Moralische Kosten

Machiavelli schreibt gegen Ende seiner Erörterung fürstlicher Tugenden:

„Es ist also nicht nötig, daß ein Fürst alle die Tugenden, welche ich oben angab, gerade wirklich besitze, sondern es ist schon hinlänglich, wenn er sie nur zu besitzen scheint.

Ja, ich getraue mir zu behaup­ten, daß es sogar gefähr­lich für ihn sein wür­de, wenn er sie wirk­lich alle besä­ße und immer aus­üb­te, da es ihm im Gegen­teil nütz­lich ist, wenn er sie nur zu besit­zen scheint. Ein Fürst muß gnä­dig, recht­schaf­fen, her­ab­las­send, auf­rich­tig und got­tes­fürch­tig erschei­nen und es sein, gleich­wohl so ganz Herr über sich sein, daß er im Fall der Not gera­de das Gegen­teil von dem allen tun kann.

Über das Ver­hält­nis der Moral zur Poli­tik wur­den Strö­me von Tin­te ver­spritzt. Der Kampf der Anti­ma­chia­vel­lis­ten rich­te­te sich gegen einen miß­ver­stan­de­nen Machia­vel­li, dem sie vor­war­fen, die Moral aus den Gefil­den der Poli­tik ver­bannt zu haben.

Auf­merk­sa­me­re Leser erkann­ten in den Aus­füh­run­gen des Flo­ren­ti­ners jene „Ver­ant­wor­tungs­ethik“, die Max Weber der „Gesin­nungs­ethik“ gegen­über stell­te. Das ist rich­tig. Doch das eigent­lich Bemer­kens­wer­te an Machia­vel­lis Betrach­tung der Tugen­den führt über den simp­len Gegen­satz zwi­schen dem gut Gemein­ten und dem gut Gemach­ten hin­aus. Die Moral ist ihm nicht bloß ein jen­sei­ti­ger For­de­rungs­ka­ta­log, der vor der har­schen Wirk­lich­keit all­zu­schnell verdampft.

Sie ist ihm selbst poli­ti­sche Tat­sa­che. Zunächst direkt, als Tugend oder Las­ter, wel­ches ein­zel­ne Men­schen oder gan­ze Grup­pen zu ihrem Ver­hal­ten drängt. Noch inter­es­san­ter ist jedoch die Wir­kung der Wahr­neh­mung der Moral. Machia­vel­li ver­stand, daß die mora­li­schen Urtei­le, denen Men­schen und Hand­lun­gen durch ihre Zeit­ge­nos­sen unter­lie­gen, eine eige­ne Macht darstellen.

Sei­ne Beto­nung liegt auf der Bedeu­tung des Scheins, und dar­in liegt die Erkennt­nis, daß mora­li­sche Wert­ur­tei­le und die damit ver­bun­de­nen Gefühls­auf­wal­lun­gen sel­ten etwas mit Ver­nunft zu tun haben. Sie sind in den sel­tens­ten Fäl­len nach sau­be­rer Prü­fung von Sach­ver­halt und Fol­gen abge­mes­sen, son­dern fol­gen meist spon­ta­nen Urtei­len. An einer in unse­rer Zeit wie­der äußerst bedeut­sam gewor­de­nen Stel­le des Fürs­ten schreibt Machia­vel­li daher:

Man hielt Cesa­re Bor­gia für grau­sam; doch sei­ne Grau­sam­keit beru­hig­te die Roma­gna, einig­te deren Ein­woh­ner und gab die­ser Pro­vinz Frie­den und Treu und Glau­ben wie­der. Betrach­tet man es wohl, so wird man sich über­zeu­gen, daß er weit mensch­li­cher war als das Volk von Flo­renz, das, um den Vor­wurf der Grau­sam­keit zu ver­mei­den, Pis­to­ja ver­wüs­ten ließ.

(Anfang des 16. Jahr­hun­derts sah sich Flo­renz vor die Auf­ga­be gestellt, das in zwei ver­fein­de­te Adels­frak­tio­nen geteil­te Pis­to­ja zu befrie­den. Ent­ge­gen der Auf­fas­sung Machia­vel­lis, der befand, man sol­le die Anfüh­rer bei­der Par­tei­en hin­rich­ten las­sen, han­del­ten die Flo­ren­ti­ner einen fau­len Waf­fen­still­stand aus. Bei der erst­bes­ten Gele­gen­heit gin­gen bei­de Par­tien wieder auf­ein­an­der los und stürz­ten Pis­to­ja voll­stän­dig ins Chaos.)

Betrach­tet man es wohl“, aber wer betrach­tet es schon wohl? Tat­säch­lich steht Cesa­re Bor­gia bis heu­te im Ruf sprich­wört­li­cher Grau­sam­keit, wäh­rend die Flo­ren­ti­ner sich mit ihrer Ent­schei­dung das Anse­hen ande­rer als auch ein gutes Gewis­sen erwar­ben. (Ob dem Her­zog von Valen­ti­nois die Här­te man­cher Maß­nah­men inner­lich zu schaf­fen mach­te, wis­sen wir nicht. Ich hal­te es aber sowohl in sei­nem wie in zahl­rei­chen ähn­li­chen Fäl­len für wahr­schein­li­cher als das Kli­schee­bild vom blut­dürs­ti­gen Tyran­nen. Ech­te Psy­cho­pa­then, die zur Moral unfä­hig sind, sind es zur Poli­tik meist eben­falls.)

