Nils Wegner:
Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, Berlin: Matthes & Seitz Berlin 2011. 431 S., 29.90 €
Natürlich war Baudrillard kein Rechter, noch nicht einmal ein im Ansatz Konservativer. Gerade deswegen läßt sich um so mehr vom komplexen Gedankengebäude des Schülers Henri Lefebvres und Exegeten Georges Batailles lernen. In diesem seinem Hauptwerk formuliert Baudrillard eine Systematik seiner Simulationstheorie, wonach wir im postindustriellen Zeitalter der Simulation – der »dritten Ordnung des Simulacrums« – lebten: Die Zeichen (etwa in Medien und Werbung) haben sich entkoppelt und existieren nun quasi freischwebend als selbstreferentielle Systeme einer Hyperrealität. Diese »strukturale Revolution des Werts« schlägt auf sämtliche Lebensbereiche durch und ist integraler Bestandteil der Globalisierung, die restlos »alles in einen verhandelbaren, bezahlbaren Tauschwert« verwandelt, und das »extrem gewaltsam«. Der Leser bekommt eine denkbar scharfe Klinge gegen das System der (Post-)Moderne und seine Vereinnahmungstendenzen in die Hand.
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Benedikt Kaiser:
Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin: Suhrkamp 2016. 264 S., 18 €
Am Anfang steht Oliver Nachtweys Feststellung, daß nun auch in Deutschland die »kollektive Angst vor dem sozialen Abstieg« grassiert. Zentral sei, daß sich in der »Abstiegsgesellschaft« viele »Menschen dauerhaft auf einer nach unten fahrenden Rolltreppe« sehen: »Sie müssen nach oben laufen, um ihre Position überhaupt halten zu können.« Die Akzeptanz des kapitalistischen Systems erodiere. Dabei sieht der linke Frankfurter Soziologe – wie Alain de Benoist in seinen jüngsten Analysen – ähnliche Muster für die bisherige allseitige Akzeptanz des Kapitalismus greifen: breiten Schichten wurde durch steigende Löhne die Teilhabe am Massenkonsum ermöglicht, auch Arbeiterfamilien und die »untere Mittelschicht« konnten in (materiell) gesicherten Verhältnissen in die Zukunft schauen; der »Fahrstuhleffekt« (Ulrich Beck) der Wachstumsgesellschaft brachte alle Typen – ob Arbeiter oder Unternehmer – zusammen nach oben. Da dies in der Abstiegsgesellschaft der neuen Bundesrepublik nicht mehr gegeben ist, stehen auch hierzulande soziale Konflikte bevor.
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Sigrid Wirzinger:
Erich Kästner: Der Gang vor die Hunde, Zürich: Atrium 2013. 320 S., 22.95 €
Wer ist nicht mit den Büchern von Erich Kästner aufgewachsen? Mit dem Fliegenden Klassenzimmer, mit dem Doppelten Lottchen? Herrliche Bücher für Kinder, die so nicht mehr geschrieben werden! Darüber wird aber manches Mal die Bücher für Erwachsene vergessen, besonders hervorzuheben ist für mich Fabian – Die Geschichte eines Moralisten. Erzählt wird die Geschichte des Germanisten Fabian, der im Berlin der 20er Jahre nach Arbeit, Sinn und Liebe sucht. Kästner schafft es mit feinem Humor, subtiler Ironie und beißendem Sarkasmus das Lebensgefühl eines Intellektuellen in einer bewegten Zeit einzufangen, und knüpft an das Leben des Fabian viele Fragen, die sich Leser während der Lektüre selber stellen und beantworten sollte. Das Buch erschien 1931 und wirbelte im damaligen Feuilleton einigen Staub auf, dabei erschien Fabian schon in abgeschwächter Form, und nicht, wie Kästner es wollte, unter dem Titel Der Gang vor die Hunde. Sein Hausverlag Atrium hat nun vor knapp drei Jahren Kästners Erstlingswerk in der Originalfassung herausgebracht. Es lohnt sich, dem Werk einen zweiten Durchlauf zu gönnen – oder ihn zum ersten Mal zu entdecken, und dann gleich so, wie es der Intention des Autors entspricht!
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Caroline Sommerfeld:
Slavoj Zizek: Blasphemische Gedanken. Islam und Moderne, Berlin: Ullstein 2015. 64 S., 4.99 €
In den Literaturempfehlungen zu Weihnachen in der ZEIT fragt man sich angesichts der Wahljahre 2016/17 ernsthaft besorgt: “Was ist unser Klassenstandpunkt?”. Diesen hat kein linker Theoretiker klarer formuliert als der slowenische Meisterkrautundrübendenker und Psychoanalytiker Slavoj Zizek. Unterhalb aller manifesten politischen Verwerfungen lauert der latente Klassenkampf. Warum das Büchlein trotzdem von einem Burschenschafter zum Identitärenstammtisch mitgeschleppt und dort in der Runde zustimmend diskutiert wurde? Weil Zizek es schafft, das wirklich tief verstörende sexuelle und gewaltsame Drangsal des Islams so zu fassen zu bekommen, daß man sich fragen muß: Warum ist er verdammt noch mal immer noch links? “Denken heißt, über das Pathos der allgemeinen Soldarität hinauszugehen”, schreibt er auf der ersten Seite. Das geht durch (und durch) bis zur letzten.
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Götz Kubitschek:
Ellen Kositza: Die Einzelfalle. Warum der Feminismus ständig die Straßenseite wechselt, Schnellroda: Antaios 2016. 160 S., 13 €
Der Feminismus ist im Hause Antaios ständig ein Thema. Meine Frau liest – sofern sie neben Kindern, Küche und Kulturrevolution Zeit hat – nicht nur die EMMA (das einzige Abonnement, das wir halten – den Rest kriegen wir im Austausch), sondern im Überflug oder sehr gründlich jede relevante Neuerscheinung auf diesem Gebiet. Im Überflug meint: Ich kenne niemanden, der schneller ein Buch inhalieren und abschmecken könnte als Ellen Kositza.
Sie ist darüber hinaus ungeduldig, eher der Typ Tagesjournalistin, der Zwei-Monate-Rhythmus der Sezession liegt ihr nicht recht, und vieles, was allenthalben geschrieben wird, sollte auf das Relevante, weil neue Zehntel gekürzt werden: Alles andere ist schon irgendwo ausgebreitet worden.
Es hat deshalb gedauert, bis Kositza sich – knapp, wie sonst? – in einem Buch zu einem seltsamen Umstand äußerte: Warum betreiben die ersten Opfer der Massenzuwanderung, unsere Frauen, eigentlich in aller weltanschaulichen, »postfaktischen« Blindheit den Untergang ihres freien, respektierten, auch erkämpften weiblich-modernen Alltags? Gibt es etwas, das stärker ist als feministische Grundüberzeugungen? Welche Ideologien haben die Realitätsblindheit gerade der Frauen so vollständig gemacht?
Die Einzelfalle ist ein Buch zum Umdenken, und nichts ist derzeit wichtiger als dies: Das nicht mehr zu glauben, was uns eingeblasen wird von denen, die von der harten Wirklichkeit sehr weit entfernt sich einrichten können.
Arminius Arndt
Was die Dame nur gegen Belgier und Holländer hat??