Als eine Prominenz der frühen Soziologie ist Gumplowicz nicht in Vergessenheit geraten. Sein Name ist in den wesentlichen Darstellungen zur Geschichte dieser Disziplin (und auch in jenen zur Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland) weiterhin zitiert. Eher unbekannt ist jedoch sein Werk. Die zumeist nur rudimentäre Auseinandersetzung mit seinen Schriften sogar durch ausgewiesene Dogmenhistoriker hat dazu geführt, daß von seiner Theorie in der Regel ein zwar plakatives, zugleich aber fragwürdiges Bild gezeichnet wird. Er habe sich – so der Tenor – an einer naturalistischen Soziologie versucht, das Bild einer auf Macht und nicht auf Recht gegründeten Gesellschaft gezeichnet und den – damals immerhin nur schillernden und noch nicht diskreditierten – Begriff der Rasse zur Erklärung sozialer Phänomene heranzuziehen gewagt. Insbesondere aber sei er ein Parteigänger des Sozialdarwinismus gewesen, wenn er ihn nicht gar schulbildend popularisiert habe.
Derb zugespitzt wurde diese Sicht durch Georg Lukács. In seinem einflußreichen Werk Die Zerstörung der Vernunft warf er Gumplowicz vor, die Beziehung zwischen Staat und Ökonomie auf den Kopf gestellt, den Klassenkampf zum Rassenkampf mystifiziert und damit die Geschichtsauffassung des Faschismus vorbereitet zu haben. Diese Einschätzung zeugte jedoch eher von Phantasie und weniger von Kenntnis der Originaltexte. Eher den Punkt traf da schon Eugen Paschukanis, ein Zeitgenosse von Lukács und Doyen des frühen sowjetischen Staatsrechts: Er rezipierte Gumplowicz als jemanden, den man zwar nicht als Marxisten bezeichnen könne, der aber sehr wohl marxistische Schlußfolgerungen erlaube.
Als Ludwig Gumplowicz am 8. März 1838 in Krakau geboren wurde, war die einstige polnische Hauptstadt staatsrechtlich noch kein Bestandteil der Habsburgermonarchie. Sie genoß als ein Relikt des Wiener Kongresses den Status einer Freien Stadt unter der Obhut der „Schutzmächte” Rußland, Preußen und Österreich. Erst im November 1846 wurde sie vom Kaiserreich Österreich annektiert. Gumplowicz, nunmehr Untertan Kaiser Ferdinands I., hat seine Jugend in der Schlußphase der Ära Metternich in gutsituierten Verhältnissen erlebt. Er war das zweite von fünf Kindern eines Kaufmanns, der als Repräsentant der jüdischen Assimilationsbewegung und Angehöriger des Senats der Freien Stadt zu den örtlichen Honoratioren zählte. Von 1857 bis 1861 studierte er Rechtswissenschaften, zunächst in seiner Heimatstadt, dann in Wien. Dort hörte er unter anderem auch bei Lorenz von Stein. 1862 promovierte er an der k. k. Jagiellonischen Universität in Krakau. Es folgte ein Jahrzehnt, in dem er sich vor allem publizistisch und politisch betätigte. Am polnischen Januaraufstand von 1863 soll er im Waffennachschub mitgewirkt haben.
Nachdem der Versuch, sich in Krakau für Allgemeine Rechtsgeschichte zu habilitieren, im Jahr 1868 gescheitert war, engagierte sich Gumplowicz zwischen 1870 und März 1873 als Verleger und Redakteur (zeitweise auch Chefredakteur) der in Krakau erscheinenden radikal-demokratischen Tageszeitung Kraj („Das Land”). Aus dem Kreise ihrer Mitarbeiter kam der Anstoß, den „Politischen Zirkel” ins Leben zu rufen, der sich der Zusammenfassung aller demokratischen und nationalen Elemente Gesamtpolens verschrieb. Weder in diesem politischen Engagement noch verlegerisch war Gumplowicz aber Erfolg beschieden.