Die mora­li­schen Kos­ten des Bor­gia waren also weit höher als die der Flo­ren­ti­ner. Unter dem Aus­druck “mora­li­sche Kos­ten” ver­ste­he ich das affekt­ge­steu­er­te, mora­li­sche Miß­be­ha­gen über eine Hand­lung, sowohl das eige­ne als auch das­je­ni­ge ande­re. Mora­li­sche Kos­ten ver­hal­ten sich gegen­über begründ­ba­rer Ethik neu­tral. Sie kön­nen mit ihr zusam­men­fal­len, dies ist jedoch kei­nes­wegs immer der Fall. Je kom­ple­xer die Situa­ti­on, des­to wahr­schein­li­cher ver­ur­sacht ethi­sches Ver­hal­ten hohe mora­li­sche Kosten.

Die gegen­wär­ti­ge Mise­re ist viel­fach unter dem Gesichts­punkt einer Suche nach den Ver­ur­sa­chern beschrie­ben wor­den. Grob gesagt, unter­schei­den sich hier die Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker von den Kul­tur­theo­re­ti­kern. Jene glau­ben, daß wir durch die Plä­ne einer uns feind­se­lig gegen­über­ste­hen­den Kaba­le ins Ver­der­ben gestürzt wer­den. Die­se hal­ten Ver­än­de­run­gen in der Kul­tur- und Medi­en­land­schaft, die die wei­ßen Völ­ker in den Selbst­mord trei­ben, für maßgeblich.

Bei­de Sei­ten haben wich­ti­ge Teil­stü­cke des Pro­blems erkannt. Dies sei hier nicht bestrit­ten. Wer den Wahn­sinn unse­rer Öffent­lich­keit erle­ben will, braucht nur eine belie­bi­ge Zei­tung am Kiosk auf­zu­schla­gen. Und was das The­ma der Ver­schwö­rung anbelangt:

Sobald man sich von der (haupt­säch­lich von Anti­ver­schwö­rungs­theo­re­ti­kern ver­tre­te­nen) kin­di­schen Vor­stel­lung löst, eine Ver­schwö­rung bestün­de aus zwei Dut­zend Män­nern, die in komi­schen Kla­mot­ten nachts auf dem Pra­ger Juden­fried­hof den Griff nach der Welt­herr­schaft plan­ten, so wird man um die Erkennt­nis nicht her­um­kom­men, daß auch hier weit mehr mög­lich ist, als sich die Schul­weis­heit träu­men läßt. (Die­se Schul­weis­heit geht im übri­gen eben­falls auf Machia­vel­li zurück, aber das ist für ein andermal.)

Die mora­li­schen Kos­ten sind mei­ner Ansicht nach ein drit­ter Aspekt, der zum Ver­ständ­nis unse­rer Lage unbe­dingt berück­sich­tigt wer­den muß. Wohl weil sie nicht im sel­ben Maße wie die bei­den ande­ren Erklä­rungs­an­sät­ze einen Schul­di­gen lie­fern – sie sind trotz der mora­li­schen und damit mensch­li­chen Kom­po­nen­te im Kern ein tech­ni­sches Phä­no­men –, sind die mora­li­schen Kos­ten im öffent­li­chen Bewußt­sein hin­ter sie zurückgetreten.

Vor fast genau einem Jahr erklär­te ich an ande­rer Stel­le, daß Ange­la Mer­kels Grenz­öff­nungs­po­li­tik weder einem Anfall von Gut­men­schen­tum noch dem Gehor­sam gegen­über glo­ba­len Strip­pen­zie­hern geschul­det sein muß. Ange­sichts der her­ein­bre­chen­den Men­schen­flut war die Grenz­öff­nung unter dem Gesichts­punkt Mer­kel­scher Macht­si­che­rungs­po­li­tik die klügs­te Wahl aus einer Rei­he schlech­ter Optio­nen. Denn jede prak­ti­ka­ble Form der Grenz­schlie­ßung hät­te eine Rei­he häß­li­cher Bil­der erzeugt, die Mer­kel öffent­lich ange­las­tet wor­den wären.

Die Pres­se wäre vol­ler Bil­dern gewe­sen, wie wir sie aus Ungarn zu sehen beka­men, von Poli­zis­ten, die auf die andrän­gen­den Mas­sen ein­schla­gen, abge­ris­se­nen Flücht­lin­gen, die des Win­ters vor der deut­schen Gren­ze im Frei­en näch­ti­gen müs­sen, viel­leicht ein paar Kin­der­au­gen, die angst­voll durch den neu­errich­te­ten Grenz­zaun bli­cken. Die gan­ze Asyl­lob­by samt aller ange­schlos­se­nen und sym­pa­thi­sie­ren­den Milieus bis weit ins kon­ser­va­ti­ve Bür­ger­tum hin­ein hät­te Mer­kel die­se Herz­lo­sig­keit nie­mals verziehen.

Man stel­le sich zudem vor, wel­che Bil­der wir erst zu sehen bekom­men hät­ten, wäre es tat­säch­lich zum Stau auf der Bal­kan­rou­te gekom­men. Her­fried Mün­k­ler mein­te genau die­ses Pro­blem, als er die Stra­te­gie der Kanz­le­rin lobend(!) die Ver­wen­dung Deutsch­lands als „Über­lauf­be­cken“ nann­te. Die mora­li­schen Kos­ten einer Grenz­schlie­ßung wur­den als zu hoch eingestuft.

