In der U‑Bahn sitze ich heute zwei Lehrern gegenüber, die Order bekommen haben vom Stadtschulrat, daß fürderhin jede “Vorwissenschaftliche Arbeit” in der Oberstufe gegendert sein müsse, sonst werde sie nicht akzeptiert. Normale Hausübungen sollten mit Fehlern angestrichen zurückgegeben werden, wo der Schüler das gendern nicht korrekt berücksichtigte.
Die beiden Pädagogen erklärten einander erst, was genau gemeint sei (Binnen‑I, Sternchen, beide Geschlechter immer ausschreiben oder neutrale Partizipialendungen wie “Studierende” oder “Lernende”). Die Lehrerin überlegte, ob man das wohl auch müsse, wenn eine Gruppe rein aus einem Geschlecht bestehe, vermutete, dann müssen man wohl auch gendern, und dann – ja, dann nahmen sie das Dekret zur Kenntnis. “Ist ja eine wichtigte Information”, meinte ihr Kollege.
Ihnen fiel nicht auf, daß diese Regelung einen massiven Einschnitt in die deutsche Sprache und die Freiheit der Rede bedeutet: Wer sich weigert, diese Schreib- und Sprechweise zu übernehmen, wird bestraft, im Zweifelsfalle nicht zur Matura zugelassen, denn Voraussetzung dafür ist eine bestandene VWA. Schleichend ist für diese beiden repräsentativen Protagonisten des Bildungssystems Gender Mainstreaming normal geworden, so daß ein neues Gesetz nur noch eine Formalie zu sein scheint.
Die Idee der “Normalisierung” ist aus der Diskursanalyse heraus in den sogenannten Critical studies entwickelt worden, um die unbewußte Macht sprachlicher Muster, die eine scheinbar unbezweifelbare Normalität schaffen, zu kritisieren. Keiner merkt von innen, in welchen Normalismen er drinsteckt, wie er zuordnet, kategorisiert, urteilt. In latentem “Rassismus” oder der durch die Queer studies in die Welt gesetzten, ubiquitären “Heteronormativität” zeigen sich diese normalitätskonstruierenden Muster, die unter der individuellen Wahrnehmungsschwelle ihr übles Eigenleben führen.
“Normalismus” ist ein typisches linkes Theoriegespenst. Doch vielleicht benutzt rechte Kritik genau dasselbe Muster? Wenn ja, setzt sie ein konstruktivistisches Denken voraus, das sie eigentlich gar nicht vetreten kann? Oder läßt sich ein substantieller Begriff des “Normalen” begründen und dann als haltbare Kritikfolie für falsche Normalisierungen benutzen?
In Jürgen Links Standardwerk zum Thema “Normalismus” liest man, daß von “Normalität” erst seit dem 18. Jahrhundert sinnvoll gesprochen werden kann. Um 1800 konstituieren sich die später als Humanwissenschaften bezeichneten Fächer. Michel Foucault, Links Gewährsautor, hatte das eingehend dargestellt.
Zuerst ist das Begriffsfeld besetzt durch protonormalistische Begriffspaare wie “Gleichgewicht/Ungleichgewicht”, “Identität/Nicht-Identität”, “gesund/krank”, “legitim/illegitim”, “schön/häßlich”, “natürlich/unnatürlich” usw. Diese Zweiseitenformen sind phänomenal „in der Welt“, sie reflektieren ihren Codecharakter nicht mit, die beobachteten Objekte sind gesund, krank, natürlich, unnatürlich.
Mit einer klaren historischen Teleologie trifft Link die für seine Untersuchung zentrale Differenz zwischen “Protonormalismus” und “Flexibilitätsnormalismus”: Der Protonormalismus orientiert sich an präexistenten Normen. Mit Link (und – man verzeihe mir das plumpe Wortspiel – allen anderen Linken) darf man diesen für historisch überholt halten, sowas von 18. Jahrhundert!
