Auf die großen Jubiläen dieses Jahres angesprochen, meinte der Kapellmeister des Leipziger Gewandhausorchesters, Riccardo Chailly, weder Verdi noch Wagner bedürften des Anlasses, da sie auf immer Bestandteil des Universums seien. Dabei fand es der Mailänder nicht einmal nötig, seine Aussage auf das Reich der Kunst einzugrenzen. Wo käme ein solches Bekenntnis heute über deutsche Lippen gleichen Ranges?
Unbefangene Verehrung zeigt sich auch bei unseren tschechischen Nachbarn. So feierte die Nordböhmische Philharmonie im Kulturhaus der Stadt Aussig (Ústí nad Labem) im Februar des Jahres die Heroen der vaterländischen Musik. Aufgeführt wurden Arien und Chöre zum Geburtstag der »Bedeutenden Komponisten Giuseppe Verdi und Richard Wagner«, wie es in tschechischer Sprache gleichermaßen sachlich wie huldigend auf dem Plakat zu lesen stand.
Etwas auswärts vor den Toren der Stadt Aussig thront die Burgruine Schreckenstein auf einem Felsen über der Elbe. Hier oben überfiel den jungen Wagner die Eingebung zum »Tannhäuser«. Eine Gedenktafel an der Mauer ist erhalten geblieben. Das stille Plätzchen läßt mehr vom Geist Wagners anklingen, als die so geräuschvollen wie museumspädagogisch niederschwelligen Gedenkstätten hierzulande.
Erwartungsgemäß taucht der Name Wagners im Jubiläumsjahr häufig auf im Theaterprogramm, den Verlagsankündigungen und Ausstellungsverzeichnissen. Der Anekdotenreichtum eines bewegten Lebens und die musikalischen Herausforderungen bieten mannigfach Gelegenheit zur Profilierung. Nur im seltenen Fall entfalten sekundäre Literatur und aktuelle Inszenierung den Kern des Werkes oder tragen auch nur ansatzweise zur Erkenntnis über ihn bei. Doch auch der dauernde Wert dieser Kunst bedarf inmitten der Vergänglichkeit der Tage einer bestätigenden Tat.
Es müssen ihm immer wieder große Durchbrüche im aktuellen Spielplan bereitet werden. Dabei lassen sich Aufführungen von Wagners Werken nicht in der Routine des Spielplans erledigen. Die Anforderungen sind sowohl in musikalischer wie in szenischer Hinsicht gewaltig. Allein der gute Wille reicht dazu nicht aus. Wenn es aber an diesem grundsätzlich mangelt, dann laufen die schönsten Fähigkeiten ins Leere.
Wagners Einhergehen und Hervorgehen mit und aus der deutschen Selbstfindung macht seine Mitteilungen für die gegenwärtige Bundesrepublik Deutschland unverdaulich. Auf der aktuellen Briefmarke der Deutschen Post ist seine Büste rosafarben. Das erinnert an die amerikanischen Gefängnisse, in denen die Virilität der Insassen durch eine rosa Anstaltskleidung gedämpft werden soll. Hierzulande vermochte sich die der Wagnerschen Kunst innewohnende Kraft am ehesten dort auszudrücken, wo die äußere oder innere Not ihrer Entfaltung enge Grenzen vorgab, vorausgesetzt, die musikalischen Fähigkeiten der Interpreten waren den hohen Anforderungen gewachsen.
Marek Janowski ist einer der besten Wagner-Dirigenten. Doch meidet er schon länger die Pulte der deutschen Opernhäuser. Fehlgeleiteten Materialschlachten oberhalb des Orchestergrabens ohne fördernde Beziehung zum Ausdruck und Sinn der Musik mochte er nicht länger zur Untermalung dienen. In der Berliner Philharmonie hat er im Sommer mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin einen großen konzertanten Wagner-Zyklus mit der »Götterdämmerung« zum Abschluß gebracht.
Da die Inszenierung landesweit versagt, im doppelten Wortsinne, betritt nun das Orchester mit den Sängern die Bühne. Eine halbszenische Aufführung des gleichen Werkes gab es am brandenburgischen Opernhaus in Cottbus. Ein um zahlreiche Gastmusiker verstärktes Philharmonisches Orchester des Staatstheaters musizierte auf einer Ebene mit den Sängerdarstellern, welche ihre Rollen mit seltener, archaischer Gewalt ausfüllten.
Der weltweiten Begeisterung für Wagners Kunst und einer immer noch vielfältigen Verlags‑, Museums- und Theaterlandschaft bei uns haben wir es zu verdanken, daß doch Bemerkenswertes im Festjahr hervorgetreten ist. Pünktlich zum Geburtstag Richard Wagners hat Rüdiger Jacobs eine neue Textausgabe vorgelegt. In elf Bänden ist die schriftliche Hinterlassenschaft chronologisch ausgebreitet, samt Erstveröffentlichungen und Übersetzungen aus dem Französischen. Ein zwölfter Band enthält Kommentare, Fassungen und eine Synopse, die auf der Doppelseite in vier Spalten biografische, künstlerische, wissenschaftliche, politische und historische Ereignisse in ihrer Gleichzeitigkeit nachvollziehbar macht.