Seine Übersiedelung nach Graz im Jahr 1875 ist in der Literatur oft als der Versuch eines Neuanfangs nach dem Scheitern der bisherigen Ambitionen gedeutet worden. Seine zweite Lebenshälfte stand jedenfalls fortan im Zeichen der Wissenschaft. Die Sprache, derer er sich dabei bediente, war, seiner Grazer Wirkungsstätte gemäß, die deutsche. Schon im Jahr seiner Übersiedlung veröffentlichte Gumplowicz den Essay Race und Staat, mit dem er selbst später nicht zufrieden war, der jedoch schon die Kerngedanken des späteren Hauptwerks Der Rassenkampf vorzeichnete. Zudem trug er auf der in Graz tagenden 48. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte seine Auffassung über „das Naturgesetz der Staatenbildung” vor. 1876 reichte Gumplowicz an der k. k. Karl-Franzens-Universität ein Ersuchen um die venia legendi für Allgemeines Staatsrecht mit einer Arbeit über Robert v. Mohl als Rechts- und Staatsphilosoph ein. Nicht ohne Bedenken aus den Reihen des Professorenkollegiums hinsichtlich der von ihm vertretenen Positionen wurde er habilitiert und lehrte zunächst als Privatdozent. 1882 schließlich erfolgte die Ernennung zum außerordentlichen Universitätsprofessor des Allgemeinen Staatsrechtes und der Verwaltungslehre. Ein Jahr später bot er bereits auch eine Vorlesung „Ueber Socialwissenschaft”, ein weiteres Jahr darauf eine über die „Grundzüge der Sociologie” an.
1884 traten Gumplowicz und seine Frau aus der Israelitischen Kultusgemeinde aus und fünf Jahre später in die Evangelische Kirche (Augsburger Konfession) ein. Über eine tatsächliche Hinwendung zum christlichen Glauben ist nichts bekannt, anhand der in seinen Schriften auch in dieser Zeit eingestreuten persönlichen Bemerkungen zur Religion erscheint sie als sehr unwahrscheinlich. 1893 wurde Gumplowicz dann ordentlicher Universitätsprofessor der Verwaltungslehre und des Österreichischen Verwaltungsrechtes. Der Gipfel seiner akademischen Laufbahn war erklommen. Zu diesem Zeitpunkt lagen seine Hauptwerke bereits vor und wurden nun in zahlreiche, insbesondere romanische Sprachen übersetzt. 1893 zählte Ludwig Gumplowicz zu den ersten Mitgliedern des unter der Ägide von René Worms stehenden Institut International de Sociologie in Paris, dem im Laufe der Jahre nahezu die gesamte internationale Prominenz der frühen Soziologie (im weitesten Sinne aufgefaßt) angehörte. Die persönlichen Kontakte in der Wissenschaft beschränkten sich jedoch im wesentlichen auf Grazer Kollegen. Man dürfte diesen Lebensweg als ganz unspektakulär betrachten, wenn er nicht am 19. August 1909 mit einem Selbstmord geendet hätte, den der unheilbar Erkrankte zusammen mit seiner Frau beging.
Gumplowicz lehrte und publizierte in einer Ära, in der die Naturwissenschaften durch spektakuläre Forschungsergebnisse sowie den praktischen Nutzen, den sie für jedermann nachvollziehbar stifteten, stilbildend auch für andere Disziplinen waren. Bei ihm spiegelt sich dies vor allem in seinem Verständnis von Wissenschaft wieder: Akzeptanz findet einzig die induktive Methode, das Bemühen um die Ermittlung von Gesetzmäßigkeiten auf der Grundlage beobachtbarer Tatsachen. Diesem Anspruch meint er auf seinem Forschungsgebiet zwar nicht durch Wägen und Messen, wohl aber durch die Erfassung und Auswertung historischen und anthropologischen „Materials” gerecht werden zu können. Über die Methode hinaus determiniert der durch die Naturwissenschaften inspirierte, pragmatische Materialismus, zu dem sich Gumplowicz bekennt, was überhaupt als Thema einer wissenschaftlichen Betrachtung des Staates und des Rechts akzeptiert werden kann: Da die beobachtbare Welt auch die einzig tatsächliche ist, gibt es keine letzten Ziele und keine apriorischen Normen, sondern nur das, was die „Tatsachen” selber hergeben. Da alles „Natur” ist, kann auch der Staat nichts anderes als deren „Produkt” sein. Allerdings stellt er eine eigene „Sphäre” dar, in der auch eigene Gesetzmäßigkeiten zu konstatieren sind. Eine Übertragung von Erklärungsmustern insbesondere aus der Biologie auf die Soziologie lehnt Gumplowicz ab, entsprechend scharf ist seine Kritik an der „organischen Staatsauffassung” seines Zeitgenossen Albert Schäffle.
