Warum das wichtig ist: Die repräsentative Demokratie befindet sich in Europa spätestens seit dem Brexit-Referendum in Großbritannien in einer ernsten Glaubwürdigkeitskrise und braucht neue Ideen.
Ich will auf diese Artikel nicht näher eingehen, es genügt anzumerken, daß sich beide im Anschluß an Thesen des Politologen David Van Reybrouck um die Frage drehen, was man mit dem zunehmend unerwünschten Wahlverhalten des Stimmviehs in der westlichen Welt anfangen soll. Dabei werden die “Populisten” im Artikel der Zeit Online mal wieder ohne weitere Begründung in die Rolle der “Antidemokraten” gedrängt (Trump wird namentlich genannt), während das Establishment und seine Parteien ebenso ohne Begründung als “die Demokratie” identifiziert werden. Genauer gesagt: als die “repräsentative Demokratie”, die durch die populistische Herausforderung bedroht sei. In Wahrheit ist damit gemeint, daß die derzeitigen Repräsentanten des Volkes von erheblichen Teilen des Volkes nicht mehr als repräsentativ erachtet werden, und das offenbar aus guten Gründen, wie die Autoren der Zeit Online mehr oder weniger einräumen. Das gälte nach ihrer Ansicht sogar, wenn es dem System gelänge, die “Populisten” ‑hier also: die AfD – zu absorbieren, einzubinden und zu entradikalisieren:
Denn das Repräsentationsproblem, das in Wahrheit ein Klassenproblem ist, auch in Frankreich, in den USA, in Großbritannien, es würde ja bleiben. Ein neues Streitthema, ein neuer politischer Großkonflikt könnte dazu führen, dass weite Teile des Volkes wieder an der Demokratie zu zweifeln beginnen.
Der Vorschlag, den sie am Ende des Artikels machen, ist indes gar nicht mal schlecht:
Warum also nicht eine deutsche Bürgerversammlung einberufen? Eintausend Menschen, Junge und Alte, Sachsen und Westfalen, Hipster und Wutbürger, ein Spiegel der Gesellschaft. Ein großer Saal in Berlin, oder nein: irgendwo auf dem Land. Ein Thema, sagen wir: die Flüchtlingskrise. Genug Zeit, um viele Experten zu hören und ausführlich zu debattieren. Und der Auftrag: Wie soll die deutsche Flüchtlingspolitik der Zukunft aussehen?
Ja, warum eigentlich nicht?
Im ersten Teil dieses Beitrags verwies ich auf den von den Feuilletons abgefeierten Essay Was ist Populismus? des Politologen Jan-Werner Müller, dessen Kernthese folgendermaßen lautet:
Populisten behaupten “Wir sind das Volk!” Sie meinen jedoch – und dies ist eine moralische, keine empirische Aussage (und dabei gleichzeitig eine politische Kampfansage): “Wir – und nur wir – repräsentieren das Volk.” Damit werden alle, die anders denken, ob nun Gegendemonstranten auf der Straße oder Abgeordnete im Bundestag als illegitim abgestempelt, ganz unabhängig davon, mit wie viel Prozent der Stimmen ein offizieller Volksvertreter ins Hohe Haus gewählt wurde.“
Daraus folgt, daß „Populisten zwangsläufig antipluralistisch sind“ sind:
Wer sich ihnen entgegenstellt und ihren moralischen Alleinvertretungsanspruch bestreitet, gehört automatisch nicht zum Volk.
Demokratie aber sei „ohne Pluralität nicht zu haben“, wofür Müller als Kronzeugen Jürgen Habermas aufruft:
Das Volk “tritt nur im Plural auf”. Und Demokratie kennt am Ende nur Zahlen: Die Stimmanteile entscheiden darüber, wer die Bürger repräsentiert (in den Worten Claude Leforts: Mit der Demokratie tritt die Zahl an die Stelle der Substanz.)
