Autorenportrait Ludwig Gumplowic

pdf der Druckfassung aus Sezession 13/April 2006

sez_nr_13von Peter Boßdorf

Die Anfänge der Soziologie als einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin lassen sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts erkennen. In der Regel waren es Renegaten anderer Fächer, die sie, sofern sie Lehrstühle innehatten, durch die Seitentür an den Universitäten einführten. Einer von ihnen war der in Graz lehrende „Staatsrechtler" Ludwig Gumplowicz.


Als eine Pro­mi­nenz der frü­hen Sozio­lo­gie ist Gum­plo­wicz nicht in Ver­ges­sen­heit gera­ten. Sein Name ist in den wesent­li­chen Dar­stel­lun­gen zur Geschich­te die­ser Dis­zi­plin (und auch in jenen zur Geschich­te des Öffent­li­chen Rechts in Deutsch­land) wei­ter­hin zitiert. Eher unbe­kannt ist jedoch sein Werk. Die zumeist nur rudi­men­tä­re Aus­ein­an­der­set­zung mit sei­nen Schrif­ten sogar durch aus­ge­wie­se­ne Dog­men­his­to­ri­ker hat dazu geführt, daß von sei­ner Theo­rie in der Regel ein zwar pla­ka­ti­ves, zugleich aber frag­wür­di­ges Bild gezeich­net wird. Er habe sich – so der Tenor – an einer natu­ra­lis­ti­schen Sozio­lo­gie ver­sucht, das Bild einer auf Macht und nicht auf Recht gegrün­de­ten Gesell­schaft gezeich­net und den – damals immer­hin nur schil­lern­den und noch nicht dis­kre­di­tier­ten – Begriff der Ras­se zur Erklä­rung sozia­ler Phä­no­me­ne her­an­zu­zie­hen gewagt. Ins­be­son­de­re aber sei er ein Par­tei­gän­ger des Sozi­al­dar­wi­nis­mus gewe­sen, wenn er ihn nicht gar schul­bil­dend popu­la­ri­siert habe.
Derb zuge­spitzt wur­de die­se Sicht durch Georg Lukács. In sei­nem ein­fluß­rei­chen Werk Die Zer­stö­rung der Ver­nunft warf er Gum­plo­wicz vor, die Bezie­hung zwi­schen Staat und Öko­no­mie auf den Kopf gestellt, den Klas­sen­kampf zum Ras­sen­kampf mys­ti­fi­ziert und damit die Geschichts­auf­fas­sung des Faschis­mus vor­be­rei­tet zu haben. Die­se Ein­schät­zung zeug­te jedoch eher von Phan­ta­sie und weni­ger von Kennt­nis der Ori­gi­nal­tex­te. Eher den Punkt traf da schon Eugen Paschuk­a­nis, ein Zeit­ge­nos­se von Lukács und Doy­en des frü­hen sowje­ti­schen Staats­rechts: Er rezi­pier­te Gum­plo­wicz als jeman­den, den man zwar nicht als Mar­xis­ten bezeich­nen kön­ne, der aber sehr wohl mar­xis­ti­sche Schluß­fol­ge­run­gen erlaube.
Als Lud­wig Gum­plo­wicz am 8. März 1838 in Kra­kau gebo­ren wur­de, war die eins­ti­ge pol­ni­sche Haupt­stadt staats­recht­lich noch kein Bestand­teil der Habs­bur­ger­mon­ar­chie. Sie genoß als ein Relikt des Wie­ner Kon­gres­ses den Sta­tus einer Frei­en Stadt unter der Obhut der „Schutz­mäch­te” Ruß­land, Preu­ßen und Öster­reich. Erst im Novem­ber 1846 wur­de sie vom Kai­ser­reich Öster­reich annek­tiert. Gum­plo­wicz, nun­mehr Unter­tan Kai­ser Fer­di­nands I., hat sei­ne Jugend in der Schluß­pha­se der Ära Met­ter­nich in gut­si­tu­ier­ten Ver­hält­nis­sen erlebt. Er war das zwei­te von fünf Kin­dern eines Kauf­manns, der als Reprä­sen­tant der jüdi­schen Assi­mi­la­ti­ons­be­we­gung und Ange­hö­ri­ger des Senats der Frei­en Stadt zu den ört­li­chen Hono­ra­tio­ren zähl­te. Von 1857 bis 1861 stu­dier­te er Rechts­wis­sen­schaf­ten, zunächst in sei­ner Hei­mat­stadt, dann in Wien. Dort hör­te er unter ande­rem auch bei Lorenz von Stein. 1862 pro­mo­vier­te er an der k. k. Jagiel­lo­ni­schen Uni­ver­si­tät in Kra­kau. Es folg­te ein Jahr­zehnt, in dem er sich vor allem publi­zis­tisch und poli­tisch betä­tig­te. Am pol­ni­schen Janu­ar­auf­stand von 1863 soll er im Waf­fen­nach­schub mit­ge­wirkt haben.

