Essen, den 4. März 2016
Sehr geehrter Herr Kubitschek,
des einen Programm ist des anderen ideologischer Ramsch, geschenkt, so viel Toleranz muss sein, und vom Vergleichen werden sie mich kaum abbringen, wohl eine déformation professionelle, die Sie ja gleich mit Ihrem Exkurs zur KR angenommen haben. Auf das Gesellschaftsexperiment, wie sie die Einwanderung nennen, kommen wir sicher noch einmal gesondert zurück, da haben wir sicher die größten Unterschiede. Und »Multikulti« war eine Jazzband aus erklärten Bastarden, die Ironie dieser Übernahme ist weder links noch rechts verstanden worden.
Heute komme ich lieber auf die Bestände zu sprechen, die sich dem Experiment der pluralen Auflockerung einer vorgestellten Homogenität ihrer Meinung nach verweigern. Da interessiert mich erst mal nicht Unverträglichkeit (der Transplantation) und Durchsetzungswucht (der Migranten, der Alteingesessenen?), sondern Glaube. Damit meinen sie wohl nicht irgendeinen und auch nicht den der anderen, sondern den, der Pegida den Namen gegeben hat und als christlicher das angeblich auf dem Spiel stehende Abendland einmal ausgemacht hat. Das ist lange her und auch der Glaube der meisten Muslime ist weit weniger unverbrüchlich, stark und dogmatisch, als er scheint und ausgemalt wird. Die Glaubensferne der Islamkritiker ist ein Problem, weil sie religiös unmusikalisch sind, was der Soziologie gut tun mag, aber eben nicht der diskursiven Auseinandersetzung, die beiderseits von primitiven Stereotypen geprägt ist. Die pauschale Rede von „dem Islam“ bestärkt im Übrigen auf unheilvolle Weise den Anspruch der Salafisten, sie verkörperten den „wahren Islam“. Was grober Unfug ist, aber so schaukeln sich fanatische Muslime und fanatische Gegner in ihren weitgehenden Unkenntnis und Verdrehung des „Gegenstands“ gegenseitig hoch.
Ich sage das als jemand, der zu wissen meint, was Glauben ist, nicht als der Atheist oder Agnostiker, aus dem die Pegida-Bewegung erwiesenermaßen zum überwältigenden Teil besteht. In Pegida-Kreisen ist man gegen Islamisierung, aber nicht für Jesus Christus. Dort gibt es beides wenig: Christen UND Fremde. Das wäre mal ein Gesellschaftsexperiment für Kath.net und IDEA, dem Volksaufstand von heute eine christliche Note zu geben!
Mehr als die Christlichkeit der Abendländler (ein Titel, der Armin Mohler in den 1950er Jahren zu sardonischem Lachen provoziert und seine Kritik am Gärtnerkonservatismus Konrad Adenauers unterstützt hat) ist die Frage, wie Sie (um nicht indiskret nach Ihrem persönlichen Bekenntnis zu fragen) das Christliche beurteilen. Das Christentum unterstützt gerade nicht eine nationalistische Weltanschauung, da muss ich Ihnen nur seine Auffassung der grenzüberschreitenden Menschenwürde ins Gedächtnis rufen, wozu der Vorrang der individuellen Freiheit vor jedweder profanen Gemeinschaft gehört. Dahin geht die katholische Verschärfung.
Und wenn Christen historisch allzu oft auf der falschen Seite standen, wie die staatstreuen Protestanten unter Hitler, oder opportunistisch schweigt, wie der Vatikan zum Mord an den europäischen Juden, oder so borniert agiert wie immer neue Kleriker und Gemeinden, dann spricht das grundsätzlich nicht gegen den Transnationalismus der Religionen. Mit Recht schalten die Domherren das Licht aus, wenn sich Pegida vor ihren Häusern versammelt, und diese authentischeren Vertreter des Abendlandes gehören nicht zufällig zu denen, die Asyl gewähren, Flüchtlinge willkommen heißen und für den angeblichen Verfassungsbruch von Frau Merkel Stellung nehmen.
Abweichende Meinungen im Kirchenvolk sind mir bekannt, aber die sich da in Dresden versammeln, gehören kaum dazu (lassen wir Pfarrer Weißflog mal beiseite), weil ihnen eine religiöse Erziehung, Unterweisung und Herzensbildung niemals zuteil geworden ist. Wenn Sie die „Betreiber des Staatsstreichs“ und dabei die institutionell Verantwortlichen ins Visier nehmen wollen, müssen Sie sich auch einige Bischöfe und viele Kirchenfunktionäre vornehmen, die den arroganten staatlichen Souveränitätsanspruch wie den kulturellen Homogenitätsanspruch weltweit auch in anderen Fragen unterlaufen.