Die Akteure des sozialen Geschehens sind nach Auffassung von Gumplowicz Gruppen und nicht Einzelne. Das individuelle Handeln erscheint ihm nur als eine „optische Täuschung”. Das Bewußtsein des Einzelnen ist durch seinen sozialen Kontext quasi vollständig determiniert, die Willensfreiheit eine Fiktion. „In seinem Reden und Handeln drückt das Individuum, ob es will oder nicht will, nur die Anschauungen, Gesinnungen und Tendenzen seiner Gruppe aus.” Die „Ideen und Anschauungen der Gruppe” wiederum sind „Emanationen ihrer Lebensinteressen”, die nicht mit dem, was sie als ihre Zwecke ausgibt, in Übereinstimmung stehen müssen. Gruppen streben nicht danach, abstrakte Wertvorstellungen als Selbstzweck durchzusetzen, sondern sind letztlich auf nichts anderes als ein möglichst angenehmes Leben ihrer Mitglieder aus.
Was „der Mensch” ist, erscheint Gumplowicz als eine soziologisch irrelevante Fragestellung. Aber auch die Gruppe zeichnet er lediglich in abstrakten, ja vagen Konturen. Trotz seines Bekenntnisses zur Empirie als Voraussetzung einer Theoriebildung unternimmt er keine Analyse der zeitgenössischen Gesellschaft, um in ihr die sozialen Akteure zu identifizieren. Stattdessen entwirft er ein historisches Entwicklungsmodell, an dessen vorgeschichtlichen Anfängen Horden stehen, die, in menschenleeren Räumen umherschweifend, noch nicht in Kontakt zueinander getreten sind. Gumplowicz hängt hier der Vorstellung an, daß die Menschen sich nicht auf einen einheitlichen Ursprung zurückführen lassen, sondern unabhängig voneinander an unterschiedlichen Orten entstanden sind (Polygenismus-Hypothese). In diesem (und nur in diesem) Urzustand ist der Begriff der Gruppe deckungsgleich mit jenem der „Rasse” im biologischen Sinn. Dies ändert sich, sobald die ursprünglichen, egalitär strukturierten Gruppen untereinander „in Kontakt” treten und durch Unterwerfung zunächst bereits hierarchisch organisierte Stämme und schließlich Staaten entstehen. Zusammengehörigkeit oder Fremdheit mögen einst rein anthropologische Tatsachen gewesen sein. In der bekannten Geschichte sind sie aber sozial bestimmt. Es ist nicht die „rassische” Andersartigkeit des Fremden, die den Antagonismus zwischen den Gruppen zu einem natürlichen und nicht bloß zufälligen werden läßt, sondern die Aussicht, jemanden, zu dem es bislang kein Band gibt, dienstbar zu
machen.
Mit der Unterwerfung der unterlegenen Gruppe (im entwicklungsgeschichtlichen Zustand der „Horde” beziehungsweise des „Stammes”), das heißt, ihrer „Überlagerung”, entsteht der Staat und mit ihm das Recht. Diesen Prozeß unterscheidet Gumplowicz nachdrücklich vom darwinistischen Szenario des survival of the fittest: Die Konkurrenz findet zwischen Gruppen und nicht zwischen Individuen statt. Ihr Resultat ist keine „Höherentwicklung”. Es sind nicht ihr innewohnende natürliche Anlagen, die den Erfolg einer Gruppe bewirken, sondern ihre überlegene soziale Organisation. Eine darüber hinausgehende Qualität ist mit einer höheren gesellschaftlichen Positionierung nicht verbunden, diese ist zudem beständig durch die Beherrschten in Frage gestellt. Der „Sozialdarwinismus” stellt sich somit aus der Sicht von Gumplowicz als eine Rechtfertigungsideologie für Klassenherrschaft, nicht jedoch als ihre wissenschaftliche Begründung dar.
Mit dem Staat entsteht kein neues Subjekt, das zwischen oder neben die sozialen Gruppen (oder „oben” und „unten”) treten und eigene Interessen entwickeln und durchsetzen würde. In seinen Anfängen ist er noch nicht einmal als eine Organisation greifbar. Er ist vielmehr der Begriff für eine soziale Beziehung: Soziale Gruppen, die ursprünglich voneinander unabhängig existierten, leben nunmehr in einer Verbindung, die dadurch gekennzeichnet ist, daß die einen herrschen und die anderen beherrscht werden.