Nach­dem der Ver­such, sich in Kra­kau für All­ge­mei­ne Rechts­ge­schich­te zu habi­li­tie­ren, im Jahr 1868 geschei­tert war, enga­gier­te sich Gum­plo­wicz zwi­schen 1870 und März 1873 als Ver­le­ger und Redak­teur (zeit­wei­se auch Chef­re­dak­teur) der in Kra­kau erschei­nen­den radi­kal-demo­kra­ti­schen Tages­zei­tung Kraj („Das Land”). Aus dem Krei­se ihrer Mit­ar­bei­ter kam der Anstoß, den „Poli­ti­schen Zir­kel” ins Leben zu rufen, der sich der Zusam­men­fas­sung aller demo­kra­ti­schen und natio­na­len Ele­men­te Gesamt­po­lens ver­schrieb. Weder in die­sem poli­ti­schen Enga­ge­ment noch ver­le­ge­risch war Gum­plo­wicz aber Erfolg beschieden.
Sei­ne Über­sie­de­lung nach Graz im Jahr 1875 ist in der Lite­ra­tur oft als der Ver­such eines Neu­an­fangs nach dem Schei­tern der bis­he­ri­gen Ambi­tio­nen gedeu­tet wor­den. Sei­ne zwei­te Lebens­hälf­te stand jeden­falls fort­an im Zei­chen der Wis­sen­schaft. Die Spra­che, derer er sich dabei bedien­te, war, sei­ner Gra­zer Wir­kungs­stät­te gemäß, die deut­sche. Schon im Jahr sei­ner Über­sied­lung ver­öf­fent­lich­te Gum­plo­wicz den Essay Race und Staat, mit dem er selbst spä­ter nicht zufrie­den war, der jedoch schon die Kern­ge­dan­ken des spä­te­ren Haupt­werks Der Ras­sen­kampf vor­zeich­ne­te. Zudem trug er auf der in Graz tagen­den 48. Ver­samm­lung deut­scher Natur­for­scher und Ärz­te sei­ne Auf­fas­sung über „das Natur­ge­setz der Staa­ten­bil­dung” vor. 1876 reich­te Gum­plo­wicz an der k. k. Karl-Fran­zens-Uni­ver­si­tät ein Ersu­chen um die venia legen­di für All­ge­mei­nes Staats­recht mit einer Arbeit über Robert v. Mohl als Rechts- und Staats­phi­lo­soph ein. Nicht ohne Beden­ken aus den Rei­hen des Pro­fes­so­ren­kol­le­gi­ums hin­sicht­lich der von ihm ver­tre­te­nen Posi­tio­nen wur­de er habi­li­tiert und lehr­te zunächst als Pri­vat­do­zent. 1882 schließ­lich erfolg­te die Ernen­nung zum außer­or­dent­li­chen Uni­ver­si­täts­pro­fes­sor des All­ge­mei­nen Staats­rech­tes und der Ver­wal­tungs­leh­re. Ein Jahr spä­ter bot er bereits auch eine Vor­le­sung „Ueber Social­wis­sen­schaft”, ein wei­te­res Jahr dar­auf eine über die „Grund­zü­ge der Socio­lo­gie” an.