Populisten behaupten also bloß, „den Willen des Volkes zu repräsentieren“, während sie in Wirklichkeit „eine symbolische Repräsentation des angeblich ‘wahren Volkes’ instrumentalisieren, um demokratische Institutionen, die dummerweise nicht von Populisten dominiert werden, zu diskreditieren.“ Deshalb seien Populisten „zumindest der Tendenz nach antidemokratisch.“
Ich habe bereits im ersten Teil angemerkt, daß sich Müllers Thesen zum Teil recht einfach umkehren lassen:
Wenn die Populisten sagen: „Wir sind das Volk!“, antworten die herrschenden Eliten heute analog: „Wir – und nur wir – sind die Demokratie! Darum sei ihr Feinde der Demokratie!“ Doch eigentlich war die Reihenfolge umgekehrt. Dieser sich immer arroganter und autoritärer äußernde „moralische Alleinvertretungsanspruch“ der Eliten war es erst, der das „Wir sind das Volk“ von Pegida oder auch der AfD hervorgebracht hat, in deren Reihen diese Parole bewußt benutzt wird, um eine Analogie zur Situation des Jahres 1989 in der DDR herzustellen.
Folgt daraus, dass die politisch-medialen Eliten durch ihren Alleinvertretungsanspruch „zwangsläufig antipluralistisch“ sind? Wenn es nach Müllers Kriterien geht, dann ja. Mit seinen eigenen Worten könnte man sagen: „Wer sich ihnen entgegenstellt und ihren moralischen Alleinvertretungsanspruch bestreitet, gehört automatisch nicht zur Demokratie.“ Die derzeit einzige echte Oppositionspartei trägt schließlich nicht umsonst die „Alternative“ im Namen.
Sehen wir uns die Sache näher an.
Müllers Basis, um den Populismus als „antidemokratisch“ zu ächten, sind zwei Prämissen: Demokratie sei erstens die Herrschaft der Zahl und nichts weiter, und sie sei zweitens notwendigerweise „pluralistisch“, weshalb niemand für sich beanspruchen kann, als Teil für das Ganze zu sprechen oder eben für den mehr oder weniger fiktiven Souverän namens „Volk“. Daß er sich dabei auf den französischen Philosophen Claude Lefort beruft, ist insofern interessant, als Lefort den Totalitarismus als eine Tendenz der Demokratie selbst, und nicht als ihren Gegensatz betrachtete.
Dies ergibt sich aus dem Problem der Definition des Ganzen und seiner universalen Repräsentation, ohne die am Ende keine Gesellschaft gänzlich auskommt, wenn sie nicht zentrifugal zerfallen will. Wo einst der Monarch als realer, von der Zivilgesellschaft unterschiedener Repräsentant der Ganzheit saß, ist in der Demokratie nur mehr eine symbolische, virtuelle Leerstelle zu finden, eine „Quasi-Repräsentation“. Der demokratisch Regierende, gleichzeitig Bürger und Herrscher, Repräsentant und Teil der Zivilgesellschaft herrscht also nur „als ob“. Der Versuch, diese Lücke zu schließen, führe zum Totalitarismus.
Vielleicht läßt sich das gut mit der berühmten Formel von Rudolf Hess vom Nürnberger Parteitag 1934 anschaulich machen: “Die Partei ist Hitler, Hitler aber ist Deutschland, wie Deutschland Hitler ist”. Der Nationalsozialismus hatte unzweifelhaft “populistische” und “demokratische” Elemente (das läßt sich etwa an dem Propagandafilm Kolberg verblüffend gut studieren). Der “Führer” (ein Mann aus dem Volk) und die Partei (eine klassenübergreifende Volkspartei) repräsentieren die Ganzheit der Nation und den Volkswillen, und sind sie einmal an der Macht, bedarf es keiner weiteren Wahlen mehr, da ein für alle mal entschieden ist, wer den wahren Volkswillen repräsentiert – ähnlich legitimierte sich auch das Regime der Deutschen Demokratischen Republik, wobei der “Volkswille” mit dem Sozialismus identifiziert wurde. Die berüchtigten Szenen, die man aus unzähligen Propagandafilmen des 3. Reichs kennt, in denen sich der “Führer” von den Volksmassen durch “Heil!”-Zurufe feiern läßt, kann man durchaus als eine Form der ritualisierten “demokratischen” Akklamation sehen.