Die Eroberung, unterstellt Gumplowicz, zielt nicht allein darauf ab, Land unter Kontrolle zu bekommen, sondern bezweckt vor allem, Menschen zu unterwerfen, die auf diesem Land für die neuen Herrscher arbeiten sollen. Deshalb bringen die Eroberer die Unterworfenen auch nicht um, sondern zwingen sie in den Staat. Diese Konstellation ist, ein Streben nach Selbsterhaltung vorausgesetzt, für die Unterworfenen allemal besser als der Tod, den sie bei einer Verweigerung gewärtigen müßten. In den Anfängen des Staates können die Beherrschten, obwohl sie sich am Tiefpunkt ihrer sozialen Macht befinden, bereits ein Recht wahrnehmen, das ihnen durch die „Entscheidung” der Eroberer, es zum Staat kommen zu lassen, aus deren eigenem Interesse heraus konzediert wurde: das Recht auf physische Existenz und ein Existenzminimum zur Reproduktion der Arbeitskraft. Dieses Existenzminimum ist sozusagen die Ausgangsbasis, von der aus die Beherrschten sukzessive weitere Rechte hinzugewinnen. Zum Staat kommt es somit, in Abweichung von klassischen vertragstheoretischen Vorstellungen, nicht durch freie Übereinkunft der Individuen, sei sie durch die Not eines „Kampfes aller gegen alle” erzwungen oder nicht, sondern schlicht durch die Unterwerfung einer Gruppe (im Urzustand) durch eine andere. Dies ist der „ereignisgeschichtliche” Grund dafür, daß Recht, Gumplowicz zufolge, ohne Ungleichheit nicht vorstellbar ist. Dieses Recht ist so dynamisch wie der Staat selbst: In ihm enden die sozialen Konflikte nicht, sie finden nur einen Rahmen. Die Auseinandersetzungen zwischen den sozialen Gruppen können zu neuen Kräftekonstellationen und damit auch zu neuem Recht führen. Es gibt folglich kein überzeitliches, sondern nur situativ gebundenes Recht, das den keineswegs harmonischen modus vivendi zwischen den sozialen Gruppen in einem Staat beschreibt.
Die Ausbildung sozialer Gruppen endet nicht mit der Entstehung von „oben” und „unten” durch „Eroberung” und „Unterwerfung”. Neue soziale Formationen erscheinen auf dem Plan – sei es, daß sie „ins Land gerufen” werden, sei es, daß sie sich ausdifferenzieren. Dadurch entstehen neue Linien, entlang derer Auseinandersetzungen geführt werden. Das Bild des Staates verliert den dichotomischen Charakter, den es ursprünglich hatte. Bei aller wachsenden Komplexität verwischen sich die hierarchischen Züge aber nicht. „Volksherrschaft”, gar „Herrschaftsfreiheit” sind nicht möglich, jedenfalls nicht im Rahmen des Staates, dessen Charakteristikum die Herrschaft weniger über viele bleibt. Die Abschaffung der Klassen und ihres Gegensatzes wäre gleichbedeutend mit der Abschaffung des Staates und der Begründung von Anarchie. Dies jedoch kann, so Gumplowicz, keineswegs als „moralischer Fortschritt” angesehen werden, sondern ist im Gegenteil sogar als ein Rückschritt aufzufassen, da der Staat, unbeschadet der in ihm zum Ausdruck kommenden Herrschaftsverhältnisse, eine „Kulturleistung” darstellt – nicht zuletzt verdankt ihm ja auch das Recht seine Entstehung.
Der „moralische Fortschritt” liegt für Gumplowicz also nicht darin, daß die Staatsentwicklung etwa zu mehr Partizipation, zur Gleichheit der Staatsbürger oder gar der Aufhebung von Herrschaft überhaupt streben würde, sondern in einer wachsenden Hegung der sozialen Auseinandersetzungen. Die Gegensätze bleiben, doch sie werden mehr und mehr in zivilisierter Form ausgetragen.
