Der Christ hat den Flüchtling, dessen Herkunft, religiöse Orientierung und Absichten keine Rolle spielen, im Sinne des christlichen Liebesgebotes mit offenen Armen zu empfangen.
Entsprechende Äußerungen hochrangiger Amtsträger beider großen christlichen Konfessionen, darunter Reinhard Marx (Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz) und Heinrich Bedford-Strohm (Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland) liegen in signifikanter Zahl vor, die hier nicht eigens referiert werden müssen. Gegenstimmen dazu sind eher selten. Immerhin hat Bedford-Strohm zuletzt so etwas wie eine „realistische Asylpolitik“ angemahnt – was immer das auch sein mag – und darauf hingewiesen, daß es nicht darum gehe, „jeden nach Deutschland zu holen“.
Dessenungeachtet lehnen Amtsträger beider Konfessionen sowohl Obergrenzen als auch ein verschärftes Asylrecht ab. Entweder man akzeptiere das „ganze Menschenrechtspaket“, so stellt z. B. der evangelisch-reformierte Theologe Holger Lahayne fest, zu dem mittlerweile „regelmäßiger bezahlter Urlaub“, „unentgeltliche grundlegende Bildung“ oder ein „angemessener Lebensstandard“ gehören, oder man werde einer „herzlosen Vernunft“ bezichtigt.
Sowohl evangelische als auch katholische Amtsträger nehmen mehr oder weniger wörtlich, was in der Bibel über Gastfreundschaft, Fremdenliebe und Barmherzigkeit zu lesen steht. Und deren Botschaft läßt angeblich nur eine Schlußfolgerung zu, nämlich daß ein Christ per definitionem auf der Seite von Geflüchteten zu stehen hat. Und die Botschaft der Bibel scheint in der Tat eindeutig zu sein: seien es nun, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, Lev 19,33ff. („Wenn bei dir ein Fremder in eurem Lande lebt …“), die Liebesforderung Jesu Mt 25,35f. („Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben …“), Joh 1,11 („Leben beginnt mit der Herbergssuche …“), Mt 8,20 („Der Menschensohn hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann“) oder – natürlich – das immer wieder bemühte Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37).
Jeder Mensch, der irgendwo in eine Notsituation gerät, wird vor diesem Hintergrund zum Prüfstein für den Christen, eben weil dieser Mensch unter dem christlichen Liebesgebot steht. Das hat zwangsläufig auch politische Konsequenzen. „Christen können nicht fremdenfeindlich wählen“, erklärte zum Beispiel der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki kategorisch mit Blick auf die AfD. Und: „Christen hätten einen klaren Maßstab und Auftrag, das gelte auch bei Wahlen.“ Abgesehen von der problematischen Etikettierung „fremdenfeindlich“, einem bewußt unscharf gehaltenen politischen Kampfbegriff, muß sich – darauf wies der Berliner Tagesspiegel hin – der Umkehrschluß dieser Einlassung vor Augen gehalten werden: „Wer AfD wählt, ist kein Christ.“
Ist demnach jeder Christ, der, um es zugespitzt zu sagen, nicht der Meinung ist, jeder Christ müsse vorbehaltlos „Refugees welcome!“ jubeln, unchristlich, „fremdenfeindlich“ oder gleich ein Menschenfeind und damit Teil dessen, was der Bundespräsident Joachim Gauck, in DDR-Zeiten evangelisch-lutherischer Pfarrer und Kirchenfunktionär, in gut manichäischer Art als „Dunkeldeutschland“ bezeichnet hat? Hat Claus Leggewie recht, wenn er im Briefwechsel mit Götz Kubitschek darauf abhebt, sich die „grenzüberschreitende Würde des Christentums ins Gedächtnis zu rufen“, wozu der angebliche „Vorrang der individuellen Freiheit vor jedweder profanen Gemeinschaft“ gehöre?
Nun ist nicht jedes Mitglied einer derartigen „profanen Gemeinschaft“ (nennen wir sie „Staat“) Christ, womit sich die Frage erhebt, wo kirchliche Funktionäre in Namen biblischer Gebote Grenzen überschreiten und in fragwürdiger Art und Weise versuchen, politisch auf staatliches Handeln Einfluß zu nehmen. Martin Luther, der als (ungewollter) Gründungsvater der Evangelischen Kirche mittlerweile immer weniger gelitten ist (Stichwort u.a.: Antisemitismus) – sein Thesenanschlag jährt sich in diesem Jahr zum 500sten Male –, hat hier eine Grenzziehung versucht. Daß diese Grenzziehung in der Evangelischen Kirche kaum mehr eine Rolle spielt, hängt vor allem mit den Erfahrungen in der NS-Zeit zusammen.
