch zu die­sem Thema.

Jüngst zog mit Peter Pad­field ein recht bekann­ter His­to­ri­ker nach: Sein Werk über Heß, Hit­ler und Chur­chill trägt den Unter­ti­tel Der eigent­li­che Wen­de­punkt des Zwei­ten Welt­kriegs (480 S., 32,70 €). Hit­ler habe via Heß Frie­den ange­bo­ten, Chur­chill sich aber für den Krieg bis zum Sieg ent­schie­den. Dies sei, so Pad­field gegen­über dem Dai­ly Tele­graph, eine hoch mora­lisch moti­vier­te Ent­schei­dung gewesen.

Dar­an ist sicher so viel rich­tig: In Lon­don sah man kein Frie­dens­an­ge­bot. Man sah einen deut­schen Dik­ta­tor, der Rück­zü­ge aus West­eu­ro­pa anbot, weil er mit einem schö­nen Stück pol­ni­scher Beu­te davon­kom­men woll­te. Das woll­te man nicht zulas­sen und war der Mei­nung, ihn bereits recht zuver­läs­sig vor der Flin­te zu haben.

Der ame­ri­ka­ni­sche Kriegs­ein­tritt konn­te im Früh­jahr 1941 als beschlos­se­ne Sache gel­ten. Die Span­nun­gen zwi­schen Deutsch­land und der UdSSR wuch­sen eben­falls längst. Die bri­ti­schen Inseln waren nach dem Abwehr­erfolg in der Luft­schlacht um Eng­land und der sowie­so unein­ge­schränk­ten See­herr­schaft vor einer Inva­si­on sicher. Den Preis für einen Krieg bis zum Ende wür­de dem­nach Kon­ti­nen­tal­eu­ro­pa zah­len, nicht Großbritannien.

So war es auch immer gewe­sen, wenn es gegen Spa­ni­en oder Frank­reich ging, dies beschwor Pre­mier Chur­chill gern und regel­mä­ßig. Inwie­fern die­se Über­le­gun­gen mora­lisch zu nen­nen sind, bleibt eine apar­te Frage.

Immer­hin stel­len die­se Infor­ma­tio­nen und die immer neu­en bekann­ten Details einen Teil des oben erwähn­ten dunk­len Mythos in Fra­ge. Die Füh­rungs­spit­ze im Drit­ten Reich wuß­te ganz genau um die Aus­sichts­lo­sig­keit des Krie­ges und ergriff früh­zei­tig Initia­ti­ven, um ihn zu been­den. Mys­ti­sche Vor­stel­lun­gen über angeb­lich geplan­te deutsch-natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Welt­erobe­run­gen mögen die Phan­ta­sie anre­gen und sogar Teil aktu­el­ler »poli­ti­scher Bil­dung« wer­den. Von den Fak­ten wer­den sie nicht gedeckt.

Die­se Fak­ten sind im übri­gen längst umfas­send bekannt. Es ist über­haupt nicht zu erwar­ten, daß die Frei­ga­be der noch gesperr­ten Heß-Akten im Jahr 2018 viel neu­es brin­gen wird.

Den­noch braucht es wenig Phan­ta­sie für die Pro­phe­zei­ung, daß bis dahin und erst recht danach noch vie­le Heß-Bücher mit spek­ta­ku­lä­ren Ansprü­chen erschei­nen wer­den. Ein Mythos will schließ­lich gepflegt werden.

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