Für die in der Sezession ironisierte religiöse Frage heißt das: ein deutsches Christentum (NS, analog Polen, LePens Jean d’Arc)? Abendland ohne Juden (Weißmann)? Neu-Neuheidentum (NR 2.0)? Esoterik, Okkultismus à la Evola, Dugin et al.? Nur Islampolemik (Humanistische Union)? Oder strikte Trennung von Staat und Kirche (III. Republik, Jefferson)? Vermutlich alles nicht. Warum dann nicht „religiöser Supermarkt“ (Ruthven).
Gruß
Claus Leggewie
Schnellroda, 28. III. 2016
Sehr geehrter Herr Professor Leggewie,
heute ist Ostermontag, das Geschäft ruht, ich kann endlich antworten. Als Verleger, der seine Autoren sehr ernst nimmt, viel von ihnen lernt und Manuskripte nicht nach Rendite ablehnt oder annimmt, kann ich für das von Ihnen nun neu eröffnete Thema das großartige Buch Kann nur ein Gott uns retten? von Martin Lichtmesz empfehlen – wir haben es 2014 publiziert. Bevor ich daraus zitiere, folgende Grundsätzlichkeiten: Sie haben recht, wenn Sie einem großen Teil der PEGIDA-Bewegung und vor allem den Protagonisten selbst das in Stellung gebrachte “Abendländische” dort absprechen, wo es auf gelebtem Christentum sich gründen müßte. Diejenigen PEGIDA-Köpfe, die dieses Dilemma sehen, versuchen radikal religionskritisch, also strikt aufklärerisch und kantisch zu argumentieren – ein Versuch, über den ich lächle, weil er der (in Teilen extrem mobilisierungsgeeigneten) Hyperidentität islamischer Glaubensausprägungen nurmehr die dürre Vernunft und das trockene Papier entgegenzusetzen hat und sich selbst die dringend notwendige Rückbindung an ein nicht Verhandelbares abschneidet. Aber dennoch: Selbst unsere PEGIDA-Kantianer sind ja historisch christlich eingebettet, können das christliche Abendland als Identitätskorsett nicht abstreifen und denken und handeln im Großen und Ganzen innerhalb eines christlich durchwirkten Kulturraums. Unbewußt christlich, so könnte man das nennen. Und es ist schade: Wahrhaft christlich bekäme die Verteidigung des Abendlandes eine ganz andere geistige Wucht, eine selbstsichere Identität, und zwar ohne, daß man dadurch Religion und Politik planmäßig aufeinander setzen müßte. Dieses Aufeinandersetzen würde vielmehr dem Glauben seinen durch das Politische nie erreichbaren Raum nehmen und die Religion zu einem strategischen Baustein herabwürdigen.
Nichts anderes macht man auch dann, wenn man die multikulturalistische Politik der offenen Grenzen durch die christliche Religion (fast immer in einer säkularen, also dogmatisch entschärften und aufklärerisch angepaßten Fassung) legitimieren will, oder mit ihrer Hilfe deren Gegnern ein schlechtes Gewissen machen oder sie moralisch erpressen will.
Zu alledem nun Lichtmesz, der in dem Kapitel »Die Ohnmacht der christlichen Nächstenliebe« die von Ihnen aufgebrachten Fragestellungen nicht zu beantworten, sondern in ihrem historischen Wandel als Dilemma zu beschreiben versucht – nicht ohne unaufgelösten Rest.
Lichtmesz argumentiert – erwartbar! – mit Arnold Gehlen und dessen strenger Unterscheidung zwischen familiärem Ethos und Staatsethos oder Hausmoral und politischer Moral. Der heute herrschende Humanitarismus vermenge beide Bereiche zum Schaden der politischen Sphäre, und natürlich sei auch diese Ideologie eine säkularisierte religiöse Kategorie. Lichtmesz: »Der Wert der Menschheit und der eigene Selbstwert – das scheint zusammenzuhängen, das scheint Teil einer unbewußten Humantheologie zu sein«, und von dort führe der Weg zu einem »echten ethischen Dilemma, das verschärft wird durch das mentale Erbe der christlichen Ethik.« Als (christliches) Volk den eigenen Untergang als einer historischen Größe singend und betend begleiten oder gar begrüßen? Oder doch den Raum für die irdische Verwirklichung christlichen Lebens verteidigungsbereit aufgespannt halten? Eher letzteres, oder? Das Gebot der Nächstenliebe verliert doch angesichts von unüberschaubaren Massen von »Nächsten« seinen Sinn, und es ist so verantwortungslos wie kindisch, es zu einer abstrakten politischen Institution zu machen, die noch dazu allen anderen politischen Institutionen übergeordnet sein soll und sie damit aufhebt.