Heute geschieht, was Link einen flexiblen Normalismus nennt: Die Gesellschaft bildet zunehmend Mechanismen der Selbstbeobachtung aus. Normen werden nicht mehr einfachh gesetzt, sie kristallisieren sich als eine Zone des ›Normalen‹ heraus, die Orientierungswert für die Individuen gewinnt; der Wunsch, normal zu sein und sich in der komfortablen Mitte der Gaußkurve zu bewegen, verknüpft Input und Output zu einer Art Regelkreis: Die zunehmende Berufung auf Normalität, die Link beobachtet, bringt die Gaußkurve gleichzeitig hervor.
Typisch für diese Art der Normalisierung ist, daß in den flachen Randzonen der Normalverteilung die Grenzen des Normalen immer aufs Neue ausdiskutiert werden müssen und jeder weiß, daß „normal“ ja schließlich relativ ist.
Paradox daran ist, daß gerade das, was diskursiv besonders präsent, dominant und häufig und damit, wie man denken sollte, besonders sichtbar ist, unter die Schwelle der Wahrnehmung gerät. Als selbstverständlich vorausgesetzt, können solche Inhalte von der textuellen Oberfläche der Diskurse sogar ganz verschwinden; sie gehen in das Reservoir jener stummen Vorerwartungen ein, die den Diskurs strukturieren, jenseits und unterhalb seiner Oberfläche.
Links Argumentation ist insofern trickreich, als er durch Paradoxalisierung die oben vorangeschickte Differenz “naturgegeben/konstruiert” selber noch einmal konstruktivistisch überwölbt mit der Foucaultschen Unsichtbarkeitsthese. “Unter die Schwelle der Wahrnehmung geratene Mechanismen der Normalisierung” heißt doch, daß jedweder Versuch, irgend etwas Soziales noch für natürlich zu halten, eben dadurch wegerklärt werden kann, daß hier sich eben „paradoxerweise“ Konstruktion „unsichtbar macht“. Ideologiekritik hat es immer schon geschafft, sich auf diese Weise unangreifbar zu machen, daß jeder Einwand Ausdruck der abgelehnten Ideologie sei.
Das Schlimme am flexiblen Normalismus ist, daß man ihn eigentlich nicht mehr schlimm finden darf. Denn normative Wertung („Schlimmfinden“) gehört in eine historische Vorstufe, den “Protonomalismus”. Da ließ die historische Semantik noch zu, Begriffspaare wie “gesund/krank”, “legitim/illegitim”, “schön/häßlich”, “natürlich/unnatürlich” zu verwenden und soziale Fragen entsprechend zu beantworten.
In der christlichen Kultur ist man Kreuze gewöhnt. Deshalb hat ein Kreuz in einem Verhandlungssaal bei uns keinen Auffälligkeitswert – im Gegensatz zu Kopftuch oder Kippa bei Amtsträgern. Das darf man nicht vermengen.
Dies äußerte der österreichische Justizminister Wolfgang Brandstetter in einem KURIER-Interview. Es geht darum, daß im öffentlichen Dienst und in Brandstetters Zuständigkeitsbereich, dem Gerichtssaal, religiöse Kleidungsstücke und Symbole in Zukunft verboten sein sollen. Kreuze in österreichischen Gerichtsräumen stellten nun eine Ausnahme dar, so der Minister. Begründung: “kein Auffälligkeitswert”.
Hier kann man das Problem des flexiblen Normalismus beobachten, das ihn womöglich erledigen könnte. Brandstetter will einerseits dem Common sense Ausdruck verleihen, daß Kruzifixe in öffentlichen Räumen dazugehören und sie zu entfernen eben ein dezidiertes Bekenntnis gegen die christliche Kultur Österreichs darstellen würde, mithin begründungsbedürftig wäre. Er ist von jedem Protonormalismus weit entfernt. Schwach normativ wäre noch der Rekurs auf die christliche Geschichte dieses Landes, stark normativ wäre der Schutz Gottes, unter dem die Justiz handelt.