1884 tra­ten Gum­plo­wicz und sei­ne Frau aus der Israe­li­ti­schen Kul­tus­ge­mein­de aus und fünf Jah­re spä­ter in die Evan­ge­li­sche Kir­che (Augs­bur­ger Kon­fes­si­on) ein. Über eine tat­säch­li­che Hin­wen­dung zum christ­li­chen Glau­ben ist nichts bekannt, anhand der in sei­nen Schrif­ten auch in die­ser Zeit ein­ge­streu­ten per­sön­li­chen Bemer­kun­gen zur Reli­gi­on erscheint sie als sehr unwahr­schein­lich. 1893 wur­de Gum­plo­wicz dann ordent­li­cher Uni­ver­si­täts­pro­fes­sor der Ver­wal­tungs­leh­re und des Öster­rei­chi­schen Ver­wal­tungs­rech­tes. Der Gip­fel sei­ner aka­de­mi­schen Lauf­bahn war erklom­men. Zu die­sem Zeit­punkt lagen sei­ne Haupt­wer­ke bereits vor und wur­den nun in zahl­rei­che, ins­be­son­de­re roma­ni­sche Spra­chen über­setzt. 1893 zähl­te Lud­wig Gum­plo­wicz zu den ers­ten Mit­glie­dern des unter der Ägi­de von René Worms ste­hen­den Insti­tut Inter­na­tio­nal de Socio­lo­gie in Paris, dem im Lau­fe der Jah­re nahe­zu die gesam­te inter­na­tio­na­le Pro­mi­nenz der frü­hen Sozio­lo­gie (im wei­tes­ten Sin­ne auf­ge­faßt) ange­hör­te. Die per­sön­li­chen Kon­tak­te in der Wis­sen­schaft beschränk­ten sich jedoch im wesent­li­chen auf Gra­zer Kol­le­gen. Man dürf­te die­sen Lebens­weg als ganz unspek­ta­ku­lär betrach­ten, wenn er nicht am 19. August 1909 mit einem Selbst­mord geen­det hät­te, den der unheil­bar Erkrank­te zusam­men mit sei­ner Frau beging.

Gum­plo­wicz lehr­te und publi­zier­te in einer Ära, in der die Natur­wis­sen­schaf­ten durch spek­ta­ku­lä­re For­schungs­er­geb­nis­se sowie den prak­ti­schen Nut­zen, den sie für jeder­mann nach­voll­zieh­bar stif­te­ten, stil­bil­dend auch für ande­re Dis­zi­pli­nen waren. Bei ihm spie­gelt sich dies vor allem in sei­nem Ver­ständ­nis von Wis­sen­schaft wie­der: Akzep­tanz fin­det ein­zig die induk­ti­ve Metho­de, das Bemü­hen um die Ermitt­lung von Gesetz­mä­ßig­kei­ten auf der Grund­la­ge beob­acht­ba­rer Tat­sa­chen. Die­sem Anspruch meint er auf sei­nem For­schungs­ge­biet zwar nicht durch Wägen und Mes­sen, wohl aber durch die Erfas­sung und Aus­wer­tung his­to­ri­schen und anthro­po­lo­gi­schen „Mate­ri­als” gerecht wer­den zu kön­nen. Über die Metho­de hin­aus deter­mi­niert der durch die Natur­wis­sen­schaf­ten inspi­rier­te, prag­ma­ti­sche Mate­ria­lis­mus, zu dem sich Gum­plo­wicz bekennt, was über­haupt als The­ma einer wis­sen­schaft­li­chen Betrach­tung des Staa­tes und des Rechts akzep­tiert wer­den kann: Da die beob­acht­ba­re Welt auch die ein­zig tat­säch­li­che ist, gibt es kei­ne letz­ten Zie­le und kei­ne aprio­ri­schen Nor­men, son­dern nur das, was die „Tat­sa­chen” sel­ber her­ge­ben. Da alles „Natur” ist, kann auch der Staat nichts ande­res als deren „Pro­dukt” sein. Aller­dings stellt er eine eige­ne „Sphä­re” dar, in der auch eige­ne Gesetz­mä­ßig­kei­ten zu kon­sta­tie­ren sind. Eine Über­tra­gung von Erklä­rungs­mus­tern ins­be­son­de­re aus der Bio­lo­gie auf die Sozio­lo­gie lehnt Gum­plo­wicz ab, ent­spre­chend scharf ist sei­ne Kri­tik an der „orga­ni­schen Staats­auf­fas­sung” sei­nes Zeit­ge­nos­sen Albert Schäffle.
Die Akteu­re des sozia­len Gesche­hens sind nach Auf­fas­sung von Gum­plo­wicz Grup­pen und nicht Ein­zel­ne. Das indi­vi­du­el­le Han­deln erscheint ihm nur als eine „opti­sche Täu­schung”. Das Bewußt­sein des Ein­zel­nen ist durch sei­nen sozia­len Kon­text qua­si voll­stän­dig deter­mi­niert, die Wil­lens­frei­heit eine Fik­ti­on. „In sei­nem Reden und Han­deln drückt das Indi­vi­du­um, ob es will oder nicht will, nur die Anschau­un­gen, Gesin­nun­gen und Ten­den­zen sei­ner Grup­pe aus.” Die „Ideen und Anschau­un­gen der Grup­pe” wie­der­um sind „Emana­tio­nen ihrer Lebens­in­ter­es­sen”, die nicht mit dem, was sie als ihre Zwe­cke aus­gibt, in Über­ein­stim­mung ste­hen müs­sen. Grup­pen stre­ben nicht danach, abs­trak­te Wert­vor­stel­lun­gen als Selbst­zweck durch­zu­set­zen, son­dern sind letzt­lich auf nichts ande­res als ein mög­lichst ange­neh­mes Leben ihrer Mit­glie­der aus.