Um weiter an Lefort anzuschließen: In der Tat läßt sich die Schmittsche „Homogenität eines bestimmten Gebietes“ totalitär ausdehnen, indem alle oder möglichst viele Gebiete einer Gesellschaft einem Homogenisierungs- und Ausscheidungsprozess unterworfen werden, übrigens mit einem ähnlichen Endziel wie der multikulturalistische Globalismus, der lediglich seitenverkehrt vorgeht: der Erschaffung einer rundum befriedeten, konfliktfreien, gleichgeschalteten Gesellschaft. Die „Vielfalt“ soll nach Frans Timmermans als Schicksal der ganzen „Menschheit“ noch „auf den entferntesten Orten dieses Planeten“ verbreitet werden. Ihr langfristiges Ziel ist das Gegenteil dessen, was sie vorgibt zu wollen: die Abschaffung sämtlicher kultureller, religiöser, ethnischer, rassischer, geschlechtlicher Unterschiede, die „Menschheitsdemokratie“, in der alle das Volk sind, was darauf hinausläuft, daß keiner mehr Volk ist und keine Gruppe mehr sagen kann: „Wir sind das Volk“, die darum von einer globalen Manager-Elite gelenkt werden muß, die quasi im Namen der Menschheit und der Menschheitssouveränität herrscht.
Man kommt an dieser Stelle nicht daran vorbei, mit Carl Schmitt an den “Gegensatz zwischen Parlamentarismus und moderner Massendemokratie” zu erinnern, eine Unterscheidung, die letztlich auch Müllers Ansatz zugrunde liegt. Wie so oft bei Schmitt haben sich Heerscharen an Kommentatoren den Schädel an Sätzen eingerannt, die schlichtweg nicht zu widerlegen sind:
Jede wirkliche Demokratie beruht darauf, daß nicht nur Gleiches gleich, sondern, mit unvermeidlicher Konsequenz, das Nichtgleiche nicht gleich behandelt wird. Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen.
Natürlich: selbst eine exzessiv “pluralistische” oder „inklusive“ Demokratie kommt nicht umhin, zu entscheiden, wer zu ihrem Volk gehört und wer ausgeschlossen werden muß, und seien es die berüchtigten „Extremisten“ oder „Populisten“. Schmitt weiter:
Die politische Kraft einer Demokratie zeigt sich darin, daß sie das Fremde und Ungleiche, die Homogenität Bedrohende zu beseitigen oder fernzuhalten weiß. Bei der Frage um Gleichheit handelt es sich nämlich nicht um abstrakte, logisch-arithmetische Spielereien, sondern um die Substanz der Gleichheit.
Sie kann in bestimmten physischen und moralischen Qualitäten gefunden werden” oder “sich auf die Übereinstimmung religiöser Überzeugungen” gründen: “Seit dem 19. Jahrhundert besteht sie vor allem in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation, in der nationalen Homogenität.”
Das allgemeine Wahl- und Stimmrecht ist vernünftigerweise nur die Folge einer substantiellen Gleichheit innerhalb des Kreises der Gleichen und geht nicht weiter als diese Gleichheit. Ein solches gleiches Recht hat einen guten Sinn, wo Homogenität besteht. Diese Art Allgemeinheit des Wahlrechts aber, die der ‘weltläufige Sprachgebrauch’ meint, bedeutet etwas anderes: Jeder erwachsene Mensch, bloß als Mensch, soll eo ipso jedem anderen Menschen politisch gleichberechtigt sein. Das ist ein liberaler, kein demokratischer Gedanke; er setzt eine Menschheitsdemokratie an die Stelle der bisher bestehenden, auf der Vorstellung substantieller Gleichheit und Homogenität beruhenden Demokratie. […]
Bisher hat es noch keine Demokratie gegeben, die den Begriff des Fremden nicht gekannt und die Gleichheit aller Menschen verwirklicht hätte. Wollte man aber mit einer Menschheitsdemokratie Ernst machen und wirklich jeden Menschen jedem anderen Menschen politisch gleichstellen, so wäre das eine Gleichheit, an der jeder Mensch kraft Geburt oder Lebensalters ohne weiteres teilnähme. Dadurch hätte man die Gleichheit ihres Wertes und ihrer Substanz beraubt, weil man ihr den spezifischen Sinn genommen hätte, den sie als politische Gleichheit, ökonomische Gleichheit usw., kurz als Gleichheit eines bestimmten Gebietes hat.
Das globalistische Elitenprojekt sieht nun langfristig nichts Geringeres als eben diese Erschaffung einer solchen “Menschheitsdemokratie” vor, wobei die Auflösung der Nationalstaaten eine Zwischenetappe zum Endziel ist. Sie setzt weniger beim Staatsapparat, der parlamentarischen Ordnung oder der Verfassung an, die vielmehr zu unantastbaren heiligen Kühen erklärt werden (wie etwa das fetischisierte, in den Rang der zehn Gebote erhobene und teilweise mit den allgemeinen Menschenrechten gleichgesetzte Grundgesetz), sondern direkt an der Wurzel, der Neutralisierung der Staatsbürgerschaft, der “Substanz der Gleichheit”, der Identität des Staatvolkes. Deutschland soll zur “Menschheitsdemokratie” im Kleinen umfunktioniert werden: Jeder kann Deutscher werden, jeder soll Deutscher werden, jeder Nichtdeutsche soll jedem Deutschen prinzipiell politisch gleichgestellt werden, sogar, wenn er noch nicht Staatsbürger ist. Jeder Mensch soll an der deutschen Demokratie oder der Demokratie in Deutschland und inzwischen auch am deutschen Sozial- und Wohlfahrtsstaat teilnehmen dürfen.