Es gehen also von diesem (verknappt wiedergegeben) christlichen Konflikt drei Wege für die Verteidiger des Abendlandes in drei verschiedene Richtungen ab: Der eine verwirft das Christentum zugunsten einer ortsgebundenen, untergegangenen, mithin heidnischen Religion. Dem Christentum wird dabei die Rolle eines Okkupanten zugewiesen, der den europäischen Völkern seit anderthalb Jahrtausenden das Mark aus den Knochen sauge und dessen man sich endlich entledigen müsse. Der zweite Weg ist der einer Art technisch-aufklärerischen Selbstbewußtseins, das den weltweiten Demokratisierungsprozeß als Zivilreligion zu verkaufen und in US-amerikanischer Manier durchzusetzen bereit ist. Dies ist letztlich ein missionarischer Universalismus, also wiederum eine ins Säkulare gefallene, religiöse Kategorie, und vielleicht erklärt dies einen teil jener Inbrunst, mit der die Allianz gegen »das Böse« zu Felde zieht.
Der dritte Weg ist der für einen Gläubigen schwierigste. Wer ihn beschreitet, scheidet ein wahres (und zugleich historisches) Christentum von seiner heute schwächlichen und irregehenden Form. Über Jahrhunderte waren Christen bereit, sich mit Kreuz und Schwert einfallenden Invasoren entgegenzustellen und christliches Land zu verteidigen – mithin die Grundvoraussetzung für die Entfaltung christlichen Lebens und weiterer Mission. Insbesondere ist seltsam, wie wenig die Kirchen heute gegen die Ausbreitung des Islams einzuwenden haben, ja diese noch nach Kräften fördern. Der Islam steht dem Christentum ja nicht nur theologisch schroff entgegen, sondern war über Jahrhunderte hinweg sein Erzfeind und ist bis heute Quelle umfassender Christenverfolgungen.
Eine selbstbewußte, auch historisch gespeiste und gedeckte Verteidigungs- und sogar Durchsetzungsbereitschaft ist der überwältigenden Mehrheit der heutigen Christen völlig fremd, vor allem natürlich dort, wo sich die aus der Bergpredigt und dem Opfergang Christi abgeleitete Wehrlosigkeit paart mit kulturellem Selbsthaß und historischer Infragestellung. Lichtmesz nennt das »den späten Zustand der Völker, die die historischen Träger des Glaubens waren: sie sind kindisch, wehrlos, weltfremd und autoaggressiv geworden.«
Ich sehe das genauso und frage mich, ob das hat so kommen müssen und ob es revidierbar sei. Jedenfalls scheint es mir sowohl aus Gründen der Verteidigungsbereitschaft als auch aus Gründen der Würde des Glaubens notwendig zu sein, denjenigen kirchlichen Amtsträger ihre Autorität abzuerkennen, die das Christentum verraten, indem sie ihm seine Kompromißlosigkeit, seinen Ort und seinen Durchhaltewillens rauben und die Tore dem Islam öffnen – handelnd vor dem Horizont einer naiven und gefährlichen Menschheitsutopie, die sie mit dem Christentum verwechseln.
Jean Raspail, dessen Masseneinwanderungsroman Das Heerlager der Heiligen mein Verlag im vergangenen Jahr in der Neuübersetzung von Lichtmesz veröffentlichte, brachte das (als gläubiger Katholik!) mit Blick auf den Zustand der Kirchen in unserer Zeit unverblümt auf den Punkt: »Die christliche Nächstenliebe führt uns gewissermaßen ins Desaster.« Ja, möchte ich ergänzen, wenn wir zulassen, daß sie uns auf dem ihr nicht zugewiesenen Feld der Politik und der Staatsethik den Maßstab setzt.
