das ich seit langem geführt habe. Während einer Bahnfahrt von Koblenz nach Trier begegnete ich einem, ja was eigentlich?
Ich befand mich auf dem Rückweg vom Kongress „Freiheit für Europa“. Da die ausrichtende ENF-Fraktion mit Elementen der Trump-Rallies experimentierte, hatte ich vier große Pappschilder mit den Namen der Hauptredner dabei. Während der Veranstaltung konnte man diese beim Applaus für den jeweiligen Redner hochhalten. Ich hatte mir die Schilder mitgenommen um draußen angesichts des Antifaaufmarsches Flagge zu zeigen. Gut, ich will ehrlich sein, ich hatte meine Schilder erst auf meinem Sitz gelassen und dann gesehen, wie ältere Herren und auch Damen reihenweise mit Schildern das Gebäude verließen. Ob sie nun mutig waren oder die möglichen Konsequenzen nicht ganz begriffen – auf jeden Fall hatte ich mich am Portepee gepackt gefühlt, war zurückgegangen und hatte auch meine Schilder geholt.
Eine Schlägerei brachte mir mein Heldenmut diesmal nicht ein. Die Antifa hatte sich bereits verzogen. Ich gelangte unbehelligt zum Bahnhof. Auch dort kam es nicht zu den im Vorfeld gefürchteten Ausschreitungen, was an den zwei Dutzend Polizisten gelegen haben mag, die sich dort wegen des ganzen Unfugs die Beine in den Bauch stehen mußten. Am Kiosk kaufte ich mir noch eine Zeitschrift (nicht die Sezession: erstens lag sie als exklusiv über sezession.de und antaios.de erhältliches Periodikum dort nicht aus, zweitens halte ich sie im Abonnement, inzwischen sogar von Amts wegen.)
Im Zug ergatterte ich einen Sitzplatz mit Tisch, welcher das Lesen auf längeren Strecken doch angenehmer macht. Auf diesen Tisch legte ich den Stapel mit meinen Pappschildern, Geert Wilders befand sich ganz oben, die anderen darunter. Ich hatte den Stapel besonders sichtbar plaziert, allerdings darauf verzichtet, ihn auszubreiten und somit den unvorbereitet den Mittelgang Entlangkommenden auch noch mit den Namenschildern Marine le Pens, Frauke Petrys und Matteo Salvinis zu konfrontieren.
Es ist immer dasselbe, wenn ich mit irgendwelchen Erkennungszeichen von einer politischen Veranstaltung zurückkehre. Ich denke beständig daran, wie sichtbar sie sind und ob ein etwas dezenteres Mitführen möglicherweise der Feigheit geschuldet, ein offensiveres möglicherweise zu Provokant sei.
In diesem Falle brachte mir jedoch bereits die Stapelpräsentation genügend Aufmerksamkeit ein. Ich hatte gerade begonnen, in meiner Zeitschrift zu lesen, da betrat eine Gruppe von Männern um die sechzig Jahre den Wagon. Einer erblickte den Namen Geert Wilders und es entspann sich eine kurze Debatte innerhalb der Reisegruppe, ob man sich nicht möglichst weit von mir entfernen solle. Man setzte sich schließlich dennoch auf die Sitze um den mir gegenüberliegenden Tisch. ‚Man‘, das waren alle bis auf einen, der sich mir demonstrativ gegenüber setzte und begann seine mitgebrachten Kuchenstücke zu verzehren.
Noch bevor er aufgegessen hatte sprach er mich an, was das denn für Schilder seien. Ich erklärte es ihm, wie man so etwas in so einer Situation eben erklärt. Es war klar, daß dieser Mann auf irgendeine Art von Debatte aus war. Auf was für eine, konnte ich noch nicht sagen. Er fragte mich erst einmal generell, warum ich denn diese Politik unterstütze, vielleicht schien ihm dies als einfachste Eröffnung eines Gesprächs, vielleicht versuchte er seinen Gegner abzutasten, seine Satisfaktionsfähigkeit zu testen, oder ihn vielleicht in den Allgemeinheiten seiner Anschauungen zu verwickeln und zu Rechtfertigungen zu zwingen, die ihm schon durch den Zeitdruck schwerfallen (ein bewährter Trick gegenüber dem Ungeübten).