Was „der Mensch” ist, erscheint Gum­plo­wicz als eine sozio­lo­gisch irrele­van­te Fra­ge­stel­lung. Aber auch die Grup­pe zeich­net er ledig­lich in abs­trak­ten, ja vagen Kon­tu­ren. Trotz sei­nes Bekennt­nis­ses zur Empi­rie als Vor­aus­set­zung einer Theo­rie­bil­dung unter­nimmt er kei­ne Ana­ly­se der zeit­ge­nös­si­schen Gesell­schaft, um in ihr die sozia­len Akteu­re zu iden­ti­fi­zie­ren. Statt­des­sen ent­wirft er ein his­to­ri­sches Ent­wick­lungs­mo­dell, an des­sen vor­ge­schicht­li­chen Anfän­gen Hor­den ste­hen, die, in men­schen­lee­ren Räu­men umher­schwei­fend, noch nicht in Kon­takt zuein­an­der getre­ten sind. Gum­plo­wicz hängt hier der Vor­stel­lung an, daß die Men­schen sich nicht auf einen ein­heit­li­chen Ursprung zurück­füh­ren las­sen, son­dern unab­hän­gig von­ein­an­der an unter­schied­li­chen Orten ent­stan­den sind (Poly­ge­nis­mus-Hypo­the­se). In die­sem (und nur in die­sem) Urzu­stand ist der Begriff der Grup­pe deckungs­gleich mit jenem der „Ras­se” im bio­lo­gi­schen Sinn. Dies ändert sich, sobald die ursprüng­li­chen, ega­li­tär struk­tu­rier­ten Grup­pen unter­ein­an­der „in Kon­takt” tre­ten und durch Unter­wer­fung zunächst bereits hier­ar­chisch orga­ni­sier­te Stäm­me und schließ­lich Staa­ten ent­ste­hen. Zusam­men­ge­hö­rig­keit oder Fremd­heit mögen einst rein anthro­po­lo­gi­sche Tat­sa­chen gewe­sen sein. In der bekann­ten Geschich­te sind sie aber sozi­al bestimmt. Es ist nicht die „ras­si­sche” Anders­ar­tig­keit des Frem­den, die den Ant­ago­nis­mus zwi­schen den Grup­pen zu einem natür­li­chen und nicht bloß zufäl­li­gen wer­den läßt, son­dern die Aus­sicht, jeman­den, zu dem es bis­lang kein Band gibt, dienst­bar zu
machen.
Mit der Unter­wer­fung der unter­le­ge­nen Grup­pe (im ent­wick­lungs­ge­schicht­li­chen Zustand der „Hor­de” bezie­hungs­wei­se des „Stam­mes”), das heißt, ihrer „Über­la­ge­rung”, ent­steht der Staat und mit ihm das Recht. Die­sen Pro­zeß unter­schei­det Gum­plo­wicz nach­drück­lich vom dar­wi­nis­ti­schen Sze­na­rio des sur­vi­val of the fit­test: Die Kon­kur­renz fin­det zwi­schen Grup­pen und nicht zwi­schen Indi­vi­du­en statt. Ihr Resul­tat ist kei­ne „Höher­ent­wick­lung”. Es sind nicht ihr inne­woh­nen­de natür­li­che Anla­gen, die den Erfolg einer Grup­pe bewir­ken, son­dern ihre über­le­ge­ne sozia­le Orga­ni­sa­ti­on. Eine dar­über hin­aus­ge­hen­de Qua­li­tät ist mit einer höhe­ren gesell­schaft­li­chen Posi­tio­nie­rung nicht ver­bun­den, die­se ist zudem bestän­dig durch die Beherrsch­ten in Fra­ge gestellt. Der „Sozi­al­dar­wi­nis­mus” stellt sich somit aus der Sicht von Gum­plo­wicz als eine Recht­fer­ti­gungs­ideo­lo­gie für Klas­sen­herr­schaft, nicht jedoch als ihre wis­sen­schaft­li­che Begrün­dung dar.