In diese mehr als schwierige Frage nach der Selbstbehauptung ist die nach dem Universalismus eingeschlossen: Das Ultramontane der römisch-katholischen Konfession ist für die Selbstaufgabe weit anfälliger als die volksgebundene Orthodoxie, davon bin ich überzeugt. Aber diese Diskussion führt in diesem Rahmen zu weit. Daher zusammengefaßt soviel: Der Kampf des Abendlandes um seine Selbstbehauptung könnte fraglos im Geiste christlicher Heilserwartung geführt werden. Von diesem Geist aber sind wir bis zur Unüberbrückbarkeit geschieden.
Gruß aus Schnellroda!
Götz Kubitschek
Essen, 30. März 2016
Sehr geehrter Herr Kubitschek,
Ihr politisches Alltagsgeschäft wird zweifellos mit der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt zu tun gehabt haben. Einem Ihrer Online-Kommentare zu dieser Wahl war der gehörige Stolz zu entnehmen, dass gerade Ihre Gegend „blau“ geworden ist – eine Genugtuung, die ich (kaum überraschend) nicht teilen kann, aber sportlich als Herausforderung annehme. Doch was soll eigentlich passieren, wenn die AfD sich wie alle anderen Parteien in ihrer Gegenwartsfixierung auf die nächste Wahl ausrichtet und genau wie die viel geschmähten Altparteien überwiegend schmutzige Wäsche wäscht? Ich sage Ihnen – und zwar ohne jede Schadenfreude – die baldige Erosion der Fraktion in Magdeburg voraus, auf das Bohren dicker Bretter sind die Deputierten gewiss nicht eingestellt, während – zweite „evidenzbasierte“ Voraussage – Frau Petry das Schicksal von Herrn Lucke ereilen wird.
Was mich viel mehr interessiert, ist das Verhältnis von Pegida und AfD, von parlamentarischem Alltag und Straßenprotest, und die Reaktion der Straße darauf, dass eine parlamentarische Repräsentation weder wütende Ressentiments stillen kann noch eine echte Regierungs-Alternative für Deutschland sich abzeichnen wird – außer einer gewissen Unregierbarkeit im Inland und dem Verfall deutscher Pseudo-Hegemonie in der EU. Da komme ich zurück auf Fragen zu Beginn unseres Briefwechsels. »Bleibt Widerstand bei Ihnen ein verbaler Radikalismus, der die Gedanken schärfen und zuspitzen soll, oder ist da die Versuchung, sich aktiver in den Tumult einzumischen, sei es nun in einer rechten Partei oder in einer außerparlamentarischen Bewegung, bei Straßendemonstrationen?« Und ich ergänze: bei Straßenblockaden, wo Flüchtlinge untergebracht werden sollen; an Grenzen, wo sie an den Zäunen rütteln; in muslimischen Vierteln wie Molenbeek, wohin die Identitäre Bewegung am 2. April europaweit zur Demonstration aufruft, also nicht mehr Multikulturalisten, sondern die Muslime selbst aufs Korn nimmt – eine neue Qualität?
Man kann kaum annehmen, dass es an den drei Fronten friedlich bleiben wird, und es wird Ihnen die »Widerstand!« skandierende Menge nicht abnehmen, wenn Sie weiter Gewaltfreiheit predigen. Offen ist auch die Antwort auf die Frage, die Sie neulich sich selbst gestellt haben: »Was ist, wenn der angemessene Widerstand wiederum unterliegt, weil er zu zaghaft war, und dann tatsächlich ein gewalttätiger, punktuell brachialer und enthemmter Widerstand gegen die Regierungspolitik sich Bahn bricht?« Ich habe die Geschichte der außerparlamentarischen Bewegung zu gut studiert und mitverfolgt (auch inhaliert), um über diesen unausgesprochenen Konjunktiv nicht bitter zu lächeln. Die Grenze zwischen geistigem Bürgerkrieg, den Sie ja wollen, und realem Tumult können Sie kaum definieren und noch weniger praktisch ziehen.
Oder wie erklären Sie ihren Kindern, sollten die es im Fernsehen mitbekommen haben, warum in Brüssel Hooligans die Blumengebinde und Lichter niedertrampeln? Das ist nur ein Beispiel, wie Kräfte in ihr Widerstands-Szenario einwirken, die über ihre Sortierungen ebenso hinwegtrampeln könnten. In der APO, mit der sie, ich weiß, nicht verglichen werden wollen, war die Wasserscheide die »Schlacht am Tegeler Weg«, der Rubikon war schon am 4. November 1968 überschritten, als »Rocker« den Enragierten mit einer Ladung Pflastersteinen unter die Arme griffen und ihnen eine Durchsetzungsmacht suggerierten, die sie nicht hatten. Als ich auf der Leipziger Buchmesse Elsässers Compact-Stand in Augenschein nahm, umgeben von Finsterlingen mit Knopf im Ohr, gruselte mir vor der anstehenden Querfront. Ich wüsste gerne, was Sie in dieses komplett ungeistige, ex-linke Milieu hinzieht.