Brandstetter begründet flexibel normalistisch, denn “Auffälligkeitswert” hat, was in der Normalverteilungskurve am Rand liegt. Der normale Österreicher trägt eben weder Kopftuch noch Kippa und ist “Kreuze gewöhnt”. Damit hat er aber – und das ist das Problem der flexiblen Normalisierung – keinen Maßstab mehr in der Hand, mit dem er irgend etwas dagegenhalten könnte, daß halt in ein paar Jahrzehnten oder schneller der durchschnittliche Österreicher sehr wohl Kopftuch trägt und Kreuze nicht nur nimmer gewöhnt ist, sondern als diskriminierend empfindet.
Oder wie die zwei Lehrer es für “normal” hielten, ihre Schüler zum Gender-Newspeak zu zwingen: Jetzt ist es eben normal, liebe Lehrer*innen, LehrerInnen, Lehrer und Lehrerinnen, liebe Lehrende. Sie werden jetzt “normalisiert”, falls Sie noch überholten Normalisierungen anhängen sollten und das “männliche Geschlecht” (Sexus wie Genus) für normal halten. Flexibler Normalismus ist selber ein Machtmittel und kann das nicht sehen.
Was passiert, wenn nun rechte Kritik sich des “Normalismus” bedient? Auf der amerikanischen AltRight-Seite radixjournal.com findet sich ein polemischer Aufsatz, übertitelt schlicht: “Normal”.
Der Autor bezieht sich auf Richard Spencers aufsehenerregende Rede, in der er sarkastisch konstatierte, was in „this current year“ 2016 in den USA „normal“ geworden sei. Beispiele aus beiden Texten: Ein Professor kündigt an, eine ganze Menschenrasse auslöschen zu wollen. Wer dies für verrückt halte, sei böse, denn White genocide sei doch das eigentliche Gute. Massen von Illegalen üben mehr und mehr Verbrechen aus, ein neugewählter Präsident kündigt ihre Ausweisung aus dem Land an. Was ist das? Ein “Angriff auf Familien”, was sonst. Wenn die Mächtigen den Ohnmächtigen einredeten, sie würden ihre „Privilegien“ ignorieren, kann man nur sagen:
This is ’normal’.
Dagegen heißt es, Donald Trump sei nicht “normal.” Man dürfe ihn und seine Anhänger auf keinen Fall “normalisieren”, und diejenigen, die Trump als ganz normalen Mann darstellten, würden verflucht.
This isn’t normal. Nothing about our culture is normal. Nothing about the state of our people is normal. But Trump’s election is one tiny step towards normality.
Wird hier ein „protonormalistischer“ Normalitätsbegriff in Anschlag gebracht? Das steht zu hoffen. Schließlich wissen die AltRighter ganz genau, was auf dem Spiel steht, was hier verloren geht, wenn man der flexiblen Normalisierung das Feld räumt. Ein Kämpfer, wer das heute noch kann! Klug, wer diese Waffe im Kampf der Kulturen wiedererlangt. Vom flexiblen Normalismus hat er gelernt, die unbewußte Macht sprachlicher Muster, die eine scheinbar unbezweifelbare Normalität schaffen, zu kritisieren. Er nutzt das ideologiekritische Arsenal der Linken aus, das ja offen daliegt.
Aber er hat auch gelernt, daß es in handlungslähmende, entscheidungshemmende Paradoxien führt, die eigenen Wertsetzungen ständig selbst in Abrede zu stellen und für diskursive „Normalisierungen“ zu halten. „I wish everything to my child, but not to be normal.“ Diesen Wunsch einer Mutter las ich vor Jahren auf einer amerikanischen Hochbegabtenseite. Reichlich überheblich. Inzwischen fürchte ich, daß es diesen Geist braucht, um Normalität zu bewahren.
A. Kovács
Ich erlaube mir, zu diesem Thema das Buch des Philosophen und Soziologen Alexander Ulfig zu empfehlen, der schlüssig nachweisen kann, dass all diese "Thesen" im postmodernen Relativismus ihre Ursache haben, also in einer von enttäuschten Ex-Marxisten à la Lyotard geschaffenenen Ideologie: Wege aus der Beliebigkeit: Alternativen zu Nihilismus, Postmoderne und Gender-Mainstreaming. Baden-Baden: Deutscher Wissenschafts-Verlag (DWV) 1. Aufl. 2016. Broschur. 141 S. € 24,95.