Die Grenz­öff­nung hin­ge­gen warf zunächst sogar eine mora­li­sche Divi­den­de ab. Zwei­fel­los ist der Scha­den für Ange­la Mer­kel seit­her immens gewe­sen. Ver­gli­chen mit der Alter­na­ti­ve war es aber für die Kanz­le­rin die bes­se­re Wahl. Eine Grenz­schlie­ßung hät­te ihr nicht nur sämt­li­che Gut­men­schen auf den Hals gehetzt. Durch die ent­ste­hen­den mora­li­schen Kos­ten hät­te sich das Lager der Asyl­be­für­wor­ter min­des­tens im sel­ben Maße aus­ge­dehnt, wie es das der Asyl­geg­ner durch die Grenz­öff­nung und ihrer Fol­gen dann tat­säch­lich tat. Auf per­ver­se Wei­se schul­den wir Ange­la Mer­kel Dankbarkeit.

Die­ses Pro­blem, das sich im Herbst 2015 auf solch dras­ti­sche Wei­se zuspitz­te, läßt sich rück­wärts durch das letz­te hal­be Jahr­hun­dert deut­scher und euro­päi­scher Ein­wan­de­rungs­ge­schich­te zurück­ver­fol­gen. Wil­ly Brandt been­de­te 1973 noch das Gast­ar­bei­ter­pro­gramm. Etwa zur sel­ben Zeit schaff­ten ande­re euro­päi­sche Staa­ten das Ein­wan­de­rungs­recht für Ange­hö­ri­ge der ehe­ma­li­gen Kolo­nien ab. Hel­mut Schmidts berühm­ter Satz aus dem Jahr 1982, „Mir kommt kein Tür­ke mehr über die Gren­ze!“, blieb hin­ge­gen nicht nur auf­grund sei­ner kur­zen Rest­re­gie­rungs­zeit folgenlos.

Noch im sel­ben Jahr erklär­te der frisch­ge­kür­te Kanz­ler Kohl gegen­über Mar­ga­ret That­cher, man müs­se die Zahl der Tür­ken in Deutsch­land inner­halb von vier Jah­ren hal­bie­ren. Er kön­ne dies nur noch nicht in der Öffent­lich­keit sagen. Er sag­te es nie in der Öffent­lich­keit und brach­te nicht ein­mal ein Ende der Neu­zu­wan­de­rung zuwe­ge. Ein­zig der Asyl­kom­pro­miß von 1993 fiel in sei­ne Amts­zeit. Unter dem Druck mas­si­ven Asyl­miß­brauchs wur­de damals eine Grund­ge­setz­än­de­rung beschlos­sen, der­zu­fol­ge abge­lehn­te Asyl­be­wer­ber auch tat­säch­lich abge­scho­ben wer­den durften.

Auf­grund der Här­ten, die eine Abschie­bung für den ein­zel­nen Asy­lan­ten mit sich bringt, ging die­ser Selbst­ver­ständ­lich­keit aller­dings eine der mora­lisch auf­ge­bla­sens­ten Debat­ten der bun­des­deut­schen Geschich­te vor­aus. Trotz der Bezeich­nung als Kom­pro­miß wur­de er von wei­ten Tei­len der Asyl­be­führ­wor­ter nie akzep­tiert. Noch mir, der ich gut ein Jahr vor dem Asyl­kom­pro­miß gebo­ren wur­de, spiel­te man am Gym­na­si­um ein aus­ge­spro­chen plat­tes Thea­ter­stück gegen die Abschie­bung bos­ni­scher Längst-nicht-mehr-Flücht­lin­ge auf­grund der Rege­lung von 1993 vor. Die­se Rege­lung, die bereits vor­her nicht wirk­lich umge­setzt wur­de, ist seit ihrer ers­ten Bewäh­rungs­pro­be im Jahr 2015 fak­tisch außer Kraft gesetzt.

Da das erst 2013 ans Licht gekom­me­ne Pro­to­koll des Gesprä­ches mit That­cher nicht für die zeit­ge­nös­si­sche Öffent­lich­keit bestimmt war, kön­nen wir aus ihm erse­hen, daß zumin­dest damals an der Regie­rungs­spit­ze kei­nes­wegs ein Plan zur Mul­ti­kul­tu­ra­li­sie­rung Deutsch­lands vor­lag. Im Gegen­teil, die lang­fris­ti­gen Fol­gen wur­den recht klar gese­hen, daß eine Remi­gra­ti­on wün­schens­wert wäre eben­falls. Das Pro­blem der Ein­wan­de­rungs­po­li­tik bestand aber wäh­rend der ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­te immer dar­in, das die mora­li­schen Kos­ten einer Rück­füh­rung im Ver­lauf der Zeit min­des­tens im glei­chen Maße anstie­gen wie die Wahr­neh­mung der durch die Mas­sen­mi­gra­ti­on ver­ur­sach­ten Schäden.