Gruss
Claus Leggewie
Schnellroda, 31. III. 2016
Sehr geehrter Herr Leggewie,
da Sie meine online-Kommentare lesen, wissen Sie, daß ich die Oligarchisierung der AfD für unvermeidbar halte. Sie wird außerdem rascher eintreten, als das bei linken Projekten, den Grünen etwa, der Fall war. Die Nähe der Konservativen zum Staat an sich ist da ausschlaggebend, die Revolte ist nicht ihr Grundimpuls. Ich will sogar weitergehen: Die Einpassung der AfD in das Parteiensystem könnte ihre Erosion (Ihre Sachsen-Anhalt-Prognose) und Radikalisierung (Ihre Petry-Prognose) verhindern, denn die Dauerspannung als Bewegungspartei oder »Partei neuen Typs« ist eine Zerreißprobe, die das bodenständige, an Gesellschaftsexperimenten nicht interessierte AfD-Milieu nicht bestehen wird. Die Frage lautet also nicht, ob das »sowieso gefrierende Wasser« diesmal vielleicht nicht sowie gefriert, sondern allenfalls, wie lange die AfD als Partei in Bewegung, mithin flüssig bleibt.
Vor Ihren anderen Fragen stehe ich achselzuckend oder begriffsstutzig: Was ist passiert? Ein paar hundert Hooligans, die dem Terror nicht mit noch mehr Liebe und One-World-Tränen begegnen wollen, werden in Brüssel von der Polizei abgedrängt, und das Ganze wird ein wenig ruppig? Ein paar Saalschützer flankieren auf einer öffentlichen Buchmesse einen Stand, der täglich zum Ziel linker Flashmobs wird, und sind Ihnen in ihrem Auftreten nicht bürgerlich genug? Und Clausnitz? Dort haben Bürger friedlich getan, was an der EU-Außengrenze trotz Milliardeninvestitionen nicht gelingt und auch an der deutschen Staatsgrenze nicht mehr: illegale Einwanderer aufzuhalten, wenigstens für drei Stunden, und zwar an der Grenze, die augenfällig die letztmögliche ist: am Ortsschild. Kam jemand zu Schaden? War das Gewalt? Ist es nicht vielmehr eine Form von Gewalt, einem Dorf hundert, zweihundert, fünfhundert völlig Fremde aufzuzwingen?
Es kommt mir stets recht seltsam vor, wenn ich jemandem wie Ihnen gegenüber quantitativ, also materialistisch argumentieren muß, und ich gehe davon aus, daß auch Sie Ihren Gunnar Heinsohn gelesen haben: Von einem Volk wie dem unseren, das über keine dritten und vierten Söhne mehr verfügt, kann keine Durchsetzungs- oder Alltagsaggression mehr ausgehen. Es gibt in Deutschland keinen Mob mehr. Es gibt unerwartete Wahlergebnisse, es gibt Städte, in denen bis zur Karikatur im Kreis gegangen wird, es gibt echte Verzweiflung, ein großes Ausweichen, Sachbeschädigung, sogar schwere Sachbeschädigung; es gibt Hoffnung auf den Rechtsstaat und eine Flüchtlingsindustrie mit vollen Auftragsbüchern. Aber es gibt keine Ausschreitungen, keine Pogrome, keine Exzesse, keine Zusammenrottungen, nichts, was die Polizei nicht rasch wieder unter Kontrolle hätte, nichts jedenfalls, das vergleichbar wäre mit der “Schlacht am Tegeler Weg”. Es gibt keine Banner und Pappschilder, auf denen, wie in der Zeit, die Sie “inhalierten”, Massenmördern gehuldigt würde (Ho Tschi Minh, Lenin, Mao, Pol Pot), es gibt keine Totalentwürfe für einen neuen Staat, kein fernes Problem (Vietnam) und keine Weltverbesserungsideologie (Sozialismus, Kommunismus plus Unterformen), sondern die Sorgen und Verunsicherungen eines alt gewordenen Volkes, das ausgetauscht werden soll, und das sich nun mit angemeldeten Demonstrationen wehrt, zu deren Absicherung ein paar Dutzend Verkehrspolizisten ausreichen, falls nicht irgendein linker Mob einmal mehr irgendetwas mit Gewalt verhindern, stoppen, “nazifrei” machen will.