Ich tastete mich ebenfalls heran. Erfahrungsgemäß bewirken plakative Aussagen der Marke „Unser Volk wird ausgetauscht!“ entweder den Gesprächsabbruch oder die Eskalation zu einem lauthalsen Streit. Ich wollte keines von beiden, sondern war neugierig, mit wem ich es zu tun hatte. Die nächste Frage meines Gegenübers brachte mich fast dazu die Augen zu verdrehen. „Reisen sie nicht gerne in Europa?“ Nachdem ich ihm verdeutlicht hatte, daß ich den Wegfall der Grenzkontrollen bestenfalls als eine Annehmlichkeit betrachte, fiel ein kurzer Wortwechsel, der das folgende Gespräch eigentlich schon in sich beschloß:
„Was haben sie denn dagegen, daß Sie sich überall in Europa niederlassen können?“
„Dann kann ja keiner mehr kontrollieren, wer in sein Land kommt.“
„Es geht Ihnen also um Kontrolle?“
„Natürlich geht es in der Politik immer darum, etwas zu lenken.“
„Ich dachte es ginge um Freiheit.“
„Das beißt sich doch nicht.“
Da ich ihm auf die Frage, was mich denn an der Europäischen Union störe, den Euro samt seiner Rettung genannt hatte, fragte mich dann, ob ich ein Bankkonto hätte und nachdem ich dies bejaht hatte, fragte er weiter, wer denn im Bankrottfalle die Spareinlagen retten würde, doch der Steuerzahler, oder? Hier ginge es doch um Risikoverteilung und dieses Prinzip ließe sich doch im größeren, also europäischen Maßstab denken. Das Gespräch entwickelte sich von dort zu einem Schlagabtausch über wirtschaftliche Fragen, in dem sich mein Gegenüber als zwar nicht gerade theoretisch denkender, aber gut informierter Zeitgenosse erwies. Der genaue Inhalt dieser Debatte ist an dieser Stelle nicht von Belang, mit einer Ausnahme jedoch, deren Bedeutung mir erst im weiteren Verlauf klar wurde.
Ich hatte das Beispiel der Atomenergie verwandt, um das Versicherungsproblem zu verdeutlichen. Eines der Probleme der Kernenergie besteht darin, dass Reaktorunfälle unversicherbar sind. Der Schaden wäre so groß, dass selbst die Rückversicherungsgesellschaften ihn nicht stemmen könnten, die Geschädigten somit auf ihren Schadensersatzforderungen gegen die Betreibergesellschaft sitzen blieben. Mit den Finanzschwierigkeiten der Südeuropäer ist es im Grunde dasselbe. Sie übersteigen schlichtweg den Rahmen dessen, was die Solidargemeinschaft Europa noch tragen kann.
Die Antwort meines Gegenüber verwirrte mich außerordentlich. Er erklärte, daß es sich beim Risiko der Atomenergie um ein technisches Problem handle, das andere jedoch menschengemacht sei. Er weigerte sich strikt, die Sachverhalte auf ihren versicherungstechnischen Gehalt zu reduzieren und ich fühlte mich dadurch bereits gefoppt. Worauf er damit hinaus wollte, erschloß sich mir erst, als wir auf den Grunddissens unserer Zeit zu sprechen kamen.
Die Aufnahme der sogenannten Flüchtlinge war ihm zunächst eine vorpolitische Verpflichtung, sie ginge politischen Erwägungen voran, weil sie, wie er sich ausdrückte, tiefere Bereiche erfasse. Als ich ihm die massiven Schäden vorhielt, die uns die Übernahme dieser Verpflichtung bis jetzt eingebracht hatte und die viel größeren, die noch kommen würden, da erklärte er sich, was die Sachverhalte im einzelnen anbelangte, durchaus einverstanden.
Unter seiner Zustimmung zählte ich Fall für Fall auf. Die Frage ethnischer Homogenität, führte uns in eine niveauvolle, hier jedoch nicht weiter bedeutsame Erörterung der segmentierten Gesellschaften des Orients. Sein Standpunkt was unsere eigene, gegenwärtige Situation betrifft, ließ sich jedoch folgendermaßen zusammenfassen: Die Mißstände sah er oberflächlich betrachtet nicht anders als ich. Sie waren ihm aber keine Notwendigkeit, die aus den demographischen Verschiebungen folgt.