Gemeint ist hier vor allem die (in ihrer Entstehungs- und Wirkungsgeschichte komplexe) „Zwei-Reiche-Lehre“, die sich nach dem Ersten Weltkrieg auf der Basis von Luthers Zwei-Regimenten-Lehre etablierte; insbesondere sie wird für die als unkritisch apostrophierte „Unterordnung lutherischer Christen unter die jeweiligen obrigkeitlichen Verhältnisse“ verantwortlich gemacht (so z. B. pars pro toto die evangelische Theologin Christiane Tietz); hier stehen unter anderem Schlagworte wie „Staatsfrömmigkeit“ oder „Kadavergehorsam“ im Raum. Die scharfe Trennung von Politik und Religion machte man unter anderem „als Ursache für die Untätigkeit der Kirche gegenüber dem nationalsozialistischen Unrecht aus“.
In der Tat wurde diese Lehre gegen Ende des 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert immer schärfer akzentuiert; der protestantische Theologe Ernst Troeltsch z.B. geißelte den Rückzug der Christen in den Privatbereich und daß die Politik ihrer „Eigengesetzlichkeit“ überlassen werde. Davon kann heute freilich keine Rede mehr sein. Begriffe wie Nation oder Volk erscheinen kaum mehr auf dem Radar christlicher Theologen, wobei ihnen entgegenkommt, daß Nation ein neuzeitlicher Begriff ohne biblisches Äquivalent ist und Volk seit dem Versuch (stellvertretend für andere sei hier der evangelisch-lutherische Theologe Paul Althaus genannt), es als Schöpfungsordnung zu verstehen, mehr oder weniger aus dem theologischen Denken eliminiert worden ist.
Das alles bedeutet allerdings keineswegs, daß für Christen der Begriff Nation – verstanden als Identifikations- und Schicksalsgemeinschaft, die auf einem Mindestmaß von sprachlicher, ethnischer und kultureller Homogenität fußt – unerheblich, bedeutungslos oder abgetan ist. So wird z. B. in dem Buch „Nation im Widerspruch“, herausgegeben im Auftrag der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (Gütersloh 1999), festgestellt, daß die Nation in der „heutigen Welt „eine die Form gesellschaftlichen und staatlichen Lebens mitbestimmende und Identität stiftende Größe“ sei; sie sei „eine unausweichliche Tatsache“.
Die Analyse der Geschichte des Begriffs „Nation“ zeige, „daß es keinen Sinn hat, nach dem Wesen von Nation zu fragen, wohl aber Grundfunktionen zu erheben, die mit dem Selbstverständnis von Großgruppen als Nationen verbunden sind“. Der theologische Ort jener Funktionen sei „das Regiment Gottes zur Linken, mit dem Gott, wie Luther dargelegt hat, die Welt vor dem Chaos bewahrt“. Da nun „Nationen ihre Funktionen auch so verwirklichen können, daß sie selbst zu Chaosmächten werden, ist es die Aufgabe von Theologie und Kirche sowie der einzelnen Christen, erkennend, beratend und handelnd dazu beizutragen, daß Nationen geschichtliche Lebensräume sind, in denen das Leben bewahrt und gefördert wird“.
Der springende Punkt dreht sich um die Frage, wann und wie Nationen zu „Chaosmächten“ werden. Antwort: Zum Beispiel dann, wenn sie wie die Regierung Merkel im Herbst 2015 zu dem Ergebnis kommen, alle angeblich Mühseligen und Beladenen, die sich aus aller Herren Länder aufgemacht haben, zu Hunderttausenden unter Umgehung eindeutiger rechtlicher Regelungen aus „humanitären Gründen“ nach Deutschland hereinwinken zu können. In diesem Moment hat sie sich der zentralen Aufgabe „weltlicher Obrigkeit“, um es mit Luther zu sagen – nämlich dem Schutz der territorialen Integrität und die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung – aus einem fragwürdigen Verständnis von Nächstenliebe und Barmherzigkeit heraus entledigt. Mit Recht schreibt der bereits zitierte Lahayne, daß die Aufgabe der Staatsführung nicht die Umsetzung einer „regierungsamtlichen Theologie“ sei, die die deutsche Kanzlerin als „Hohepriesterin der deutschen Flüchtlingspolitik“ erscheinen lasse.
Christen in der Politik sind nach Luther nicht danach zu beurteilen, inwieweit sie sich „christlichen Spezialthemen“ (Lahayne) widmen, sondern ob sie vernünftige Politik machen. Für einen Herrscher war es nach Luther deshalb nicht nötig, Christ zu sein. „Es reicht für den Kaiser, daß er Vernunft hat“, unterstrich Luther z.B. in einer Predigt im November 1528.
Die Vermengung der beiden Reiche kann nach Luther nur im „Reich der Welt“ erfolgen; mit der Folge, daß darüber das Reich der Welt verdirbt. Das, was im Herbst 2015 seitens der Regierung Merkel exekutiert wurde, läuft auf eine Vermengung der zwei Reiche und damit auf politisches Schwärmertum hinaus. Luther mit seinem ausgeprägten Teufelsglauben führte diese Vermengung i.ü. auf „satanisches Wirken“ zurück: „Denn der leidige Teufel hört nicht auf, diese zwei Reiche ineinander zu kochen und zu bräuen“ (1534).
