wie sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts die „von Großunternehmungen dominierte Weltmarktwirtschaft“ entwickelte. Diese griffige Definition des modernen Kapitalismus ist bis heute gültig und unübertroffen, weil sie auf die zwei wesentlichen Merkmale unserer Wirtschaftsform aufmerksam macht: Sie begünstigt Konzerne und kennt keine Grenzen.
Diese Entwicklung spielte sich aber keinesfalls wie ein Naturvorgang ab, wie manche liberalen Theoretiker es suggerieren. Ernst Nolte war es deshalb besonders wichtig, darauf hinzuweisen, „wie wenig die Industrielle Revolution aus einem Volkswillen oder einem Volkswunsch hervorgegangen war“.
In England lehnte das Volk die Umwälzung der Produktions- und Lebensverhältnisse zunächst aus romantischen bzw. reaktionären Gründen ab. Zwar gab es eine für Erfinder und Erfindungen günstige Atmosphäre auf der größten britischen Insel. Dennoch sah sich der Staat 1768 sogar dazu veranlaßt, ein Gesetz zu verabschieden, das die Zerstörung von Fabriken, Maschinen und Bergwerken mit dem Tod bestrafte. Einhundert Jahre lang dauerte dieser Kampf großer Teile der Bevölkerung und sorgte für einen „nahezu permanenten Zustand der Spannung und des Protestes“.
Auf ideologischer Ebene veränderten sich derweil die Frontverläufe grundlegend. Als Begleitideologie der technischen Großinnovationen spaltete sich der heutige, fortschrittstrunkene Liberalismus vom wahren, weil freiheitlichen Liberalismus ab. Während sich die wahren Liberalen auf die Seite des Mittelstandes stellten und den aufkommenden Zentralismus ablehnten, spielten für die Fortschrittstrunkenen politische Ideale keine Rolle mehr.
Es ging ihnen einzig und allein darum, an der Spitze der Gesellschaft zu stehen. Die Leistung des Marxismus war es nun, die lediglich romantisch begründete Ablehnung der Industriellen Revolution zu überwinden, aber trotzdem die so denkenden Menschen zu mobilisieren. In welche utopische Richtung das führte, ist bekannt.
In dieser Zeit erschallte erstmals der Ruf nach Umverteilung, was deshalb so bedeutend ist, weil der Mainstream-Liberalismus dem nichts entgegenzusetzen hatte. Liberale und Marxisten waren sich vielmehr einig darin, das Politische und Ökonomische zu verschmelzen.
Panajotis Kondylis nahm dies in seinem Buch über Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg (1992) zum Ausgangspunkt, die sozialgeschichtliche Entwicklung des massendemokratischen Zeitalters zu skizzieren. In diesem komme es nicht mehr auf den Sieg von Ideen an, weshalb alle modernen Ideologien ohne machtpolitische Konsequenzen scheitern dürfen. Auch spielt die geschichtsgestaltende Kraft des Staates keine Rolle mehr, weil die bestmögliche Versorgung der Massen zum obersten Ziel geworden ist.
Wirtschaftswachstum und Wiederwahl sind die treibenden Kräfte dieses Systems, das sich ständig erweitern will. Skurrilerweise begünstigt durch die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg gelang es, dieses Versorgungssystem zu perfektionieren. Durch ständig steigende Einkommen war es den Bürgern gerade in der Bundesrepublik einfach zu vermitteln, einen Teil ihrer Mehreinnahmen direkt wieder an den Staat abtreten zu müssen.
Dieser verwendet das Geld bis heute für eine Doppelstrategie: Zum einen verteilt er es der sozialen Gerechtigkeit zuliebe nach unten um, was sich in Wählerstimmen bemerkbar macht und die unteren Schichten davon abhält, zu rebellieren. Zum anderen festigt der Staat aber auch sein Bündnis mit den Großunternehmen, was ihm völlig zu Recht den Vorwurf des „Neoliberalismus“ eingebracht hat.
Dieser Neoliberalismus funktioniert auf der Basis einer Umverteilung nach oben durch Marktregeln, wie Robert B. Reich in seinem Buch Rettet den Kapitalismus. Für alle, nicht für 1 % resümiert (Rezension dazu in Sezession 74, Oktober 2016). Er spricht dabei insbesondere die Rolle des Eigentums‑, Vertrags‑, Kartell- und Insolvenzrechts an. Hier ins Detail zu gehen, ist aber gar nicht nötig.
Man muß sich nur einmal anschauen, wie global agierende Konzerne wie das kanadische Bahntechnik-Unternehmen Bombardier vom Staat behandelt werden. Jahrelang erhalten sie staatliche Förderungen in Millionenhöhe, und wenn dann trotzdem durch schlechtes Management Arbeitsplätze bedroht sind, ist der Staat sofort bereit, diese Fehler durch weitere Subventionen auszubügeln, damit die Konzerne nicht komplett den Abflug machen.
