da erreichten mich die Breaking news des Montagabends und mit der Ruhe war es aus.
Den Abend lang verfolgte ich anderer Leute Twitteraktivitäten und Newsticker der großen Medienseiten. „Wir sind im Herzen bei den Opfern“, „#prayforberlin“, „Eine unerklärliche Katastrophe“. Spätestens mit dieser Merkeläußerung wurde ich wütender und begann, mich laut zu ärgern. H., im Sessel eine Augustusbiographie lesend, hörte sich das an und meinte: „Es ist doch noch viel zu früh, um irgendwelche Zusammenhänge herzustellen.“
Oh doch, „irgendwelche Zusammenhänge“ drängten sich mir schon auf, es seien doch (wie AfD-Pretzell pointiert getwittert hatte) „Merkels Tote“, sowie daß es gerade diese Haltung des „Erstmal-Abwartens“ sei, die exakt diese Katastrophe miterzeugt hätte.
H. war entsetzt, wir müßten doch jetzt Besonnenheit und Vernunft zeigen, statt vorschnell zu urteilen. Immer urteilte ich nach meinem Vorurteil im Leibe, ich nutzte das Vorurteil im Leibe (Claudia Schmölders) wie einen Schneepflug, um mir Erfahrungen vom Leib zu halten.
Ich entgegnete, daß es ja nicht um ein juristisch verifiziertes, abschließendes Urteil über den Tathergang gehen könnte, sondern um Einordnung, Umrißlinien, unabweisbare Fragestellungen. Doch H. blieb dabei: „Du fragst ja nicht, du urteilst gleich!“
„Diese unglaubliche Heuchelei ist doch derart aufdringlich, daß ich mich eines Urteils schwer entschlagen kann.“ H.: „Heuchelei? Warum soll das Heuchelei sein?“ Ich, ratloser, weil es so offenkundig schien, versuchte zu erklären, warum das Mitleid mit den Opfern doch wirklich reine moralische Fassade sei, wenn die jetzt Ach-so-Betroffenen Mitschuld trügen.
H. fand das vollkommen hanebüchen, warum sollte es kein Mitleid sein, das Merkel, Maas, Juncker, Hollande, Van der Bellen und Co. öffentlich zeigten?
Wenn ich jede menschliche Regung gleich einem Unaufrichtigkeitsverdacht unterzöge, wäre ich ganz rasch bei meinen Verschwörungstheorien. Es muß auch nach Nietzsche möglich bleiben, daß Mitleid Mitleid ist und kein Ressentiment.
Mitleid also. Mitleid schreibt keine Ursachen zu, keine Schuld, keine psychologischen Motive, es leidet nur.
Ich: „Aber es ist doch Merkels Schuld, also nicht ihre allein, aber als Hauptverantwortliche und Symbolfigur des letzten Sommers.“ H.:“Diese Kausalität ist doch viel zu kurz, mir ist dieses kurzschrittige Denken zu einfach. Die Ursache ist doch, und das weißt du ganz genau, eigentlich der Kolonialismus.“
Ich gab zu bedenken – inzwischen hatten wir disputierend Zähne geputzt, gar nicht so leicht, und das Licht ausgemacht, es ging auf Mitternacht zu –, daß wir jetzt natürlich Kausalketten ad infinitum stricken könnten, um jede Teilschuld in größere historische Zusammenhänge einzubinden.
„Ja wären die Europäer nicht in Afrika als koloniale Herrenmenschen aufgetreten, hätten wir jetzt nicht die Migrationsströme. Denk an Holland, wo die Surinamer befreit worden sind und dann zehn Jahre lang holländische Pässe beantragen konnten, was sie alle getan haben, und dann kamen sie in die Niederlande, und dann hatte ich sie alle in Bijlmermeer.“
Bijlmermeer ist eine Plattenbausiedlung zwischen Utrecht und Amsterdam, wo die städteplanerische Integrationsutopie schon in den 80er Jahren schiefgegangen war, H. hatte dort eine Zeitlang zwischen Ausländern und Resozialisierungsverrückten gelebt, weil die Wohnungen groß und billig waren.