Das Gast­ar­bei­ter­pro­gramm zu been­den, war noch kei­ne gro­ße Sache. Doch schon Anfang der Acht­zi­ger hät­te man Men­schen hin­aus­wer­fen müs­sen, die seit über einem Jahr­zehnt im Lan­de leb­ten. Heut­zu­ta­ge lebt eine gro­ße Zahl in drit­ter Gene­ra­ti­on in ihrer Par­al­lel­ge­sell­schaft. In vie­len Fäl­len wür­de man sie nicht ein­mal ohne die Aberken­nung der Staats­bür­ger­schaft los. Auch sind die Zah­len, von denen wir spre­chen, immer wei­ter gestie­gen. Eine geord­ne­te Rück­füh­rung wird damit immer undurchführbarer.

Der gro­ße Aus­tausch wird nicht zu stop­pen sein, solan­ge die mora­li­schen Kos­ten der Grenz­schlie­ßung und Remi­gra­ti­on die ange­rich­te­ten Schä­den in der Wahr­neh­mung der euro­päi­schen Völ­ker über­stei­gen. Für die­ses Pro­blem gibt es genau zwei mög­li­che Lösun­gen: Die mora­li­schen Kos­ten müs­sen sin­ken, oder die Wahr­neh­mung der Schä­den muß steigen.

Die ers­te Lösung wird seit Jahr­zehn­ten von Euro­pa vor­ex­er­ziert. Das poli­ti­sche Estab­lish­ment ist sich, eini­ge Wirr­köp­fe aus­ge­nom­men, durch­aus bewußt, daß eine voll­kom­men unge­brems­te Mas­sen­ein­wan­de­rung auch die eige­nen Pos­ten und Pfrün­den hin­weg­feg­te. Da man aber den Migran­ten an der eige­nen Gren­ze nicht ohne häß­li­che Sze­nen abwei­sen kann, ist man schon lan­ge dazu über­ge­gan­gen, die Drecks­ar­beit an die Fol­ter­knech­te frem­der Poten­ta­ten aus­zu­la­gern. Bevor Nico­las Sar­ko­zy ihn, einem spon­ta­nem Wahl­kampf­be­dürf­nis nach Gloire fol­gend, hin­weg­bomb­te, erfüll­te Muammar al-Gad­da­fi die Funk­ti­on des EU-eige­nen Tür­ste­hers. Erdoğan soll nun die­sen Pos­ten übernehmen.

Den Weg nach Euro­pa so schwer und ver­lust­reich wie mög­lich zu gestal­ten, funk­tio­niert des­halb, weil die mora­li­schen Kos­ten in einem direk­ten Ver­hält­nis nur zur Wahr­neh­mung des Lei­dens ste­hen. Medi­al auf die rich­ti­ge Wei­se auf­be­rei­tet, sind sie weit grö­ßer, wenn ein deut­scher Poli­zist einem ran­da­lie­ren­den, min­der­jäh­ri­gen Migran­ten den Knüp­pel durchs Gesicht zieht, als wenn hun­dert sei­ner Sor­te auf dem Weg durch die Saha­ra von den Schlep­per­ban­den nicht der ita­lie­ni­schen Küs­ten­wa­che, son­dern dem glo­ba­len Organ­han­del zuge­führt wer­den. Flücht­lings­hil­fe ist – in einem sehr räum­li­chen Sin­ne betrach­tet – geleb­te Nächstenliebe.

Der zwei­te Weg wird von den­je­ni­gen beschrit­ten, die den gro­ßen Aus­tausch tat­säch­lich ver­hin­dern wol­len. Er besteht dar­in, das Pro­blem­be­wußt­sein bezüg­lich der Ein­wan­de­rung zu stei­gern. Auf der Gegen­sei­te nennt man dies „zum Haß auf­het­zen“. Dar­an stimmt so viel, als es hier nicht dar­um geht, die mora­li­schen Kos­ten unter den Tep­pich zu keh­ren, son­dern das Volk zu ihrer Akzep­tanz zu bewe­gen. Das wird nur erreicht, wenn man dem Volk die Fol­gen der Mas­sen­mi­gra­ti­on in dras­ti­scher, gefühls­auf­wal­len­der Art vor Augen führt.

Es ist nur bis jetzt kein Weg gefun­den wor­den, bei einem Kampf gegen fal­sche Ansprü­che, die durch Mit­leid­er­pres­sung durch­ge­setzt wur­den, nicht auch die Sen­si­bi­li­tät für ech­te Rech­te in Mit­lei­den­schaft zu zie­hen. Nach­dem sie von der hun­derts­ten Mas­sen­ver­ge­wal­ti­gung durch Nafris et al. gele­sen haben, ist es den Leu­ten im Her­zen gleich­gül­tig, was mit die­ser Bevöl­ke­rungs­grup­pe geschieht. Haupt­sa­che, sie kommt weg.

Die voll­stän­di­ge Eska­la­ti­on droht, wenn es im Umgang mit den migrie­ren­den Mas­sen zu einem Wett­be­werb zwi­schen Her­kunfts­län­dern und Ziel­län­dern der Migra­ti­on kommt, wer die höhe­ren mora­li­schen Kos­ten in Kauf zu neh­men bereit ist. In ande­ren Wor­ten: wer sich weni­ger um das von ihm ver­ur­sach­te mensch­li­che Leid schert. Bedroh­li­che Ansät­ze dazu fin­den wir bereits, wenn sich Län­der wie Tune­si­en oder Paki­stan wei­gern, ihre Lands­leu­te wie­der zurückzunehmen.