Es gibt Leute wie uns, die wissen, daß man als Theoretiker Verantwortung hat, aus diesem Grund sogar halb und halb sich ins Praktische begibt, um Maß halten zu helfen; daß aber dann, wenn das Maß voll ist, keiner sich um unsere Theorien mehr scheren wird (um die Blickwendung nach innen auf unsere selbstverschuldete Identitätsschwäche etwa). Und deshalb fragen mich meine Kinder übrigens nie nach den Hooligans von Brüssel, sondern ab und an, ob die Grenzen nun eigentlich dicht seien und wie es meiner Meinung nach aussehen werde in Deutschland, sagen wir mal: in dreißig Jahren.
Zuletzt: Ich lese aus dem Duktus Ihrer Fragen und Ihrer Vergleiche heraus, daß Sie den Widerstand unseres Widerstandsmilieus für läppisch halten im Vergleich mit dem, woran Sie beteiligt waren. So ist es doch, oder? Läppisch ist das, wenn es bloß um den Wunsch nach Augenmaß geht, um den Rechtsstaat und die deutsche Restidentität, läppisch im Vergleich zur Totalbefreiung und der totalen Rücksichtslosigkeit Ihrer Zeit, nicht? Sie halten solche Eruptionen für das eigentlich Angemessene und Lebenswerte, das merkt man Ihnen an, und Ihr Sensorium für Energiezentren und Thymosverstärker ist noch intakt. Aber nun dürfen Sie enttäuscht sein: ein konservativ-revolutionärer Ansatz ist eben etwas anderes als der “große Sprung nach vorn”. Zum Glück, Herr Professor, zum Glück.
Es grüßt
Götz Kubitschek
Essen, 5. April 2016
Sehr geehrter Herr Kubitschek,
läppisch? Ach wo. Im Vergleich zu meinen Peers? Weit gefehlt. Der Maßstab für soziale Bewegungen sind nicht (mehr) die 68er, und aus meinen Vergleichen können sie eine Affirmation derselben wohl kaum herauslesen. Auf sie bin ich viel weniger fixiert als die Identitären, die (Bsp. Markus Willinger) immer noch mit ihnen abrechnen zu müssen meinen. Die Revision der Kulturrevolution (auch da sind Sie ganz nah bei Mohler) macht doch kein Programm, und das Ihre finde ich (meinetwegen läppisch, eher) dünn, wenn es darum geht, nicht nur bestimmten „Gesellschaftsexperimenten“ eine Absage zu erteilen, sondern gerechte Lösungen für echte Probleme zu finden. Ihre Fixierung auf den Heimatschutz und die Volksgemeinschaft finde ich in der Tat intellektuell uninteressant, weil das ganze völkische Pathos, das Sie da hereinlegen, für wenig anderes taugt als Nostalgien. Oder, und das finde ich nun gar nicht läppisch, sondern höchst bedrohlich: Ressentiments gegen Leute, die da nicht mitmachen wollen und nicht hinter die bürgerlichen Revolutionen zurückfallen, die einen anderen als herkunfts- und heimatbezogenen Volksbegriff (Demos) hervorgebracht haben.
Nebenbei ist, was Sie vorhaben, eines der größten Gesellschaftsexperimente, die ich mir vorstellen kann – die Globalisierung zurückdrehen, die Grenzen hochziehen, den »Ausbreitungstyp« abweisen. Das kann ernst genommen nur in einem Massaker enden, in einer ethnischen Säuberung, bei der irgendein Hundertfünfzigprozentiger sogar auf die Idee kommen wird, Sie nach ihrem slawischen Migrationshintergrund zu fragen.