Mit dem Staat ent­steht kein neu­es Sub­jekt, das zwi­schen oder neben die sozia­len Grup­pen (oder „oben” und „unten”) tre­ten und eige­ne Inter­es­sen ent­wi­ckeln und durch­set­zen wür­de. In sei­nen Anfän­gen ist er noch nicht ein­mal als eine Orga­ni­sa­ti­on greif­bar. Er ist viel­mehr der Begriff für eine sozia­le Bezie­hung: Sozia­le Grup­pen, die ursprüng­lich von­ein­an­der unab­hän­gig exis­tier­ten, leben nun­mehr in einer Ver­bin­dung, die dadurch gekenn­zeich­net ist, daß die einen herr­schen und die ande­ren beherrscht werden.

Die Erobe­rung, unter­stellt Gum­plo­wicz, zielt nicht allein dar­auf ab, Land unter Kon­trol­le zu bekom­men, son­dern bezweckt vor allem, Men­schen zu unter­wer­fen, die auf die­sem Land für die neu­en Herr­scher arbei­ten sol­len. Des­halb brin­gen die Erobe­rer die Unter­wor­fe­nen auch nicht um, son­dern zwin­gen sie in den Staat. Die­se Kon­stel­la­ti­on ist, ein Stre­ben nach Selbst­er­hal­tung vor­aus­ge­setzt, für die Unter­wor­fe­nen alle­mal bes­ser als der Tod, den sie bei einer Ver­wei­ge­rung gewär­ti­gen müß­ten. In den Anfän­gen des Staa­tes kön­nen die Beherrsch­ten, obwohl sie sich am Tief­punkt ihrer sozia­len Macht befin­den, bereits ein Recht wahr­neh­men, das ihnen durch die „Ent­schei­dung” der Erobe­rer, es zum Staat kom­men zu las­sen, aus deren eige­nem Inter­es­se her­aus kon­ze­diert wur­de: das Recht auf phy­si­sche Exis­tenz und ein Exis­tenz­mi­ni­mum zur Repro­duk­ti­on der Arbeits­kraft. Die­ses Exis­tenz­mi­ni­mum ist sozu­sa­gen die Aus­gangs­ba­sis, von der aus die Beherrsch­ten suk­zes­si­ve wei­te­re Rech­te hin­zu­ge­win­nen. Zum Staat kommt es somit, in Abwei­chung von klas­si­schen ver­trags­theo­re­ti­schen Vor­stel­lun­gen, nicht durch freie Über­ein­kunft der Indi­vi­du­en, sei sie durch die Not eines „Kamp­fes aller gegen alle” erzwun­gen oder nicht, son­dern schlicht durch die Unter­wer­fung einer Grup­pe (im Urzu­stand) durch eine ande­re. Dies ist der „ereig­nis­ge­schicht­li­che” Grund dafür, daß Recht, Gum­plo­wicz zufol­ge, ohne Ungleich­heit nicht vor­stell­bar ist. Die­ses Recht ist so dyna­misch wie der Staat selbst: In ihm enden die sozia­len Kon­flik­te nicht, sie fin­den nur einen Rah­men. Die Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen den sozia­len Grup­pen kön­nen zu neu­en Kräf­te­kon­stel­la­tio­nen und damit auch zu neu­em Recht füh­ren. Es gibt folg­lich kein über­zeit­li­ches, son­dern nur situa­tiv gebun­de­nes Recht, das den kei­nes­wegs har­mo­ni­schen modus viven­di zwi­schen den sozia­len Grup­pen in einem Staat beschreibt.
Die Aus­bil­dung sozia­ler Grup­pen endet nicht mit der Ent­ste­hung von „oben” und „unten” durch „Erobe­rung” und „Unter­wer­fung”. Neue sozia­le For­ma­tio­nen erschei­nen auf dem Plan – sei es, daß sie „ins Land geru­fen” wer­den, sei es, daß sie sich aus­dif­fe­ren­zie­ren. Dadurch ent­ste­hen neue Lini­en, ent­lang derer Aus­ein­an­der­set­zun­gen geführt wer­den. Das Bild des Staa­tes ver­liert den dicho­to­mi­schen Cha­rak­ter, den es ursprüng­lich hat­te. Bei aller wach­sen­den Kom­ple­xi­tät ver­wi­schen sich die hier­ar­chi­schen Züge aber nicht. „Volks­herr­schaft”, gar „Herr­schafts­frei­heit” sind nicht mög­lich, jeden­falls nicht im Rah­men des Staa­tes, des­sen Cha­rak­te­ris­ti­kum die Herr­schaft weni­ger über vie­le bleibt. Die Abschaf­fung der Klas­sen und ihres Gegen­sat­zes wäre gleich­be­deu­tend mit der Abschaf­fung des Staa­tes und der Begrün­dung von Anar­chie. Dies jedoch kann, so Gum­plo­wicz, kei­nes­wegs als „mora­li­scher Fort­schritt” ange­se­hen wer­den, son­dern ist im Gegen­teil sogar als ein Rück­schritt auf­zu­fas­sen, da der Staat, unbe­scha­det der in ihm zum Aus­druck kom­men­den Herr­schafts­ver­hält­nis­se, eine „Kul­tur­leis­tung” dar­stellt – nicht zuletzt ver­dankt ihm ja auch das Recht sei­ne Entstehung.