Die dor­ti­gen Regie­run­gen wis­sen genau, daß die aus­wan­de­rungs­wil­li­gen jun­gen Män­ner zu Hau­se genau­so eine demo­gra­phi­sche Zeit­bom­be dar­stell­ten wie in der Frem­de. Die­se Zeit­bom­be könn­te ihnen, wie wäh­rend des soge­nann­ten Ara­bi­schen Früh­lings, jeder­zeit um die Ohren flie­gen. Was mit Euro­pa geschä­he, poli­tisch wie see­lisch, wenn sein Über­le­ben von einem Hart­her­zig­keits­wett­be­werb mit einer Hand­voll Wüs­ten­despo­ten abhin­ge, läßt sich nur düs­ter erahnen.

Spä­tes­tens an die­sem Punkt müs­sen wir uns der Fra­ge eines ethi­schen Umgan­ges mit dem Phä­no­men der mora­li­schen Kos­ten stel­len. Machia­vel­lis Rat an den Fürs­ten ist von benei­dens­wer­ter Ein­fach­heit. Selbst­be­herr­schung, der Fürst muß „ganz Herr über sich sein“, das bedeu­tet, er muß sei­ne Ent­schei­dun­gen unab­hän­gig von mora­li­schen Kos­ten ganz nach ver­ant­wor­tungs­ethi­schen Erwä­gun­gen tref­fen kön­nen. Die Aus­wir­kun­gen der mora­li­schen Kos­ten auf ande­re muß er durch psy­cho­lo­gi­sches Geschick abzu­fe­dern suchen und soll dabei auch auf das Mit­tel des fal­schen Schei­nes nicht verzichten.

Solan­ge nicht irgend­ein Cae­sar des Weges kommt, dem wir unse­re poli­ti­schen Sor­gen nur auf­zu­la­den brau­chen, sehe ich nicht, wie die­ser Weg gang­bar wäre. Dabei wäre es nicht so, daß Repu­bli­ken zwangs­läu­fig von ver­ant­wor­tungs­lo­ser Gefühls­du­se­lei regiert wür­den. Doch in star­ken Repu­bli­ken liegt die Ver­ant­wor­tung zum größ­ten Teil bei einer Eli­te, die die­sen Namen auch ver­dient und die durch funk­tio­nie­ren­de Insti­tu­tio­nen regiert.

Wenn man sich jedoch in der Situa­ti­on sieht, unter Rück­griff auf die Volks­mas­se gegen eine kor­rup­te Eli­te und ver­sa­gen­de Insti­tu­tio­nen vor­zu­ge­hen, so muß man in Kauf neh­men, daß ihr die Lei­den­schaf­ten durch­ge­hen. Nicht, daß das brei­te Volk grund­sätz­lich unbe­dacht wäre und nie einen küh­len Kopf bewahr­te. Ruhig Blut ver­trägt sich bei der Mas­se aber nicht mit gestei­ger­ter Aktivität.

Des­halb lau­tet der Not­schrei aller ange­schla­ge­nen Regime, das Volk möge „die Ruhe bewah­ren“. Ein Volk, das die Ruhe bewahrt, ist unge­fähr­lich. Die Regie­ren­den kön­nen mit ihm machen, was immer sie wol­len. Das Volk hat sich aber noch nie in Bewe­gung gesetzt, wenn es nicht durch erreg­te Lei­den­schaf­ten oder die blan­ke Not ange­trie­ben wor­den wäre. Das bedeu­tet lei­der auch, daß das Volk so gut wie nie prä­ven­tiv han­delt. Zur ele­gan­tes­ten Ver­mei­dung mora­li­scher Kos­ten, näm­lich ein Pro­blem gar nicht erst ent­ste­hen zu las­sen oder doch zumin­dest früh­zei­tig gegen­zu­steu­ern, ist es wei­test­ge­hend unfä­hig. In den Dis­cor­si schreibt Machiavelli:

Doch die schlimms­te Sei­te der schwa­chen Repu­bli­ken ist, daß sie unent­schlos­sen sind. Alle Maß­re­geln, die sie ergrei­fen, ergrei­fen sie durch Zwang, und ereig­net es sich je, daß sie etwas Zweck­mä­ßi­ges tun, so tun sie es gezwun­gen und nicht aus Klugheit.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (9)

Hartwig aus LG8

17. Januar 2017 13:52

In drei Tagen wird ein Mann Präsident der USA, dem es gelungen zu sein scheint, die moralischen Kosten drastisch zu senken. Zumindest scheint er nicht bereit zu sein, diese Kosten zu übernehmen, obwohl ihm allenthalben entsprechende Rechnungen ausgestellt werden.

Und was die tatsächlichen Kosten betrifft: Man solle sich für alle Moralapostel die Mühe machen, eine Litanei an Schlagzeilen der letzten Jahre zusammenzutragen. Vom Negativzins bis zur Rekordverschuldung und Bankenrettung, von der Zerrüttung der EU, dem Brexit und den gebrochenen Verträgen (Maastricht, Dublin, Schengen), dem Terror in Europa, dem frostigen Verhältnis zu Russland bis zum brennenden Nahen Osten, ISIS, Israel-Palästina, dem Failed-State Libyen, auch die Rassenunruhen in USA bis zum immer noch betriebenen Guantanamo. Und wozu diese Liste? Das geht auf Rechnung von Obama, Merkel, Junker, Hollande etc.  So ist die Welt vor Trump.