Ich: “Aber der heutige Terroranschlag …“ H. sinnierte, es könnte doch auch ein Unfall gewesen sein, das wäre ja überhaupt genial, wenn alle unsere Hoffungen wie eine Blase zerplatzen würden. Ich, deutlich zwischenirritiert von dem Wort „Hoffnungen“, nahm mein Argument wieder auf.
„Aber der heutige Terroranschlag hat doch prima facie nichts mit dem Kolonialismus zu tun. Wenn ich mich auf letzten Sommer beziehe für Deutschland und Österreich und Skandinavien, und für Frankreich vielleicht fünf bis zehn Jahre massiven Großen Austausch ansetze, dann suche ich nach direkten Ursachen, und dann komme ich auf Merkels Schuld.“
H. blieb bei der Schuld des Kolonialismus und meinte, die Europäer würden eben durch die historische Herrschaft in ihren Kolonien jetzt die Folgen ernten, und daß diese katastrophal seien, wäre uns doch beiden klar, und daß der Integration Grenzen gesetzt seien. Smallest common denominator, ja eh.
H.: “Und in den Kolonien hat das ja funktioniert mit den Völkern, die jetzt zu uns kommen.“ Ich: “Hah, ja, funktioniert! Das war doch knallharte Beherrschung. Ich mein’, dein Argument ist doch so richtig fies rassistisch, wenn du annimmst, daß diese Völker funktionieren, wenn sie beherrscht werden, und andere müssen sie eben zum Funktionieren bringen, indem sie herrschen.“
H., im Dunkeln neben mir, so daß mir unklar war, ob das Ironie sein sollte, prosodische Merkmale der Rede waren kaum merklich: „Es gibt eben Völker, die nur funktionieren, wenn sie beherrscht werden, so wie die Deutschen. Immer, wenn die Deutschen nicht beherrscht wurden, haben sie in der Geschichte Schreckliches angerichtet, und seit 1945 ist Frieden.“
Vielleicht ist das ja der Grund dafür, daß diese Migranten so gut hierher passen, dieser ihnen innewohnende Insubordinationstrieb? Das glaube er ja wohl selber nicht, entgegnete ich, und er solle mir lieber mal sagen, warum er vorhin gesagt habe, ich würde drauf hoffen, daß es ein Terroranschlag gewesen wäre.
„Ja, das hoffen wir doch alle.“ Auch hier wieder Ironieverdacht, denn natürlich keimte in mir der Gedanke der Bestätigungslust, des Rechtgehabthabenwollens, aber doch nicht in ihm?
H.: “Ja, alle hoffen, daß solche Anschläge passieren, weil dann alles so leicht erklärbar ist und der Islam der Gegner. Und für euch ist es auch noch Wasser auf eure Mühlen.“
Halt mal, stop mal. Glaubte er wirklich, ich würde in einem nichtpathologischen Sinne wünschen, daß Terroranschläge in Europa passierten? Das ist doch erstmal zynisch, und nicht die Schuldzuschreibung an Angela Merkel.
Ich: “Man muß aber schon zweierlei unterscheiden: sich zu wünschen, daß diese Taten mit diesen Toten in unserer Heimat passieren, und zu wünschen, daß es richtig kracht, damit die traumtänzerische Herrschaftselite endlich aufwacht.“
„Bei manchen Leuten kann man das in ihrem Motivhaushalt aber wirklich kaum noch unterscheiden“, murmelte H., „daß du kriegslüstern bist, ist mir ja schon länger klar“. Und schlief neben der kriegslüsternen Gattin friedlich ein.
