René Girard: Das Heilige, die Gewalt und der Sündenbock

Wer sich René Girards Thesen nähern will, muß zunächst alles aus seinem Kopf verbannen, was er über das Heilige und die Gewalt weiß oder zu wissen glaubt.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Etwa Rudolf Ottos Defi­ni­ti­on des Hei­li­gen als „Mys­te­ri­um tre­men­dum et fascin­ans“ oder Mir­cea Elia­des Dik­tum, das Hei­li­ge sei „Macht, Wirk­sam­keit, Quel­le des Lebens und der Frucht­bar­keit“, eine „objek­ti­ve Rea­li­tät“, die der pro­fa­nen „end­lo­sen Rela­ti­vi­tät rein sub­jek­ti­ver Erfah­run­gen“ gegen­über­ste­he. Auch Jan Ass­manns The­se, daß der Mono­the­is­mus die Gläu­bi­gen zum Eifern ver­pflich­te und dar­um die Ent­fes­se­lung von Gewalt begüns­ti­ge, ja for­de­re, hat kaum Berüh­rungs­punk­te mit René Girard.

Der 1923 in Avi­gnon gebo­re­ne und 2015 in Stan­ford, Kali­for­ni­en gestor­be­ne fran­zö­sisch-ame­ri­ka­ni­sche Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler und Reli­gi­ons­phi­lo­soph bestand unbe­irr­bar dar­auf, einen anthro­po­lo­gi­schen Uni­ver­sal­schlüs­sel ent­deckt zu haben, der sich noch dazu mit der bibli­schen, ins­be­son­de­re der neu­tes­ta­ment­li­chen Offen­ba­rung decke und die dar­in ver­kün­de­te Wahr­heit auch und gera­de in der moder­nen Welt sicht­bar machen kön­ne. Girards Kern­the­sen sind zum Teil unver­hoh­len reduk­tio­nis­tisch und las­sen wenig Raum für alter­na­ti­ve Sicht­wei­sen. Wer sich jedoch auf sie ein­läßt und sein ein­zig­ar­ti­ges Gedan­ken­ge­bäu­de betritt, wird vie­le Din­ge mit neu­en Augen sehen. Aus­gangs­punkt von Girards Den­ken ist sei­ne Auf­fas­sung von der mime­ti­schen Natur des Begeh­rens, die er 1961 erst­mals in sei­ner lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen Stu­die Figu­ren des Begeh­rens (Men­son­ge roman­tique et véri­té roma­nes­que, dt. 1999) ausarbeitete.

Nach Girard sind die mensch­li­chen Gesell­schaf­ten zutiefst von der „Mime­sis“ geprägt, einem riva­li­sie­ren­den Nach­ah­mungs­ver­hal­ten, das Kon­flikt, Haß, Neid, Eifer­sucht und Res­sen­ti­ment her­vor­ruft und im schlimms­ten Fall zum Bür­ger­krieg oder einem Hob­bes­schen „Krieg aller gegen alle“ eska­lie­ren kann. Dabei stellt Girard die oft spie­gel­bild­li­che Ähn­lich­keit der Kon­flikt­par­tei­en fest – es gebe nichts, „was einer wüten­den Kat­ze oder einem zor­ni­gen Men­schen mehr gli­che als eine ande­re wüten­de Kat­ze oder ein ande­rer zor­ni­ger Mensch.“ Auf die­ser Ebe­ne sei­en sich die Men­schen über­all gleich, wäh­rend der Abbau von kon­kre­ten Ungleich­hei­ten den mime­ti­schen Furor noch ver­stärkt. Wie Toc­que­ville vor ihm erkann­te er, daß wer alle Men­schen zu vater­lo­sen, glei­chen Brü­dern macht, die Riva­li­täts­kämp­fe nur aus­wei­tet und generalisiert.