Der „mora­li­sche Fort­schritt” liegt für Gum­plo­wicz also nicht dar­in, daß die Staats­ent­wick­lung etwa zu mehr Par­ti­zi­pa­ti­on, zur Gleich­heit der Staats­bür­ger oder gar der Auf­he­bung von Herr­schaft über­haupt stre­ben wür­de, son­dern in einer wach­sen­den Hegung der sozia­len Aus­ein­an­der­set­zun­gen. Die Gegen­sät­ze blei­ben, doch sie wer­den mehr und mehr in zivi­li­sier­ter Form ausgetragen.

Die Theo­rie des Rechts­staa­tes, deren mus­ter­gül­ti­ge und abschlie­ßen­de For­mu­lie­rung er Robert von Mohl zuschreibt, deu­tet Gum­plo­wicz als einen Kom­pro­miß zwi­schen den bei­den ant­ago­nis­ti­schen Prin­zi­pi­en der (abso­lu­tis­ti­schen) Herr­scher­sou­ve­rä­ni­tät und der (demo­kra­ti­schen) Volks­sou­ve­rä­ni­tät. Ihr zufol­ge grün­de die Herr­schaft nicht im Herr­scher, son­dern im Staat, der das Recht als ihren Zweck bestimmt und ihr damit die Gren­zen setzt. Das Recht, das den Herr­schen­den zur Durch­set­zung auf­ge­ge­ben ist, steht auch über ihnen selbst. Ihnen die Befug­nis ein­zu­räu­men, nach Belie­ben mit ihm zu ver­fah­ren, wäre somit para­dox. Der Ver­such, den Staat den sozia­len Aus­ein­an­der­set­zun­gen zu ent­zie­hen, ihn über die Par­tei­en zu stel­len und ihm die Ver­wirk­li­chung des Rechts und damit ein allen sei­nen Ange­hö­ri­gen gemein­sa­mes Inter­es­se als Zweck auf­zu­ge­ben, grün­det dabei auf dem Ega­li­täts­prin­zip. Die­ses aber, so Gum­plo­wicz, ist mit dem Wesen des Staa­tes unver­ein­bar und somit rea­li­täts­fremd. Der Staat sei näm­lich kei­ne Insti­tu­ti­on, die unab­hän­gig von den sozia­len Ant­ago­nis­men bestün­de und gar um deren Auf­he­bung bemüht sein könn­te. Als ein Instru­ment der Herr­schen­den – hier wen­det sich Gum­plo­wicz ins­be­son­de­re gegen die Auf­fas­sung von Lorenz von Stein – ist er viel­mehr selbst Par­tei. An die­ser Rea­li­tät des Staa­tes kann, so Gum­plo­wicz, kei­ne Poli­tik und auch kei­ne Theo­rie etwas ändern. Die Rechts­staats­theo­rie behel­fe sich mit der Vor­stel­lung einer Staats­per­sön­lich­keit: Es sei­en nicht bestimm­te Men­schen, die gegen­über ande­ren bestimm­ten Men­schen das Sagen hät­ten, son­dern der Staat als eine Insti­tu­ti­on im Inter­es­se aller, der die Geset­zes­herr­schaft über alle durch Beauf­trag­te aus­üben las­se. Zur Über­par­tei­lich­keit gelan­ge der Staat aber letzt­lich nicht ein­mal in der Jus­tiz. Die Gleich­heit vor dem Gesetz sei allen­falls im Pri­vat­recht mög­lich. Nur hier tre­te der Staat nicht als Par­tei auf, son­dern sei bestrebt, durch sein Macht­wort anders nicht zu fin­den­de Ent­schei­dun­gen her­bei­zu­füh­ren, um den inne­ren Frie­den aufrechtzuerhalten.