Die Diffamierung und Marginalisierung von Wagners ästhetischen und politischen Ansichten zehrt von der schweren Zugänglichkeit der Quellen. Die wenigsten haben die angeblich belastenden Aufsätze im Ganzen gelesen und im Zusammenhang ihrer Entstehung zu erfassen versucht. Mit dieser Ausgabe ist das einer breiten Leserschaft wieder möglich (Neue Textausgabe Richard Wagner, 12 Bände, 5400 S., 198 €, Dielmann und Projekte-Verlag 2013).
Bei der Betrachtung von Wagners Werken ist es üblich, sich rein selektiv nach der Ausrichtung des heutigen Zeitgeistes bei seinen schriftlichen Äußerungen zu bedienen. Der Musikwissenschaftler, Philosoph und Pianist Siegfried Gerlich dagegen geht unbeirrt den von Wagner selbst gelegten Fährten nach. Seine Studie Richard Wagner. Die Frage nach dem Deutschen (224 S., 24 €, Karolinger 2013) ist eine erhellende Handhabe zur Begehung des Labyrinths der Wagnerschen Schriften.
Nicht Wagners Komposition und Dichtung ist Gegenstand der Untersuchung, sondern »Philosophie, Geschichtsdenken und Kulturkritik«. Einmal mehr wird deutlich, daß Deutschland nicht das Land der Dichter oder Denker, sondern der Dichter als Denker und der Denker als Dichter ist. So auch Richard Wagner, dessen Musik und Kulturpolitik die radikale Weiterführung der romantischen Poesie mit anderen Mitteln darstellt. Gerlich sieht in Wagner den Verkünder eines gleichermaßen unerreichten wie unversehrten geheimen und heiligen Deutschland, wie es auch Stefan George zur Forderung erhob und das Stauffenberg im Angesicht des Todes auf den Lippen führte.
Wagner ist ein radikaler Vollender der reformatorischen deutschen Spielart einer großen europaweiten Renaissance des Menschlichen und des Geistes gegen den tötenden Universalismus und die sterile Abstraktion eines nationalstaatlichen Imperialismus aus römischer Abkunft. Wagners Vorstellung von einem Deutschland in förderaler Vielgestaltigkeit bei geistiger Einheit wird von Gerlich mit der Konzeption von Constantin Frantz verglichen, der feststellte: »Gäbe es in Deutschland nichts weiter, als viele kleine Staaten, – wie leicht wäre die Vereinigung! Nein, in Berlin und Wien liegt das Hindernis«.
Bezeichnenderweise fehlten während des Jubiläumsjahrs vor allem »Die Meistersinger von Nürnberg« im Premierenplan der Opernhäuser hierzulande. Die Amsterdamer Oper und die Salzburger Festspiele dagegen brachten Neuinszenierungen der heiteren Nationaloper der Deutschen heraus. Die Staatsoper Hannover machte kurzfristig zu Jahresbeginn einen Rückzieher. Statt einer mit Spannung erwarteten Neuinszenierung des 34-jährigen Regisseurs Benedikt von Peter wurde eine Übernahme aus Linz aufpoliert, die den Tiefpunkt in der Aushöhlung des Stückes markiert.
Sänger in T‑Shirts mit Städtenamen agierten vor einem riesigen Grafitti, das in ‑zig Sprachen und bunten Farben das Wort »Liebe« zeigte. Entsprechend sangen dann Hans Sachs und Chor zum Schluß die dümmlichste Pointe des Wagner-Jahrs: »Ehrt Eure wahren Meister« anstatt »… deutschen Meister«. Völlig verkannt wird dabei, daß diese Selbstauslöschung Fremden gegenüber in höchstem Maße unhöflich ist.
Welch ungeheurer Hochmut steckt in dem Vorsatz, unfaßbar und damit zugleich unangreifbar zu sein. Die peinliche Botschaft lautet: Wir sind nicht länger die Deutschen. Wir sind gemeinsam mit euch allen jetzt – die Wahren. Anstatt unser deutsches Wesen in der freudigen Selbstverständlichkeit zu leben, welche Wagners »Meistersinger« nahelegen, treten wir ein weiteres Mal als Pächter der Wahrheit auf.
Der einstige Weltkriegsgegner England blickt da ganz anders und viel nüchterner auf unsere Kostbarkeiten. Das Deutsche, hierzulande in krampfige Verstopfung zurückgedrängt, bekundet sich auswärts inzwischen als ein positiver Mythos. Vor zwei Jahren brachte David McVicar die Meistersinger zum ersten Mal auf die Bühne des berühmten Glyndebourne Festspielhauses in Südengland und wählte dafür das äußere Erscheinungsbild eines zu sich selbst gelangenden Deutschland, wie es aus den Befreiungskriegen gegen Napoleon erwuchs.
Er wollte damit das Werk selbst wieder befreien »aus dem Gefängnis historischer Ereignisse, die nach seiner Uraufführung liegen«. Den Charakter des Stücks empfindet er als »menschlich, weise, warm und liebevoll«. Derselbe Ansatz in Kostüm und Inszenierung wurde in diesem Sommer für einen »Lohengrin« an der Walisischen Nationaloper in Cardiff gewählt.