Der Gehenkte

17. Januar 2017 13:55

Damit hat mich Poensgen endgültig überzeugt. Endlich ein ausgewogener und auch selbstkritischer Beitrag, der über Analyse hinausgeht und versucht, aktiv Schneisen zu schlagen, Lösungsvorschläge zu bringen, aus der Metapolitik heraus politisch zu werden.

Aus ebenjenen moralischen Kosten wird sich das Programm der Remigration als undurchführbar udn als realpolitische Illusion erweisen, zumindest im derzeitigen politpsychologischen Klima.

Die Menschen werden einerseits die Bilder und das Wissen vom tatsächlichen Leid nicht ertragen - ein Volk, das über Generationen ohne Leid- und Schmerzerfahrung aufwächst, kann fremdes Leid nicht mehr akzeptieren.

Und es wird sofort Meinungsführer geben, die durch verbale Fliegenklatsche alles stigmatisieren. Peter Sloterdijk hatte eine "wohltemperierte Grausamkeit" eingefordert und umgehend kam Precht mit der Nazikeule.

Es hilft momentan nur eines: den Vollversorgungsmagneten abzustellen. Die Geschichte der Migrationsströme kann nämlich auch aus der Sogperspektive erzählt werden:

"Im Juli 2012 hatte das Bundesverfassungsgericht die 1993 beschlossenen und seinerzeit als Erfolg gefeierten Grundleistungsbeträge nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz für grundgesetzwidrig erklärt. Danach wurden die Leistungen zum Lebensunterhalt deutlich angehoben. Miete, Nebenkosten, Krankenversicherung sind für Asylbewerber frei, der Barbetrag zur Deckung von Grundbedürfnissen (Zusatzausgaben für Transport, Kommunikation etc.) wurde von 40 auf 140 Euro pro Person angehoben usw. Nach 15 Monaten im Lande wurden Asylbewerber de facto Hartz-IV-Empfängern gleichgestellt.

Im Jahre darauf begannen die Asylbewerberzahlen deutlich zu steigen. 2011 wurden 45 000 Asylanträge gestellt, zehn Prozent mehr als 2010. 2012 waren es 65 000. Ein Jahr nach dem Beschluß hatte sich die Zahl auf 127 000 verdoppelt, um 2014 eine erneute Verdopplung zu erfahren.

2014 kamen also bereits fünfmal mehr Asylsuchende nach Deutschland als drei Jahre zuvor – der Zusammenhang mit den erhöhten Verpflegungsgarantien ist evident."

Das läßt sich nur politisch ändern und die beste Chance stellt derzeit die AfD dar - es ist aber nicht auszuschließen, daß auch andere Parteien irgendwann diesen Zusammenhang geltend machen. Also muß es unsere Aufgabe sein, die AfD zu stärken und alle ähnlich denkenden Kräfte in anderen Parteien udn Organisationen. Wie das freilich zu geschehen hat, ist diskutabel.

Heinrich Brück

17. Januar 2017 14:06

Asylrecht, also Recht auf Asyl? Bei demographischen Überkapazitäten gibt es Recht auf Asyl, muß es geben, denn Übervölkerung ist immer Mord und Totschlag. Asylrecht ein anderes Wort für: friedliche Übernahme geographischen Raumes. Zeitgemäß abgeschafft oder zeitgemäß angewendet.

Wird das Asylrecht nach Assimilierbarkeit angewendet, gilt das Vorrecht der Verteidigung des eigenen Territoriums. Oder die Vorrechte werden ungültig, dann gilt das Recht auf Eroberung ohne Krieg.

In einer überbevölkerten Welt wird das Asylrecht ein Luxusrecht, gewährt der Hochintelligenz assimilierbarer Minderheiten. Der Rest ist Überlebenskampf und territoriale Neuordnung.

Rosenkranz

17. Januar 2017 18:03

Ein sehr guter Artikel. Ich werde ihn sicher noch öfter lesen. 

Man sagt immer, daß die sogenannten Flüchtlinge unbewaffnet seien. Ich finde aber deren schärfste Waffe ist es, uns europäische Ureinwohner moralisch zu erpressen und dann maßlose Forderungen zu stellen. Unsere Hilfsbereitschaft, auch dem Fremden zu helfen wird somit eben auch von diesem gnadenlos ausgenutzt. Nicht umsonst ziehen die Asylforderer Kinder und junge Frauen in die erste Reihe, wenn es darum geht, häßliche Bilder zu erzeugen und die Moral des Gegners zu untergraben. 

Monika L.

17. Januar 2017 18:13

"Europa indes wird nach dem amerikanischen Rückzug verdammt nackt dastehen, mit einem derzeit noch moralisch großmäuligen Deutschland inmitten, das von einer übergeschnappten Kanzlerin geführt wird, aber tatsächlich unbewaffnet und verteidigungsunfähig ist und mit seinem Reichtum zu Landnahme und Raub einlädt. Deutschland wäre derzeit nicht in der Lage, auf den inneren Angriff von, sagen wir, 5000 gut organisierten Dschihadisten zu reagieren. Statt aufzurüsten, zahlt der Staat Milliardensummen Schutzgeld an potentielle Feinde, Unruhestifter und Kriminelle im Inneren. "

Klonovsky, acta 16.1.17

Am Ende sind die " moralischen Kosten" zur Vermeidung des Unheils so groß wie die Kosten für die militärische Abwendung des Unheils . Dazwischen spielt Politik.