Mich wundert ansonsten, wie Sie die „Sorgen und Verunsicherungen eines alt gewordenen Volkes, das ausgetauscht werden soll“ deprimieren: »Von einem Volk wie dem unseren, das über keine dritten und vierten Söhne mehr verfügt, kann keine Durchsetzungs- oder Alltagsaggression mehr ausgehen.« Dabei stimmt Ihre Schlussfolgerung schon heute nicht: »Es gibt in Deutschland keinen Mob mehr.« Die Hooligans, die ich am Kölner Hauptbahnhof erlebt habe, verharmlosen sie, die guten Menschen von Clausnitz verniedlichen Sie, und die Haßmails, die unsereins bekommt, werden Sie vermutlich als Notwehr charakterisieren. Es dürfte Ihnen bekannt sein, dass es im vergangenen Jahr 1000 Attacken auf Flüchtlinge, darunter knapp 100 Brandanschläge gegeben hat, deren Urheber sich überwiegend als besorgte Bürger deklarieren. Und da fragen Sie: „Kam jemand zu Schaden? War das Gewalt?“ und rechnen auf: »Ist es nicht vielmehr eine Form von Gewalt, einem Dorf hundert, zweihundert, fünfhundert völlig Fremde aufzuzwingen?« Schauen Sie sich Ihr Volk bitte wirklich »ethno-logisch« an, also im Sinne einer verstehenden, hermeneutischen Soziologie, und es zerfällt Ihr Homogenitätsideal ebenso wie derart pauschale Behauptungen, oder wollen Sie Menschen, die mit durch Not und Elend der Welt aufgezwungene Flüchtlingen arbeiten, leben, eine Zukunft bauen?
Leider ist der »geistige Bürgerkrieg«, in dem Sie sich befinden, den Widerstand, an dessen Formierung Sie sich »Maß haltend« beteiligen, alles andere als läppisch. Ich fürchte als Deutscher vielmehr das schlimmste für mein Land, und als Europäer, dass derart zynische Bürgerkriegsspielerei den Zusammenhalt der politischen Union gefährdet, deren Wachsen ich auch als Teil meines politischen Lebenswerkes bezeichne.
Noch eine Frage zum Abschluss heute: Das »thymotische« Potenzial, das Sie in mir schlummern sehen, war und ist gegen eine Wirtschaftsordnung gerichtet, die eine seit den 1960er Jahren vor allem weltweit noch immens gestiegene Ungleichheit verursacht. (Da brauche ich gar keine Panama Papers.) Viele AfD-Wähler und Pegida-Bewegte, darunter nicht wenige DDR-Nostalgiker und Kryptokommunisten, führen »die Globalisierung« als Anlaß für ihre Wut an. Nach meiner Auffassung ist die Aversion gegen Flüchtlinge, von denen die meisten mehr Recht hätten, sich als Opfer der globalen Finanzwirtschaft zu deklarieren, ein fehlgeleiteter Klassenkampf, der sich konstant an die falsche Adresse richtet. Wobei die Programmmacher der AfD mit ihren wirtschaftsliberalen Vorschlägen das offenbar noch gar nicht mitbekommen haben. Was mich also interessiert, ist, welche Position Sie zu diesem verqueren Anti-Kapitalismus beziehen. Und mich weiter wundert, was Sie mit dem konvertierten KB-Genossen Elsässer am Hut haben – die Volksinitiative gegen das raffende Kapital oder die Bewunderung für Wladimir Putins Autokratie?
Gruss,
Claus Leggewie
Schnellroda, 10. IV. 2016
Sehr geehrter Herr Professor Leggewie,
wir leben in unterschiedlichen Welten. Für Sie ist meine/unsere Reaktion auf das Verspielen der deutschen und abendländischen Zukunft das Schlimmste, für mich ist’s eine gesunde Reaktion, und das Schlimme ist zuvor geschehen und geschieht immer noch: Es bringt die große, in der Mitte des Kontinents liegende Nation die notwendige politische Härte nicht auf, den Abermillionen Enreisewilligen zu sagen, daß sie hier nichts verloren hätten, sondern verloren seien. Das ist nämlich das Ergebnis, das elende Ergebnis einer widerwärtigen, selbstgefälligen Schwäche: verlorene, nicht wirklich willkommene junge Männer zu Hunderttausenden in Auffanglager und Wohnkontainer zu pferchen und wie in einer Lotterie nur für ganz, ganz wenige das wahrwerden zu lassen, was man allen versprach und suggerierte: Arbeit, Leben, Frauen, Reichtum. Nichts davon wird Realität für den weit überwiegenden Teil der Leute, und was sich an den Bahnhöfen schon andeutete in Gestalt von Herzchenplakaten und Teddybären, ist nun das deutsche Welcome-Konzept: Infantilisierung. Junge Männer werden zurückgestuft auf das Niveau von Kindergartenkindern, mit Taschengeld, Benimmregeln und 24/7‑Freizeit, abgesehen von den nervtötenden Stuhlkreisen, in deren Verlauf die Tante etwas erzählt und ein paar Fleißbienchen verteilt.