Bereits die phi­lo­so­phi­schen Grund­la­gen der Rechts­staats­theo­rie beru­hen nach der Auf­fas­sung von Gum­plo­wicz auf „Irrt­hü­mern und Täu­schun­gen”. Es gebe kei­nen Mecha­nis­mus, der ein glei­ches Maxi­mum an Frei­heit für alle Indi­vi­du­en pro­du­zie­ren könn­te. Die Frei­heit der meis­ten sei durch die Herr­schaft der weni­gen beschränkt, die Gleich­heit eine aus reli­giö­sen Vor­stel­lungs­wel­ten stam­men­de Fik­ti­on, die an der Wirk­lich­keit des Staa­tes schei­te­re. Die „Prä­mis­sen der ‚unver­äu­ßer­li­chen Men­schen­rech­te‘ beru­hen auf der unver­nünf­tigs­ten Selbst­ver­göt­te­rung und Über­schät­zung des Wer­tes des Men­schen und sei­nes Lebens, und auf voll­kom­me­ner Ver­ken­nung der ein­zig mög­li­chen Grund­la­ge der Exis­tenz des Staates.”

Die Uto­pie des Rechts­staa­tes fin­det, so die Auf­fas­sung von Gum­plo­wicz, ihre nicht min­der uto­pi­sche Voll­endung im Sozia­lis­mus. Die Ver­pflich­tung auf poli­ti­sche Freiheits‑, Gleich­heits- und gar Mit­wir­kungs­rech­te aller muß jeden rea­len Staat über­for­dern. Poli­ti­sche Frei­heit und recht­li­che Gleich­heit mögen kon­sti­tu­tio­nell ver­bürgt und sogar demo­kra­ti­sche Par­ti­zi­pa­ti­on unter Anwen­dung des Majo­ri­täts­prin­zips zuge­las­sen sein. Es herr­sche den­noch wei­ter­hin eine Min­der­heit – und dies kön­ne auch gar nicht anders sein. Die sys­te­ma­ti­sche Dis­kre­di­tie­rung der beschwo­re­nen Prin­zi­pi­en durch die Rea­li­tät läßt sich nicht ver­ber­gen. Allen theo­re­ti­schen Bemü­hun­gen, einen ein­mal erreich­ten staat­li­chen Zustand als den Rechts­staat aus­zu­ge­ben und damit die 1789 begon­ne­ne Revo­lu­ti­on für been­det zu erklä­ren, man­gelt es an Glaub­wür­dig­keit. Die sozia­lis­ti­sche Kri­tik hat leich­tes Spiel, und sie kann vor allem eine plau­si­ble Ursa­che dafür iden­ti­fi­zie­ren, daß poli­ti­sche Frei­heit und recht­li­che Gleich­heit bis­lang noch nicht mit Leben erfüllt wur­den: die mate­ri­el­le Ungleichverteilung.
Gum­plo­wicz macht sich die­sen Ein­wand zu eigen. In sei­ner Aus­ein­an­der­set­zung mit den sozia­lis­ti­schen Autoren unter­schied­lichs­ter Pro­ve­ni­enz folgt er ihnen, solan­ge sie den ver­meint­lich eta­blier­ten Rechts­staat als das vor­füh­ren, was er auch nach sei­ner eige­nen Auf­fas­sung ist: ein Klas­sen­staat. Bereits die kri­ti­sche Inten­ti­on, die er mit die­ser „Ent­hül­lung” ver­bin­det, weicht jedoch von jener der Sozia­lis­ten a. Nicht der tat­säch­li­che Staat steht unter Recht­fer­ti­gungs­zwang, selbst wenn es mäch­ti­ge Inter­es­sen sein mögen, die sich wei­ter­ge­hen­den Ver­su­chen einer Rea­li­sie­rung des Rechts­staa­tes wider­set­zen. Es ist eine fal­sche, ihrer inne­ren Kon­se­quen­zen nicht mehr Herr wer­den­de Theo­rie, die es zu bean­stan­den gilt.
Die Feh­ler der Rechts­staats­theo­rie wer­den durch ihre Radi­ka­li­sie­rung im Sozia­lis­mus nicht auf­ge­ho­ben. Gum­plo­wicz wird nicht müde zu beto­nen, daß alle Hoff­nung, durch eine Umwäl­zung der Eigen­tums­ord­nung die Ver­spre­chen des Rechts­staa­tes end­lich ein­lö­sen zu kön­nen, ver­ge­bens ist. Die Begrün­dung, die er für sei­ne Skep­sis anführt, trägt jedoch durch­aus tau­to­lo­gi­sche Züge: Wenn als das Wesen des Staa­tes eine Ungleich­ver­tei­lung von Eigen­tum, Macht und poli­tisch rele­van­ten Rech­ten ange­se­hen wird, so wäre eine Rea­li­sie­rung der sozia­lis­ti­schen Uto­pie gleich­be­deu­tend mit sei­ner Auf­lö­sung. Zwar ver­ge­hen ein­zel­ne Staa­ten, und die­ses Schick­sal ist genau­ge­nom­men sogar jedem von ihnen irgend­wann ein­mal beschie­den. An ihre Stel­le tre­ten jedoch stets ande­re (oder neue) Staa­ten, die wie­der­um auf Ungleich­heit basieren.