Damit hätte man die deutsche Staatsbürgerschaft wie die Volkzugehörigkeit ihrer historischen Substanz beraubt, ihr jeden spezifischen Sinn genommen. Eine Demokratie, in der alles und jeder zum “Demos” wird, führt sich jedoch selbst ad absurdum. Wo alle “das Volk” sind, ist es keiner mehr und herrscht darum im demokratischen Sinne auch keiner mehr. Die Existenz einer solchen “Substanz der Gleichheit”, insbesondere einer ethno-kulturellen Substanz, wird bekanntlich von den Verfechtern der abstrakten Gleichheit und der Menschheitsdemokratie vehement geleugnet und lächerlich gemacht: wer könne etwa schon sagen, wer oder was “echt” deutsch oder französisch sei und was nicht? Und wie könne man dann jemanden ausgrenzen, und ihm sagen: Du kannst aus diesem oder jenem Grund kein Deutscher oder Franzose sein?
Derlei Identitäten seien doch nichts als veränderliche Konstrukte, und regelrecht tabu ist jeder Hinweis auf so althergebrachte, einst selbstverständliche Grundlagen der Staatsbürgerschaft oder Volkszugehörigkeit wie das “ius sanguinis”, da man sich hier doch sofort in “rassenbiologische” und ähnliche unfeine Gebilde begäbe. Das in NS-Zeiten gebräuchliche Wort “völkisch” wird heute als Totschlagbegriff benutzt, weil der Begriff des “Volkes” selbst, verstanden als Abstammungs- und Schicksalgemeinschaft mit einem gemeinsamen historischen Narrativ, anrüchig geworden ist. Aber zu Beginn der modernen Nationalstaaten waren alle Demokratien in diesem Sinne “völkisch”. Als Reporter der Welt am Sonntag Frauke Petry aufs Glatteis führen wollten, indem sie ihr den Begriff “völkisch” zuspielten, hatte sie die richtige Intuition: Es sei problematisch, dass “es bei der Ächtung des Begriffes ‚völkisch’ nicht bleibt, sondern der negative Beigeschmack auf das Wort ‚Volk’ ausgedehnt wird“. Der Begriff „völkisch“ sei letztlich nichts anderes „ein zugehöriges Attribut“ zum Wort „Volk.“
Wir befinden uns hier mitten in einer Debatte, die zu einem wesentlichen Schlachtfeld des nationalen Auflösungsprozesses geworden ist. Man muß an dieser Stelle in der Regel gegen ganze Armeen von kurzgeschlossenen Strohmännern ankämpfen, ebenso, wenn man den Begriff der “Homogenität” ins Spiel bringt, der dann reflexhaft mit “Rassereinheit” und ähnlichen Begriffen aus der NS-Terminologie in Verbindung gebracht und gleichgesetzt wird. “Homogenität” bedeutet in diesem Kontext nichts weiter, als die “Homogenität eines bestimmten Gebietes”, ein einigendes Dach, unter dem ein erhebliches Ausmaß an Heterogenität Platz haben kann. Eine “ethnisch homogene” Gemeinschaft kann zur gleichen Zeit aus äußerst heterogenen Elementen bestehen, was etwa Klassen‑, Standes‑, Bildungs‑, Religions- und Einkommensunterschiede oder auch genetische und physiognomische Typen betrifft.
Deutschland war im Laufe seiner Geschichte stets ein außerordentlich “vielfältiges”, häufig gespaltenes oder gar zerrissenes Land. Eine “ethnisch und kulturell homogene” Gesellschaft ist auch keineswegs zwangsläufig eine „unterkomplexe“ oder weniger komplexe Gesellschaft, wie manche meinen, die sich besonders viel einbilden auf ihre Fähigkeit zur Komplexitätsbewältigung (ja, ich denke hier an Armin Nassehi). Japan ist beispielweise ein Land, dessen Bevölkerung genetisch und kulturell äußerst “homogen” ist, jedoch käme wohl niemand auf die Idee, zu behaupten, es handle sich dabei um ein unterkomplexes, unmodernes Land oder ein Land ohne “Komplexitätsprobleme”.