Die Theorie des Rechtsstaates, deren mustergültige und abschließende Formulierung er Robert von Mohl zuschreibt, deutet Gumplowicz als einen Kompromiß zwischen den beiden antagonistischen Prinzipien der (absolutistischen) Herrschersouveränität und der (demokratischen) Volkssouveränität. Ihr zufolge gründe die Herrschaft nicht im Herrscher, sondern im Staat, der das Recht als ihren Zweck bestimmt und ihr damit die Grenzen setzt. Das Recht, das den Herrschenden zur Durchsetzung aufgegeben ist, steht auch über ihnen selbst. Ihnen die Befugnis einzuräumen, nach Belieben mit ihm zu verfahren, wäre somit paradox. Der Versuch, den Staat den sozialen Auseinandersetzungen zu entziehen, ihn über die Parteien zu stellen und ihm die Verwirklichung des Rechts und damit ein allen seinen Angehörigen gemeinsames Interesse als Zweck aufzugeben, gründet dabei auf dem Egalitätsprinzip. Dieses aber, so Gumplowicz, ist mit dem Wesen des Staates unvereinbar und somit realitätsfremd. Der Staat sei nämlich keine Institution, die unabhängig von den sozialen Antagonismen bestünde und gar um deren Aufhebung bemüht sein könnte. Als ein Instrument der Herrschenden – hier wendet sich Gumplowicz insbesondere gegen die Auffassung von Lorenz von Stein – ist er vielmehr selbst Partei. An dieser Realität des Staates kann, so Gumplowicz, keine Politik und auch keine Theorie etwas ändern. Die Rechtsstaatstheorie behelfe sich mit der Vorstellung einer Staatspersönlichkeit: Es seien nicht bestimmte Menschen, die gegenüber anderen bestimmten Menschen das Sagen hätten, sondern der Staat als eine Institution im Interesse aller, der die Gesetzesherrschaft über alle durch Beauftragte ausüben lasse. Zur Überparteilichkeit gelange der Staat aber letztlich nicht einmal in der Justiz. Die Gleichheit vor dem Gesetz sei allenfalls im Privatrecht möglich. Nur hier trete der Staat nicht als Partei auf, sondern sei bestrebt, durch sein Machtwort anders nicht zu findende Entscheidungen herbeizuführen, um den inneren Frieden aufrechtzuerhalten.
Bereits die philosophischen Grundlagen der Rechtsstaatstheorie beruhen nach der Auffassung von Gumplowicz auf „Irrthümern und Täuschungen”. Es gebe keinen Mechanismus, der ein gleiches Maximum an Freiheit für alle Individuen produzieren könnte. Die Freiheit der meisten sei durch die Herrschaft der wenigen beschränkt, die Gleichheit eine aus religiösen Vorstellungswelten stammende Fiktion, die an der Wirklichkeit des Staates scheitere. Die „Prämissen der ‚unveräußerlichen Menschenrechte‘ beruhen auf der unvernünftigsten Selbstvergötterung und Überschätzung des Wertes des Menschen und seines Lebens, und auf vollkommener Verkennung der einzig möglichen Grundlage der Existenz des Staates.”
Die Utopie des Rechtsstaates findet, so die Auffassung von Gumplowicz, ihre nicht minder utopische Vollendung im Sozialismus. Die Verpflichtung auf politische Freiheits‑, Gleichheits- und gar Mitwirkungsrechte aller muß jeden realen Staat überfordern. Politische Freiheit und rechtliche Gleichheit mögen konstitutionell verbürgt und sogar demokratische Partizipation unter Anwendung des Majoritätsprinzips zugelassen sein. Es herrsche dennoch weiterhin eine Minderheit – und dies könne auch gar nicht anders sein. Die systematische Diskreditierung der beschworenen Prinzipien durch die Realität läßt sich nicht verbergen. Allen theoretischen Bemühungen, einen einmal erreichten staatlichen Zustand als den Rechtsstaat auszugeben und damit die 1789 begonnene Revolution für beendet zu erklären, mangelt es an Glaubwürdigkeit. Die sozialistische Kritik hat leichtes Spiel, und sie kann vor allem eine plausible Ursache dafür identifizieren, daß politische Freiheit und rechtliche Gleichheit bislang noch nicht mit Leben erfüllt wurden: die materielle Ungleichverteilung.
Gumplowicz macht sich diesen Einwand zu eigen. In seiner Auseinandersetzung mit den sozialistischen Autoren unterschiedlichster Provenienz folgt er ihnen, solange sie den vermeintlich etablierten Rechtsstaat als das vorführen, was er auch nach seiner eigenen Auffassung ist: ein Klassenstaat. Bereits die kritische Intention, die er mit dieser „Enthüllung” verbindet, weicht jedoch von jener der Sozialisten a. Nicht der tatsächliche Staat steht unter Rechtfertigungszwang, selbst wenn es mächtige Interessen sein mögen, die sich weitergehenden Versuchen einer Realisierung des Rechtsstaates widersetzen. Es ist eine falsche, ihrer inneren Konsequenzen nicht mehr Herr werdende Theorie, die es zu beanstanden gilt.