Hin­zu tritt aller­dings eine sozu­sa­gen funk­tio­na­le Begrün­dung. Der Staat ist zwar kei­nes­wegs einem fik­ti­ven Gemein­wohl, son­dern zunächst den Inter­es­sen der Herr­schen­den ver­pflich­tet. Er führt damit jedoch zugleich die Ent­schei­dung über die Ver­tei­lung der knap­pen Güter und – nicht zuletzt – der Arbeit her­bei und erfüllt damit eine objek­ti­ve Auf­ga­be, deren Bewäl­ti­gung in aller Inter­es­se ist. Unter den Bedin­gun­gen eines rea­li­sier­ten Rechts­staa­tes in sozia­lis­ti­scher Voll­endung müß­te die­se Ent­schei­dung im Kon­sens erfol­gen. Dies ist aber, Gum­plo­wicz zufol­ge, grund­sätz­lich nicht vor­stell­bar, da der Bedarf stets die zur Ver­fü­gung ste­hen­den Mit­tel der Bedürf­nis­be­frie­di­gung über­steigt und das Bemü­hen, der zumeist unan­ge­neh­men Arbeit aus­zu­wei­chen, nicht aus der Welt zu schaf­fen ist. Nicht die Gesell­schaft orga­ni­siert von sich aus auf der Grund­la­ge dezen­tra­ler Wirt­schafts­plä­ne die Arbeits­tei­lung, son­dern der Staat ist deren Demiurg.
Der Sozia­lis­mus ist als Grup­pen­zweck eine sozia­le Tat­sa­che, daher aber auch, so falsch er, als Theo­rie ver­stan­den, sein mag, wis­sen­schaft­lich nicht zu „wider­le­gen”. Die „sozio­lo­gi­sche Staats­auf­fas­sung” ver­mag dies zu erken­nen, letzt­lich aber nicht zu beein­flus­sen, da die Geschich­te per se nicht durch Ideen bewegt wird. Den­noch ver­knüpft Gum­plo­wicz mit ihr eine Hoff­nung: Die Kri­tik des „fal­schen Bewußt­seins” ver­mag die in der Geschich­te ange­leg­te Ten­denz zu ent­schie­de­ne­rer Wir­kung zu brin­gen, indem unnö­ti­ge Umwe­ge und aus ihnen resul­tie­ren­de Erfah­run­gen anti­zi­piert wer­den. Gum­plo­wicz und Marx kom­men hier, in der Fra­ge nach der Funk­ti­on von Wis­sen­schaft in einer sich unab­hän­gig von ihrer Erkennt­nis voll­zie­hen­den Geschichts­ent­wick­lung zu einer ver­gleich­ba­ren Antwort.
Gum­plo­wicz ist bereits zu Leb­zei­ten über­wie­gend als ein Außen­sei­ter wahr­ge­nom­men wor­den. Dies liegt in der Kon­se­quenz sei­ner Metho­de, sei­nes Stils der Aus­ein­an­der­set­zung und nicht zuletzt der von ihm ver­tre­te­nen Auf­fas­sun­gen. Jene sozio­lo­gi­sche Grün­der­ge­nera­ti­on, die ab den 1890er Jah­ren peu à peu die Insti­tu­tio­na­li­sie­rung und Eta­blie­rung der neu­en Dis­zi­plin voll­brach­te, war in der Regel min­des­tens zwei Jahr­zehn­te jün­ger als er und ver­or­te­te die Sozio­lo­gie nicht mehr unter den Natur‑, son­dern – im Ban­ne von His­to­ris­mus, Her­me­neu­tik oder Neu­kan­ti­a­nis­mus ste­hend – den Geis­tes­wis­sen­schaf­ten. Die Über­set­zung ein­zel­ner Wer­ke ins Pol­ni­sche, Fran­zö­si­sche, Spa­ni­sche, Rus­si­sche, Eng­li­sche, Ita­lie­ni­sche und selbst Japa­ni­sche doku­men­tiert, daß Gum­plo­wicz zeit­ge­nös­sisch inter­na­tio­nal rezi­piert wor­den ist. Eine beson­de­re Inten­si­tät hat­te das Echo in den USA, hier ist ihm bis in die zwei­te Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts hin­ein gro­ßes Gewicht bei­gemes­sen wor­den. Eine Schu­le hat Gum­plo­wicz nicht begründet.

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