Es gebe hier nichts, was sich nicht demokratisch gestalten ließe. Diese Überzeugung reichte viel tiefer, als jedes technokratische Machbarkeitsideal und war inhaltlich dessen genaues Gegenteil. Wir näherten uns in unserem Gespräch – was nur sehr selten geschieht – dem Punkte, an dem die hintergründigen, gar nicht immer bewußten Überzeugungen zutage traten.
Während ich ihn immer wieder auf die durchaus berechenbaren Folgen gewisser demographischer Konstellationen verwies, hielt er dem jene Freiheit entgegen, die er zu Beginn bereits angerufen hatte. Erst jetzt wurde mir klar, was er damit gemeint hatte. Es ging ihm um die anthropologische Vorstellung, nach welcher der Mensch sich durch seinen freien Willen und seine Lernfähigkeit vom Tier unterscheidet. Das stand hinter seiner demokratischen Gestaltbarkeit.
Wenn also in Vierteln mit entsprechendem Ausländeranteil die Kriminalität explodiert und Clanstrukturen die Staatsmacht herausfordern, so müßten eben Leute aufstehen und ihre demokratische Möglichkeit wahrnehmen, die Gesellschaft zu verändern. Die Gesellschaft bestünde doch letztlich aus Menschen, welche, im Unterschied vom Tier, mit Lernfähigkeit und freiem Willen begabt seien. So gab es führ ihn ernsthaft kein gesellschaftliches Problem, das nicht lösbar sei. Dies hatte auch seiner Unterscheidung zwischen dem technischen Risiko eines Atomkraftwerks und dem menschlichen eines südeuropäischen Zahlungsausfalls zugrunde gelegen.
Die Vorstellung, daß eine weitere Überfremdung zwangsläufig zu immer schärferen Konflikten führen wird, die früher oder später äußerst gewalttätig werden müssen, war ihm deshalb fremd wie nur irgend etwas. Der Krieg, wenn er denn käme, müsse ja schließlich auf den Entscheidungen freier Menschen entspringen. Das Problem war nun, daß diese Ableugnung der Soziologie nicht der Dummheit entsprang, sondern dieses Menschenbild mit einem ethischen Ideal verwoben war, in welchem diese Freiheit, Lern- und Entwicklungsfähigkeit das spezifisch Ethische am Menschen ausmachten. Daß man dies zur Geltung bringen könne, sei wiederum der Kern der Demokratie. Er war konsequent genug mir, nachdem er mich nach meinen Eindrücken vom Kongress gefragt hatte zu sagen:
„Es ist toll, mit so vielen Menschen, die die eigene Sache vertreten, zusammenzusein. Auch wenn ich sagen muß, dass ich ihre Sache für menschenverachtend halte.“
Wir kamen auf diesem Wege nicht weiter und ich führte das Gespräch in Richtung der Identitätsprobleme unserer Zeit. Wir erzielten schnell Einigkeit, was die innere Leere und den zusammengestückelten Charakter postmoderner Markenidenentitäten betrifft. Ein bemerkenswerter Einwand meines Gegenübers betraf die Vorstellung, daß Identität einem Muster konzentrischer Kreise folgt. Er hielt dies für deutlich zu einfach gedacht, da doch die Relevanz einer bestimmten Identität zu einem bestimmten Zeitpunkt stark situationsabhängig sei.
„In einer erotisch aufgeladenen Situation ist Ihre Identität als Mann wichtiger als ihre Identität als Max Müller.“
„Was?“
„Als die Person, die sind, wenn sie etwa mit Freunden zusammen sind.“
(Er kannte meinen Namen ebensowenig wie ich den seinen. Wir kamen während er ganzen anderthalbstündigen Fahrt von Koblenz nach Trier nicht einmal auf den Gedanken uns vorzustellen, oder gar den anderen nach seinem Namen zu fragen.)
Daraus folge, daß sich ein Kern der Identität, um den der Rest sich gruppiert, auch nicht festmachen ließe. Wir näherten uns dem Zielbahnhof und entweder mußte er es noch loswerden, oder ihm war das Mittel eingefallen, mit dem er mich ganz gewiß würde festnageln können.