Angesichts der ungeheuren Völkerwanderung scheint es nur wenig politischen Spielraum zu geben. Das ganze erinnert eher an eine Naturgewalt, denn an eine Verschwörung oder ein kulturelles Problem.

solitude

17. Januar 2017 18:20

Im Grunde geht es um politische Opportunität; um den Pragmatismus, den ein Regierender trotz hehrer Ziele und Ideale immer an den Tag legen muss. Es ist deshalb schmerzlich - aber völlig berechtigt - festzustellen, A. Merkel hätte in der Situation vom September 2015 machtpolitisch vor dem Hintergrund des herrschenden Zeitgeists richtig gehandelt. Ein Fürst oder Führer wird immer mehr oder weniger in den Determinanten des Zeitgeists gefangen sein, was übrigens den Siegeszug der Nationalsozialisten besonders interessant macht. War nun der Zeitgeist in der Weimarer Republik überhaupt nicht demokratisch oder waren die Nationalsozialisten besonders erfolgreich darin, innerhalb kürzester Zeit metapolitisch erfolgreich zu sein? Oder waren es im Besonderen die schlechten wirtschaftlichen und außenpolitischen Umstände (Reparationen, Ansehen des Deutschen Reichs)? Hatte Hitler schlicht Glück, von den konservativen Kräften letztlich doch ins Amt gehoben worden zu sein? Wir wissen heute, dass die Machtübernahme von all diesen Faktoren und mehr abhing. Dennoch erscheint die rasche Umwälzung der politischen Landschaft vor der heute herrschenden Trägheit faszinierend.

Die "moralischen Kosten" müssen nicht nur gegen den drohenden Schaden gerechnet werden, sondern sind - wie Poensgen anmerkt - selbst relativ. Das gleiche gilt für "politische Kosten" ganz allgemein. Als Napoleon von Friedrich Wilhelm III. 1812 verlangte, ihm freies Geleit durch Preußen für den Marsch auf Moskau einschließlich der Versorgung seiner Truppen zu gewähren, gab dieser nach. Es war eine für die damals aufstrebende patriotische Bewegung ungeheuerliche Schmach. Trotz vieler zwischenzeitlicher Unmutsäußerungen wartete der zaudernde König bis nach Napoleons erfolglosen Russlandfeldzug ab und erst als der Zeitpunkt für eine Allianz mit Russland und Österreich 1813 günstig war, stellte er sich (beinahe im letzten Moment) gegen das mächtige Frankreich. Im Nachhinein hatte er mit seinem Zaudern und seinen Bedenken Recht; ebenso jedoch im Grunde die aufstrebenden Patrioten. Es galt nur, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten.

Politik ist auf der ersten Ebene Interessensausgleich, auf der zweiten Ebene ist sie Kommunikation. Ebenso wie ein Jurist muss ein Politiker daher immer zunächst eine Einzefallabwägung auf Grund der jeweiligen Umstände treffen und sie anschließend vermitteln können. Es hängt letztlich von den individuellen Maßstäben ab, welche Entscheidung jeder Einzelne fällt. Ärgerlich ist hingegen, dass von der politischen Linken bis ins Zentrum (CDU) so getan wird, als wären ihre Entscheidungen stets vertretbar, während die der (neuen) Rechten stets unvertretbar seien. Genau deshalb erkennt Poensgen ganz richtig, dass auch der Meinungskampf der Rechten sich des Scheins bemächtigen muss, um die Stimmung zu drehen. Nach der reinen Lehre wird die Macht nicht zu erringen sein. Doch errungen werden muss sie.

Gotlandfahrer

17. Januar 2017 18:50

Exzellent. Nur eines verstehe ich nicht:

"Die moralischen Kosten müssen sinken, oder die Wahrnehmung der Schäden muß steigen.

Die erste Lösung wird seit Jahrzehnten von Europa vorexerziert. .. Da man aber den Migranten an der eigenen Grenze nicht ohne häßliche Szenen abweisen kann, ist man schon lange dazu übergegangen, die Drecksarbeit an die Folterknechte fremder Potentaten auszulagern.“

Das klingt so, als ob die politisch Handelnden es sich moralisch nur nicht erlauben könnten, die Grenze zu schließen, obwohl sie es eigentlich für geboten hielten und sie daher das Ziel auf Umwegen zu erreichen versuchen.

Damit könnte ich leben. Allein: Daran glaube ich nicht im Leben, denn dann wäre es ihnen möglich, sublime Botschaften an das Volk zu senden, sich der Falschheit des moralischen Standards bewusst zu werden. Stattdessen schärfen sie die Standards in die von ihnen bewusst angestrebte Richtung täglich.

 

Wie dem auch sei, da die Moral ohnehin die Residualgröße der herrschenden Verhältnisse ist, kommt es auf diese gar nicht an, sondern auf den wahrgenommenen Schaden. Folgerichtig setzt hier der ‚zweite Weg‘ an, und auf ihm sollte man sich eben gar nicht erst von der irrelevanten Moral ins Bockshorn jagen lassen, denn die wird sich automatisch anpassen. Sie ist lediglich Wahrnehmungsdämpfung, ein Herrschaftskonstrukt gegen das man sich nicht abmühen sollte solange die Herrschaft besteht. Da die Moral der Herrschenden immer mit ihnen untergeht besteht die Lösung eigentlich darin diesen Trend nicht aufzuhalten. 