Und schließlich ist da die Tatsache, daß die Grenzen sämtlicher europäischer Nationalstaaten mehr oder weniger nach dem Prinzip der „ethnischen” bzw. “nationalen Homogenität“ gezogen wurden. Wo man sie nicht eindeutig ziehen konnte, kam es im 20. Jahrhundert mitunter zu blutigen Konflikten und gewaltsamen Bevölkerungstransfers – man denke etwa an die Tschechoslowakei, Polen, Griechenland und Jugoslawien. Die Kombination aus Ius sanguinis und Ius soli als Grundlage der nationalen Staatsbürgerschaft war bis vor kurzem noch eine Selbstverständlichkeit, um zu definieren, wer einem Volk oder einer Nation angehört und wer nicht.
All dies ist nach wie vor die historische Basis der westeuropäischen nationalstaatlichen Demokratien, die sich in einem – durchaus gewollten – ethnokulturellen Auflösungsprozess befinden, was auch dazu führt, daß Begriffe wie „Volk“ und „Demokratie“ ihres ursprünglichen Sinnes beraubt werden. “Demokratie” wird zum Schlagwort, zum Buzzword, das eine Mystik des Egalitären evoziert, das Freiheit, Partizipation und Emanzipation, Wohlstand und Gerechtigkeit für größtmögliche Zahlen verspricht.
Es schmeichelt dem Ego des Individuums, insbesondere jener, die keinen Rang und keine Autorität über sich ertragen können. Am Tag der Wahl gelten alle Stimmen gleich, die der Reichen und Armen, der Privilegierten und der Underdogs, der Klugen und der Dummen, der Informierten wie der Ahnungslosen. Der einzelne Wähler muß nur genügend Reiche und Arme, Privilegierte und Underdogs, Informierte und Ahnungslose auf seiner Seite haben, um zumindest mittelbar am politischen Entscheidungsprozeß partizipieren und seinen Bissen Souveränität nutzen zu können. Dieser quantitative Aspekt der Demokratie wurde oft kritisiert, in Zeiten, als man es sich noch leisten konnte, Demokratiekritiker zu sein, ohne dem Scherbengericht zu verfallen.
Heutzutage wagt es niemand mehr, den Wert der Demokratie in Frage zu stellen, und damit die Gleichheit aller Menschen zu bestreiten oder gar diktatorischen, „elitären“ oder autoritären Herrschaftsformen das Wort zu reden. Wider die Demokratie zu sprechen oder sie auch nur nennenswert zu kritisieren, käme einer Gotteslästerung im Mittelalter gleich. Auf einer kryptotheologischen Ebene ist sie Chiffre für ein bestimmtes egalitäres Menschenbild, das zum wesentlichen Glaubensartikel unserer Zeit geworden ist. Auf der praktischen Ebene scheint es indes so, als ob die sakrale, unantastbare Aura des Wortes „Demokratie“ paradoxerweise gezielt dafür benutzt wird, die reale demokratische Partizipation des Volkes zu minimieren und einer zunehmend post-demokratischen Ordnung Legitimität zu verleihen. Der Kern des Problems ist wohl die zunehmende Entkoppelung des liberalen bzw. repräsentativen Teils des massendemokratischen Systems von seinen plebiszitären Elementen, was die logische Folge ist, wenn man eine nationalstaatliche Demokratie in eine Versuchsanstalt für die kommende Menschheitsdemokratie umwandeln will.
Fortsetzung folgt.
Stefanie
"Heutzutage wagt es niemand mehr, den Wert der Demokratie in Frage zu stellen, und damit die Gleichheit aller Menschen zu bestreiten.... Auf einer kryptotheologischen Ebene ist sie Chiffre für ein bestimmtes egalitäres Menschenbild, das zum wesentlichen Glaubensartikel unserer Zeit geworden ist."