Kurier von heute zu Pretzells „Merkels-Tote“-Tweet:
Der Zynismus dieser Worte ist schwer zu überbieten. Er ignoriert nicht nur die Opfer, er gibt auch den Tätern genau das, was sie wollen: Nicht sie sind am Terror schuld, nicht sie tragen Hass in die Gesellschaft, sondern jene, die für Staatsräson und Offenheit plädieren. Eine verquere Sicht, mit der die Rechtspopulisten und ihre Fans sich zum willigen Werkzeug der wirklichen Täter machen. Was es jetzt braucht, sind keine pubertären Fingerzeige nach innen, sondern Besonnenheit und Geschlossenheit nach außen.
Jene, die „für Staatsräson und Offenheit plädieren“, tragen sehr wohl die Schuld und heucheln Mitleid, heucheln Besonnenheit, heucheln Versöhnlichkeit. Schuld sind sie genau durch diese „Besonnenheit“, diese „Staatsräson“ und diese „Offenheit“, deren Wortsinn zynisch verkehrt wird. Das ist doch die „verquere Sicht“!
Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte […] nur auszusprechen, [denn] die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze. (Hugo von Hofmannsthal: Brief des Lord Chandos)
Diese Haltung der Verantwortungsträger ignoriert die Opfer, weil es ihnen nur um ihr eigenes moralisches Gesicht geht. Das Argument, „Rechtspopulisten“ würden zum Werkzeug der Islamisten, ist nur dann gültig, wenn man annehmen dürfte, daß es just diese seien, die die Gesellschaft durch ihre Sätze spalteten und den „Haß“ erst generierten.
Beweislastumkehr: Wer heute sagt, der politische Gegner sei ein Spalter dadurch, daß er erstens der politische Gegner sei (Einigkeit statt Gegnerschaft ist per se netter) und zweitens das häßliche Phänomen, das er benenne, überhaupt erst erzeuge, muß dies beweisen.
Denn daß „Rechtspopulisten“ Terroranschläge herbeiwünschten und ausschlachteten und „instrumentalisierten“, geht genau von der Ununterscheidbarkeit der Motive aus, die H. mir unterstellte. Zum „Instrumentalisieren“ von Ereignissen durch „Zuschreibung“ an bestimmte Gruppen hat Klonovsky das Nötige bereits im September gesagt.
Von dem stammt auch der Satz, Kassandra sei für den fortschrittlichen Trojaner eine „populistische Hetzerin“.
Meine Zukunftsperspektive, anscheinend zu wissen, wie sich die Dinge, extrapoliert man von heute aus, entwickeln werden, gern in Sätzen vorgebracht, die mit „Ihr werdet noch sehen …“, „Das war erst der Anfang …“ und „Nicht jetzt und hier, aber bald …“, findet H. außerordentlich überspannt. Philosophische Gelassenheit wäre doch nun wirklich was anderes!
H. hält mir „meinen“ Doderer entgegen – diese Katastrophensehnsucht sei ein Paradebeispiel für „Apperzeptionsverweigerung“. Nur: besonnenes Beobachten und die antike Tugend der Epoché (etwa: Urteilsenthaltung) sind dieser Tage die falschen Tugenden, fürchte ich.
Daß man sich damit „zum willigen Werkzeug der wirklichen Täter“ (Evelyn Peternel im zitierten Kurier) mache, behaupte ich nicht, denn dieses Argument war ja schon in den Händen der politischen Gegner verkehrt. Nur soviel: Beherrschung kann zweierlei bedeuten: Stoizismus und Unterwerfung.
Monika
Wenn einer sieht, daß der andere die Dinge, über die er mit ihm redet, überhaupt nicht sieht, dann soll er mit dem Reden aufhören.
Theodor Haecker, Tag-und Nachtbücher
Mitleid, Unerklärliches, Beherrschung... darüber möchte ich gerne im neuen Jahr reden. Ansonsten wünsche ich allen ein schweigsames Weihnachten.
Be-Sinn-lichkeit. Und Zwitschern sollten nur die Vögel im Vogelhäuschen.