Welchen Sinn ergibt es jedoch, zugleich nach oben und nach unten umzuverteilen? Zunächst einmal ist dies nur für die staatliche Bürokratie von Vorteil. Vielleicht ist es aber auch ungerecht, diesen Vorwurf zu äußern, weil die Politiker der Massendemokratie vermutlich viel einfacher gestrickt denken. Sie wollen es einfach allen recht machen. Deshalb bekommen alle ein Stück Kuchen, und hoffentlich fällt es niemandem auf, daß unterm Tisch noch jemand mitißt.
Der hier vorgestellte historische Abriß von der Industriellen Revolution bis zum neoliberalen Umverteilungsstaat sollte als Grundlage genügen, um zu einer Reihe von Einsichten vorzustoßen, die bei der Gestaltung einer Politik für das Volk als Lebensgemeinschaft elementar sind:
- Mit Kondylis gesprochen: „Die beiden Aspekte der Ökonomisierung des Politischen – also die Daseinsversorgung von großen Massen auf hochtechnisierter Basis und durch hochentwickelte Arbeitsteilung und die Umverteilung der Güter zum Zwecke der Materialisierung von formellen Rechten – gründen ideell im menschenrechtlichen Universalismus, der allen Individuen unabhängig von jeder anderen Zugehörigkeit, Eigenschaft oder Bindung gleiche Würde zuspricht.“ Kondylis befürchtet daher im 21. Jahrhundert einen „planetarischen Verteilungs- und Umverteilungskampf“. Selbst wenn es gelänge, die Umverteilung auf die nationale Ebene zu beschränken, was aufgrund der globalen Vernetzung allerdings derzeit aussichtslos ist (wer profitieren will, muß auch zahlen), hätten wir immer noch das Problem der sozialen Atomisierung zu lösen. Statt mehr Geld für die Armen zu fordern, sollte es deshalb um ihre soziale Einbindung gehen. Hier ist selbstverständlich der Staat gefordert.
- Soziale Politik muß die Umverteilung nach oben abschaffen und dafür Anreize setzen, daß das Geld der Reichen in einheimische, junge Unternehmen investiert wird. Schon 50 000 Deutsche arbeiten im Silicon Valley. Der Hauptgrund: In Deutschland erhalten sie kein ausreichendes Startkapital für ihre Ideen. Hunderttausende Arbeitsplätze gehen dadurch verloren.
- Es gibt eine Alternative zur von Großunternehmen dominierten Weltmarktwirtschaft, die der Staat durch Subventionen aufrechterhält: Wir könnten statt dessen vorrangig auf kleine und mittlere Unternehmen setzen, die dem Einzelnen übrigens viel mehr Freiheiten gewähren und heimatverbundener sind. In Der Wohlstand der Nationen von Adam Smith findet sich ein Kapitel über den „natürlichen Fortschritt zum Reichtum“. Er schildert darin, wie das umliegende Land von prosperierenden Städten profitiere. Dieses Primat der Nähe, das heute nur noch in Rudimenten gilt, sah auch Smith schon bedroht. Es gegen ökonomistische Bestrebungen zu verteidigen, ist Aufgabe des Staates.
- Was aber tun, wenn selbst bei den besten Rahmenbedingungen die Reichen nicht mitziehen? Max Weber betonte, die Askese, die den europäischen Reichtum erst ermöglichte, sei eine Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft. Übermäßiger Besitz führt zu unendlichen Versuchungen. Dieses Böse muß man aber in Kauf nehmen, weil sonst die durchaus produktive Motivation erlischt, überhaupt erst einmal das Gute anzustreben.
- Die zwei primären Aufgaben des Staates betreffen aber Sicherheit und Bildung. Die beste Wirtschafts- und Sozialpolitik besteht folglich darin, den „inneren Staat immer von neuem in immer neu heranwachsenden Individuen aufzubauen“ (Helmut Kuhn). Da dies neben einer neuen Identitätspolitik in der Erziehung ein „Strengt euch an!“ beinhalten würde, ist die Umsetzung einer solchen Agenda im massendemokratischen Zeitalter allerdings äußerst unwahrscheinlich – es sei denn, das Versorgungssystem kollabiert doch früher als gedacht an Überdehnung.
Philip Stein
Lieber Felix,
ein Beitrag, den ich mit Gewinn gelesen habe. Gewissermaßen verstehe ich ihn als eine seichte (kompromissbereite? liberale?) Variante des Kaiser'schen Vorgängers; keineswegs jedoch als direkte Entgegnung.
Eine Frage, die sich mir noch stellt, und die du vielleicht beantworten kannst: Welche (vom Staat nicht finanzierten) Projekte/Ideen sind denn mit diesen 50.000 Personen gen Silicon Valley abgewandert? Ohne es zu wissen, könnte ich mir nämlich durchaus vorstellen, dass darunter zahlreiche Projekte sind, die aus ethischen oder datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten in Deutschland nicht verwirklicht werden konnten/durften. Hast du hierzu Informationen?