Die Fehler der Rechtsstaatstheorie werden durch ihre Radikalisierung im Sozialismus nicht aufgehoben. Gumplowicz wird nicht müde zu betonen, daß alle Hoffnung, durch eine Umwälzung der Eigentumsordnung die Versprechen des Rechtsstaates endlich einlösen zu können, vergebens ist. Die Begründung, die er für seine Skepsis anführt, trägt jedoch durchaus tautologische Züge: Wenn als das Wesen des Staates eine Ungleichverteilung von Eigentum, Macht und politisch relevanten Rechten angesehen wird, so wäre eine Realisierung der sozialistischen Utopie gleichbedeutend mit seiner Auflösung. Zwar vergehen einzelne Staaten, und dieses Schicksal ist genaugenommen sogar jedem von ihnen irgendwann einmal beschieden. An ihre Stelle treten jedoch stets andere (oder neue) Staaten, die wiederum auf Ungleichheit basieren.
Hinzu tritt allerdings eine sozusagen funktionale Begründung. Der Staat ist zwar keineswegs einem fiktiven Gemeinwohl, sondern zunächst den Interessen der Herrschenden verpflichtet. Er führt damit jedoch zugleich die Entscheidung über die Verteilung der knappen Güter und – nicht zuletzt – der Arbeit herbei und erfüllt damit eine objektive Aufgabe, deren Bewältigung in aller Interesse ist. Unter den Bedingungen eines realisierten Rechtsstaates in sozialistischer Vollendung müßte diese Entscheidung im Konsens erfolgen. Dies ist aber, Gumplowicz zufolge, grundsätzlich nicht vorstellbar, da der Bedarf stets die zur Verfügung stehenden Mittel der Bedürfnisbefriedigung übersteigt und das Bemühen, der zumeist unangenehmen Arbeit auszuweichen, nicht aus der Welt zu schaffen ist. Nicht die Gesellschaft organisiert von sich aus auf der Grundlage dezentraler Wirtschaftspläne die Arbeitsteilung, sondern der Staat ist deren Demiurg.
Der Sozialismus ist als Gruppenzweck eine soziale Tatsache, daher aber auch, so falsch er, als Theorie verstanden, sein mag, wissenschaftlich nicht zu „widerlegen”. Die „soziologische Staatsauffassung” vermag dies zu erkennen, letztlich aber nicht zu beeinflussen, da die Geschichte per se nicht durch Ideen bewegt wird. Dennoch verknüpft Gumplowicz mit ihr eine Hoffnung: Die Kritik des „falschen Bewußtseins” vermag die in der Geschichte angelegte Tendenz zu entschiedenerer Wirkung zu bringen, indem unnötige Umwege und aus ihnen resultierende Erfahrungen antizipiert werden. Gumplowicz und Marx kommen hier, in der Frage nach der Funktion von Wissenschaft in einer sich unabhängig von ihrer Erkenntnis vollziehenden Geschichtsentwicklung zu einer vergleichbaren Antwort.
Gumplowicz ist bereits zu Lebzeiten überwiegend als ein Außenseiter wahrgenommen worden. Dies liegt in der Konsequenz seiner Methode, seines Stils der Auseinandersetzung und nicht zuletzt der von ihm vertretenen Auffassungen. Jene soziologische Gründergeneration, die ab den 1890er Jahren peu à peu die Institutionalisierung und Etablierung der neuen Disziplin vollbrachte, war in der Regel mindestens zwei Jahrzehnte jünger als er und verortete die Soziologie nicht mehr unter den Natur‑, sondern – im Banne von Historismus, Hermeneutik oder Neukantianismus stehend – den Geisteswissenschaften. Die Übersetzung einzelner Werke ins Polnische, Französische, Spanische, Russische, Englische, Italienische und selbst Japanische dokumentiert, daß Gumplowicz zeitgenössisch international rezipiert worden ist. Eine besondere Intensität hatte das Echo in den USA, hier ist ihm bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein großes Gewicht beigemessen worden. Eine Schule hat Gumplowicz nicht begründet.