Die Demokratie ist zweifellos äußerst nützlich - gerade für die Mächtigen. Sie dient ihnen als Entscheidungshilfe, als Rückkopplungselement zur Stimmung im Volk. Wenn das Volk einer Politik zustimmt, so ist das meist eine, die das Volk prosperieren läßt und ein prosperierendes Volk, ein Volk mit einem wachsenden Wohlstand, der die Basis aller politischen Macht ist: Steuern, eine gesunde, stabile bis leicht wachsende Bevölkerungszahl, zunehmende Bildung, Erfindungenen, Akkumulation von Produktivkapital und Infrastruktur - das wünscht sich das Volk - und das ist auch die Basis für eine starke Stellung eines Volkes unter anderen Völkern. Doch aus der Kakaophonie der verschiedenen Interessenlagen im Volk eine konsistente Politik entwickeln, aus der "Schwarmintellegenz" (oder "Schwarmdummheit") der Massen zu Versuchen eine Linie herauszukristalisieren, wie die Entwicklung voranzutreiben ist, erscheint mir ziemlich aussichtslos. (auch wenn es sicher solche eher evolutionären Entwicklungen in der Gesellschaft gibt und gerade der Wettbewerb zwischen verschiedenen Völkern und Kulturen wahrscheinlich die wirklich bedeutenden Entwicklungen anschiebt). Die Linien der Politik müssen die Herrschenden in der Lage sein selbst zu entwerfen, sonst taugen sie nichts für diesen Beruf. Doch wenn sie klug sind, dann hören sie auf den Pöbel, ob er sich nun in Form von Wahlen artikuliert oder auf der Strasse, beides ist demokratische Ausdrucksform. Die Demokratie ist ein Werkzeug, das gerade die Mächtigsten zu gebrauchen verstehen sollten, ein Mittel zum Zweck - wie eine Bohrmaschine oder ein Pflug. Man kann über Sinn und Zweck des Werkzeugs streiten und ständig neue Methoden entwickeln.
Nehmen sie z.B. den Pflug: seit einigen Jahrzehnten gilt er als "out", stört angeblich das Bodenleben und fördert die Erosion - pflugloses Wirtschaften ist angesagt und wird auch staatlicherseits gefördert. Doch wenn sie diese Verfahren anwenden wollen (Mulchsaat, Stripdrill), werden sie auf einen massiven Einsatz von Herbiziden nicht verzichten können (RoundUp kennt jeder). Wenn ich also auf das eine Werkzeug verzichten will, werde ich ein anderes einsetzen müssen, was ebenfalls seine Nebenwirkungen haben wird.
Bauern streiten über das Für und Wider des Pfluges, Philosophen über das Für und Wider der Demokratie. Man streitet sich über Dinge, die einen persönlich betreffen, die einen emotional berühren und wer wütend oder enthusiastisch ist, ist meist nicht besonders objektiv. Doch ist es deshalb besser die Bauern über die Demokratie abstimmen zu lassen und die Philosophen über den Pflug (oder die Kernkraft)? Deshalb lassen sich zuspitzender (populistischer) Debattenton und wirkliche Informiertheit und Betroffenheit wahrscheinlich nicht voneinander trennen. Wenn es wirklich um etwas wichtiges geht, ist ein Argumenteaustauschen in einer gesitteten Volksversammlung ohne "Hatespeech" wahrscheinlich gar nicht menschlich möglich. Wer jeden aus der Debatte ausschließen will, der sich mal im Ton vergreift, handelt in dem Sinne nicht redlich, denn er schließt damit gerade diejenigen aus, die am intensivsten in dem Thema drinstecken, die am stärksten betroffen sind oder sich betroffen fühlen. Jedoch schreibe isch hier ausdrücklich von dem Ton, in dem eine Debatte geführt wird, wenn das ganze in Taten und Aktionen umschlägt, ist die Form nicht mehr "Populistisch" sondern radikal oder aktionistisch und damit auf dem Weg zur Politik mit anderen Mitteln. (Bei den Trumpgegenern und der Antifa kann man recht gut beobachten, wie man sich allmählich in einen Lynchmob hineinsteigert, aber ich will nicht ausschließen, das nicht auch unsere Seite einmal Gefahr läuft, diese Grenze zu überschreiten.)
Definitiv würde ich die "Demokratie" jedoch als ein Werkzeug betrachten, ein Mittel zum Zweck, daß man danach beurteilen sollte, wie gut sich der Zweck mit ihm erreichen läßt. Die utilitarisctische Betrachtungsweise hält einen auch davon ab in der Debatte allzu emotional zu werden. Wer würde schon für seine Bohrmaschine oder seinen Pflug kämpfen oder sterben wollen? (und für die würde es sich oft eher lohnen, als für die Demokratie).