Dieses Schwärmertum verläuft in zwei Richtungen: Einmal von seiten führender Vertreter beider großen christlichen Konfessionen, die – bei allen Schattierungen einschlägiger Äußerungen in dieser Frage – im Grunde genommen nur einen Weg im Hinblick auf das Asylunwesen als christlich festzuschreiben versuchen, nämlich die mehr oder weniger bedingungslose Aufnahme von Flüchtlingen. Daß ein Gutteil dieser (vorrangig muslimischen) Flüchtlinge in Christen vor allem „Ungläubige“ sieht, rundet dabei das Bild ab. Bedford-Strohm, hier ganz in der „Falle des Kurzzeitdenkens“ (Eibl-Eibesfeldt), wischte im übrigen die Befürchtung, daß mit der Einwanderung von Millionen von Muslimen die „christliche Kultur“ in Deutschland „verschwinden könnte“ – vor dem Hintergrund von „50 Millionen Christen“, die es in Deutschland gebe – als Ausdruck von „Kleingläubigkeit“ vom Tisch.
Zum anderen ist Schwärmertum auch auf staatlicher Seite festzustellen, die im Sinne des Kirchenliedes „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit; es kommt der Herr der Herrlichkeit, ein König aller Königreich, ein Heiland aller Welt zugleich …“ meint, in Deutschland eine Art „Reich Gottes“ errichten zu können – verstanden als „umfassende Gerechtigkeit“ bzw. als „Verwirklichung der liberalen und humanistischen Ideale vom gerechten Staatswesen“ (Albert-Peter Rethmann).
Es sei in diesem Zusammenhang an eine Aussage des irakischen Kurden Namo Aziz im „Politischen Feuilleton“ des Deutschlandradios erinnert, der bereits 1999 folgendes zu Protokoll gab: „Genauso steht fest, daß die meisten der hier ankommenden Flüchtlinge keine […] vom Tod bedrohten Flüchtlinge sind. Ihr Ziel ist das bessere Leben in Deutschland, der Wohlstand. Es ist die paradiesische Vorstellung, leben zu können, ohne arbeiten zu müssen. Eine Vorstellung, die bei Muslimen dem Leben nach dem Tod vorbehalten ist. In Deutschland gibt es dieses Paradies schon im Diesseits.“ (Deutschlandradio, 7. Januar 1999)
Die Aufhebung der zwei Reiche (Namo Aziz: „Paradies“) vollzieht sich nach Vorstellung Luthers bezeichnenderweise erst in der Endzeit, sprich: mit der Weltvollendung, oder, zeitgeistig gewendet, dem „Ende der Geschichte“. Offenbar besteht der Ehrgeiz der Regierung Merkel und führender deutscher Kirchenfunktionäre darin, das „Ende der Geschichte“ in Deutschland einzuläuten. Mit dem Anbrechen des „Reiches Gottes“ wird dieses Ende der Geschichte indes herzlich wenig zu tun haben – aber wahrscheinlich ist auch diese Befürchtung nur wieder ein Ausdruck von, wie sagte doch Bedford-Strohm, „Kleingläubigkeit“.
Findling
Die Ideologisierung bzw. die selektive Wahrnehmung unserer Horizonte kann am Bedrohungsszenario Klimawandel einerseits und am heilbringenden Demografiewandel andrerseits verdeutlicht werden.
I. Zweifel am menschengemachten Klimawandel kommen heute einem gesellschaftlichen Selbstmord gleich. Kein Politiker, kein Mitarbeiter unter den öffentlichen Meinungsschaffenden und kein Pastor (päpstliche Enzyklika Laudato Si) kann seine Position halten, sofern er die Theorie vom verderblichen Klimawandel angriffe. Aber warum sollte eine Erderwärmung nachteilig sein? Es gibt z.B. mehr fruchtbares Land. In früheren Epochen hat sich das deutlich gezeigt. Das Absaufen ganzer Kontinente und das Austrocknen der anderen (!) kommen aus Hirnen, die im Kindesalter zu viele Hollywoodfilme vom Schlage „Flammendes Inferno“ oder „King Kong kommt“ gesehen haben.
II. Zweifel an von uns verschuldeten Flüchtlingsströmen und deren segensreichen Folgen für uns kommen heute einem gesellschaftlichen Selbstmord gleich. Kein Politiker, kein Mitarbeiter unter den öffentlichen Meinungsschaffenden und kein Pastor kann seine Position halten, sofern er das Dogma von unserer Schuld angriffe. (Von Sühne ist allerdings kaum die Rede, das trübte die Heilsversprechen.)
Im Gegensatz zur Erderwärmung werden die Flüchtlingsfluten als fruchtbare Überschwemmung gleich der des Nils gepriesen. Das Absaufen Europas, dessen Versteppung oder Brandrodung als wahrscheinlichere Varianten seien bösartige Hirngespinste als Folge falsch verstandener Hollywoodfilme.
Ich sehe einen (anthropogenen?) Klimawandel optimistisch, den christogenen Bevölkerungswandel aber als kollektiven Suizid!