Wo sind die Welcome-Klatscher? Wo sind sie, ganz persönlich, wo sind die leeren Zimmer, die unbesetzten Arbeitsstellen, die demokratischen Angebote? Wo die Persönlichkeiten, an denen sich aufrichtend die Neudeutschen Orientierung, Vorbild, Halt und einen möglichen Lebensweg fänden?
Wo sind die Moralweltmeister? Doch wieder in den zwei Mal vier Wänden (vier im guten Wohnviertel, die zweiten vier in der Toscana?), weil es wie immer gut tat, progressiv zu reden, jetzt aber gut tut, konservativ zu leben? Ihr Europa, Herr Professor, geht kaputt, weil die große Saugpumpe angeworfen wurde, und die kleineren Nationen ostwärts zu Durchgangsländern wurden, für uns Deutsche zu Korridoren, zu Schleuserplätzen, am Ende dann (wiederum für uns, obwohl man hierzulande aufheulte) zu einem Bollwerk. »Die Arbeit tun die anderen«, das ist der Leitspruch Ihrer Kohorten. Das machte und macht uns kaputt, das ist so jämmerlich und zynisch und verlogen, da ist mir jeder dreimal lieber, der sich schnörkellos äußert: Ich will das nicht und ich muß es gar nicht groß begründen, denn: rechtfertigen muß sich derjenige, der alles auf den Kopf stellen will.
Wie lammfromm wir sind! Wie harmlos! Stellen Sie sich bitte vor, fünfhundert Fans von Borussia Dortmund hätten nach einem Champions-League-Spiel gegen Galatasaray Istanbul vor der Hagia Sophia sich die Zeit damit vertrieben, türkische Frauen anzutanzen, zu bedrängen, zu berauben und zu betatschen: Ich glaube nicht, daß die türkischen Männer diesen Abend ohne ein Blutvergießen hätten zuende gehen lassen. Wir aber blicken auf die Kölner Domplatte und wir wünschen uns kein Blutvergießen, aber doch etliche Heldengeschichten von deutschen Männern, die sich nicht abdrängen ließen, sondern mit allem, was sie hatten, ihre Frauen verteidigten. Indes: Wir sehen nur einen einzigen kroatischen Türsteher, der zugelangt hat. Und auch tags darauf: kein deutscher Mob. Aber für Sie sind ja bereits ein paar tausend Leute, die zusammenstehen und »Widerstand« rufen, ein Mob, und weil das so ist, verlangen Sie Rechtfertigungen von mir, wo ich eher die Frage stelle, wer diesem Land die Verteidigungsmuskeln abtrainiert oder herausgeschnitten hat.
Was nun unseren Briefwechsel anbelangt, so habe ich mittlerweile die Vermutung, daß Sie sich Ihr Bild über mich, über uns zurechtgelegt haben, und zwar schon längst, und daß ich daran nichts ändern kann. Sollte diese Vermutung zutreffen, frage ich mich, welchen Sinn die Auseinandersetzung noch haben könnte: Diskussionen, in denen sich der Kontrahent in der Pose des Vorwerfens gefällt, begreife ich als Zeitverschwendung.
Es grüßt
Götz Kubitschek
Nemo Obligatur
Nachdem ich den Briefwechsel mehr überflogen als gelesen und einen Blick in den Artikel der taz getan habe, muss ich sagen, dass ich dadurch nicht klüger geworden bin. Das letzte Wort im zweiten Teil trifft es ganz gut: "Zeitverschwendung". Es gibt keine Möglichkeit der Verständigung zwischen den Alt-68ern und der Neuen Rechten, keine Brücke zwischen den Multikulti-Aposteln und der Identitätären Bewegung. Es mag eine Fraktion der Linken geben, der in nationalen Kategorien denkt oder nicht ständig sozial und international vermengt. Solches blitzte z.B. in Lafontaines Bemerkung von den "Fremdarbeitern" auf. Aber das ist wohl nur ein sehr kleiner Teil und der hat sich vermutlich längst von dort verabschiedet, wohin auch immer.
Man hat das alles aber schon vorher gewusst. Man sollte es dabei belassen und sich gelegentlich klar machen, dass die größere Gefahr womöglich nicht die Massen fehlgeleiteter und verlockter Jünglinge aus Nordafrika und dem arabischen Raum sind, sondern jene Ephialtes-Gestalten, die ihnen erst die Türen geöffnet haben und die Pfade durch unsere Sozialsysteme zeigen.