„Und, was halten sie vom Denkmal der Schande?“
„Das Ding erfüllt politische Zwecke, hier geht es doch darum, wer es zu was benutzen will.“
„Nein, das ist erst einmal nichts politisches. Dieses Denkmal erinnert an etwas, das in Deutschland geschehen ist. Das ist erst einmal eine Tatsache, die sich nicht abstreiten läßt, daß die Entscheidung getroffen und umgesetzt wurde, ein ganze Gruppe von Menschen, die in diesem Land lebte, auszurotten.“
Er gebrauchte später noch einmal diesen Ausdruck „eine Gruppe von Menschen, die in diesem Land lebte“. Das Wort „Juden“ verwendete er aus irgendeinem Grund nur ein einziges Mal und ausschließlich deshalb, weil das Gespräch durch eine seiner zahlreichen Wendungen, in diesem speziellen Fall auch nur durch den Zufall eines Mißverständnisses, auf die nichtjüdischen Opfer des Nationalsozialismus gekommen war.
Wir stritten noch eine Weile über die ästhetische Angemessenheit dieser Betonklötze. Ihm gefielen sie gerade weil sie eine Betonwüste mitten zwischen den Häusern sind. Dann fuhr der Zug in Trier ein. Wir verabschiedeten uns mit Handschlag und er wünschte mir alles Gute. Ich stieg vor ihm aus dem Wagon und verließ den Bahnhof, ohne mich noch einmal umzudrehen.
Wem war ich da eigentlich begegnet? Ob und wenn ja wo und wie er sich politisch betätigt, danach habe ich ihn nicht gefragt, wie wir überhaupt alle persönlichen Fragen vermieden. Ich zögere ihn als eine Linken zu verschubkasten. Vielleicht ist er es, aber es spielt hier keine Rolle. Viel wichtiger ist, daß mir ein Vertreter des in der Öffentlichkeit vielleicht unterrepräsentiertesten deutschen Typus über den Weg gelaufen war: des dieses Systems und diese Politik mittragenden Bildungsbürgers. Da Bildungsbürger kein Terminus amtlicher Statistiken ist, ist schwer zu sagen, wie viele es von ihnen gibt. Es könnten zwei Millionen, es könnten zwanzig Millionen sein.
Meiner Erfahrung nach sind kultivierte, selbst elegante Gespräche auch über die größten Streitfragen zumindest mit dem männlichen Teil dieser Bevölkerungsgruppe möglich. Doch was sind das letztlich für Gespräche? Können sie irgendwo anders hinführen, als zur Feststellung eines Gegensatzes, der irgendwo im Bereich der Imponderabilien liegt?
Von den Steppenvölkern Zentralasiens ist eine Form des Messertanzes überliefert, bei der ein Krieger die Klinge um den eigenen Körper führt. Immer schneller, immer enger und an immer gewagteren Stellen. Die Kunst bestand darin, sich dennoch nicht zu schneiden. Das Messer sollte also gar nicht als Messer verwendet werden, sein Gebrauch für den Tanz nur den Nervenkitzel erhöhen. In gewisser Weise haben wir dasselbe gemacht. Das war die Grundlage unseres kultivierten Gesprächs. Unser Messer aber war die Wirklichkeit.
Balduin B.
Daß Streitgespräche wie das von Ihnen beschriebene immernoch möglich sind, habe ich auch schon erfahren. Ich habe aber festgestellt, daß ich bei solchen Gesprächen unter einer starken Anspannung stehe. Die Fronten sind so verhärtet, daß ich einen Teil der mir zur Verfügung stehenden Energie für meine Selbstbeherrschung einesetzen muß, weil ich letztlich trotz aller intellektuellen Argumentiererei nicht nachvollziehen kann, wie man den Niedergang unserer Gesellschaft in Linken Kreisen ausblenden kann. Oder ist es wirklich so, daß man die Dinge klar sieht und bewusst laufen lässt? Ich habe auch immer wenige Interesse an solchen Gesprächen mit "Unbelehrbaren"; sie kosten Kraft, die an anderer Stelle vielleicht fehlt.
Etwas wichtiges kann man aus Ihrer Schilderung lernen: Mut die eigene Position zu vertreten, sich nicht verstecken. Gut, daß Sie die Plakate offen liegen hatten. Ich habe eine kleine Firma und habe im Büro offen AfD Flugblätter für jedermann sichtbar auf dem Tisch liegen. Wir dürfen uns nicht verstecken. Nur mit Mut können wir uns dem Wahnsinn entgegenstellen.