 

Sven Jacobsen

17. Januar 2017 20:44

Ein gelungener Artikel. Johannes Konstantin Poensgen ist ein kluger Mann und selbstverständlich ist davon auszugehen, dass er Machiavellis „Il Principe“ als moderne Metapher für eine in sich einige, geschlossen auftretende Regierung heranzieht, denn die Bundeskanzlerin hat - bei allem gebotenen Respekt – nichts mit einem hart durchgreifenden Cesare Borgia gemein, der Machiavelli so sehr faszinierte. Nun, ein wichtiger Satz in „Il Principe“ lautet, ein Herrscher (im Sinne der gerade beschriebenen Regierung) habe alle für die Durchsetzung der Herrschaftsgewalt notwendigen Grausamkeiten auf einmal zu begehen. Der Begriff hat einen üblen Beigeschmack. Man muss aber die Entstehungszeit der Schrift Machiavellis bedenken. Die Annahme jedenfalls, es sei besser schnell und ggf. hart zu handeln, ließe sich, auf die heutigen Umstände und die Migrationskrise bezogen, als eine konsequente Haltung verstehen, die bspw. darin bestünde, die Grenzen wirkungsvoll zu schließen, so grausam das auch wirken würde, und gleichzeitig humanitäre Maßnahmen in den Herkunftsstaaten anzubieten oder Schutzzonen durchzusetzen. Die Regierung tut gerne so, als ob Grenzschutz sich nicht bewerkstelligen ließe oder als ob Humanität nur in Deutschland möglich sei. Doch derzeit ist die moralische Bilanz der Kanzlerin und der ihrer Koalition der Anständigen nur bei oberflächlicher Betrachtung positiv: Jeder, der noch nicht hierher gekommen ist und vergleichbare Gründe hätte aufzubrechen, wird sich früher oder später fragen, was ihm zukommt; die erkennbaren, wenn auch zaghaft-unglaubwürdigen Schritte, den Migrantenstrom zu drosseln, erkauft man sich mit der harten Konsequenz anderer Staaten (wie Ungarn), was sich zunehmend herumspricht; Ankündigungen, man brauche Zuwanderung wegen des demographischen Wandels und wegen des Mangels an Fachkräften, bescheren den meisten Migranten nach anfänglichen Illusionen die blanke Ernüchterung. Die Liste der Widersprüchlichkeiten ließe sich fortsetzen. Das Handeln der Kanzlerin lässt sich vermutlich nicht nach den Kriterien der Machtpolitik im Sinne Machiavellis beschreiben, sondern eher als Schwäche oder Zögerlichkeit, die sich tagtäglich in der Art fortsetzt, wie die Migrationskrise in Deutschland verwaltet wird. Es ist zwangsläufig, dass ein Mangel an innerer Sicherheit wegen der staatlichen Schwäche schwere Probleme nach sich zieht.

Zarathustra

18. Januar 2017 12:51

Ausgezeichnet! Zweifellos einer der besten Beiträge bei der Sezession! Nüchtern, durchdacht, und im Gegensatz zu den Akifismen der letzten Zeit im besten Sinne intellektuell d.h. tiefgehend (aber kein »intellektueller Rülpser« und keine Auftischung von Halbverdautem).

Das konkrete Beispiel der sog. »Flüchtlingskrise« zeigt: In einer Mediendemokratie, in der Entscheidungsträger stets auf das Moralempfinden und die Sentiments der Medienkonsumenten zu achten haben und nur unter diesen Bedingungen überhaupt an die Macht gelangen und die Macht erhalten können, bekommt die Mehrheit letztlich das, was sie gemäß seiner geistig-emotionalen Reife auch verdient: Wer nicht nüchtern für den Erhalt der eigenen Existenzbedingungen zu entscheiden vermag und die Konsequenzen solcher Entscheidung zu ziehen bereit ist (»die häßlichen Bilder« etc.), muß entweder einer pre- bzw. postdemokratischen Herrschaft unterworfen werden (einem »guten Hirten«) oder untergehen.

Wer nicht wahrhaben will, daß faktisch existierender Gewalt und faktisch gegebenen Verformungs- und Zersetzungstendenzen nur mit Gegengewalt und mit absolutem Formwille (im Kulturellen) zu entgegnen ist, der kann nicht lange sich selbst regieren. Wahre Demokratie verdient nur derjenige und behält langfristig auch nur derjenige, der dazu die intellektuelle und emotionale Reife besitzt.

Diese Reife zu gewinnen bedeutet heute vor allem, über die Gefühlsduseleien der christlichen Moral hinauszukommen. Schafft Europa nicht, in diesem Sinne über sich selbst hinauszuwachsen, dann wird unweigerlich die Nietzschesche Prophezeihung eintreffen, daß »Europa am Christentum zugrundegeht«.

Wie wichtig die metapolitische Arbeit hierfür ist, dürfte klar sein.

    Zarathustra

 

Für diesen Beitrag ist die Diskussion geschlossen.