Dabei ent­zün­de sich das mensch­li­che Begeh­ren, der Gegen­stand des zehn­ten Gebo­tes, stets am Begeh­ren der ande­ren. Der Mensch begehrt nicht nur, was ihm fehlt oder was ein ande­rer Mensch besitzt, son­dern auch weil es ein ande­rer Mensch oder ande­re Men­schen begeh­ren, die dadurch zu Riva­len um den Besitz des begehr­ten Objekts wer­den. Dabei geht Girard so weit, dem Begeh­ren jeg­li­chen auto­no­men Cha­rak­ter abzu­spre­chen; dem­nach weiß der Mensch nur dann, was er begehrt oder begeh­ren soll, wenn ande­re Men­schen es auch begeh­ren. An die­ser Stel­le erhebt sich bereits der ers­te Ein­wand gegen Girards Theo­rie. Wenn das Begeh­ren tat­säch­lich nur rein mime­tisch zustan­de kommt, wer hat dann eigent­lich zu begeh­ren begon­nen und aus wel­chen Grün­den? Ist das Begeh­ren eine Art Per­pe­tu­um mobi­le aus ein­an­der auf­sta­cheln­den sub­jek­ti­ven Begier­den, die nicht ein­mal dem Sub­jekt selbst gehö­ren, son­dern ledig­lich durch Nach­ah­mung ande­rer Begeh­ren­der zustan­de gekom­men sind? Hat das kon­kre­te Objekt des Begeh­rens kei­ne Wirk­lich­keit und kei­ne Eigen­schaf­ten, die es objek­tiv begeh­rens­wert machen, auch ohne die Anwe­sen­heit eines Dritten?

Schon an sei­nem Aus­gangs­punkt, dem Begeh­ren, sieht Girard den Men­schen von Antrie­ben bestimmt, die ihm selbst weit­ge­hend unbe­wußt sind. Dies gilt erst recht für die Gewalt, die Fol­ge der mime­ti­schen Riva­li­tät ist. Mit sei­nem Haupt­werk Das Hei­li­ge und die Gewalt (La vio­lence et le sacré, 1972, dt. 1987) wech­sel­te Girard von der psy­cho­lo­gisch-indi­vi­du­el­len auf die sozio­lo­gisch-kol­lek­ti­ve Ebe­ne. Er prä­sen­tier­te die Fra­ge nach den Grund­la­gen der Kul­tur als eine Art Kri­mi­nal­fall, des­sen Spu­ren jahr­tau­sen­de­lang ver­wischt wur­den. Pate stan­den dabei Freuds The­sen aus Totem und Tabu (1913): In der Dar­win­schen Urhor­de herr­sche ein „gewalt­tä­ti­ger, eifer­süch­ti­ger Vater, der alle Weib­chen für sich behält und die her­an­wach­sen­den Söh­ne ver­treibt, nichts wei­ter“, aber der Akt der Tötung die­ses archai­schen Patri­ar­chen durch die sich zusam­men­rot­ten­de Brü­der­schar, sein ritu­el­ler kan­ni­ba­lis­ti­scher Ver­zehr und sei­ne spä­te­re, das Schuld­ge­fühl der Täter kom­pen­sie­ren­de kul­ti­sche Ver­eh­rung habe den Tot­emis­mus und das Inzest­ta­bu der pri­mi­ti­ven Völ­ker begrün­det. Girard bedient sich ana­ly­ti­scher Werk­zeu­ge aus Freuds Arse­nal wie Ambi­va­lenz, Ver­drän­gung, Pro­jek­ti­on, Ver­schie­bung, Ver­leug­nung, Sym­bol­bil­dung, um die Mythen und reli­giö­sen Riten der Mensch­heit zu ent­schlüs­seln. Als ihren Ursprung ent­deckt er – wie Freud – einen spä­ter ver­tusch­ten und umge­deu­te­ten Mord, des­sen Opfer aller­dings nicht der mythi­sche Urva­ter und des­sen Motiv auch nicht der Neid ist.

Der kul­tur­stif­ten­de Ur-Mord wur­de nach Girards Vor­stel­lung kol­lek­tiv und ein­mü­tig von der Gemein­schaft began­gen, um die von der mime­ti­schen Riva­li­tät erzeug­te Span­nung und Gewalt, die zu eska­lie­ren und sie zu zer­stö­ren droh­te, auf ein stell­ver­tre­ten­des, ent­las­ten­des Ziel abzu­lei­ten. Die­ses Ziel ist der berühm­te „Sün­den­bock“, dem die Schuld an der Mise­re und Zwie­tracht der Grup­pe auf­ge­halst wird und des­sen Opfe­rung einen kathar­ti­schen Effekt haben soll. Erst durch die­sen gemein­schaft­lich began­ge­nen Mord wird aus den riva­li­sie­ren­den Indi­vi­du­en eine Gemein­schaft. Nicht nur wer­den sie durch die gemein­sa­me und spä­ter ver­dräng­te Schuld geei­nigt, das Opfer, das zunächst ein Men­schen­op­fer ist, hat ihre Aggres­sio­nen, Rache­ge­lüs­te und wech­sel­sei­ti­gen Anschul­di­gun­gen gleich­sam absor­biert, und ihnen damit eine Mög­lich­keit gebo­ten, aus der Spi­ra­le der Gewalt zu ent­rin­nen: „Es gehört zur Funk­ti­on des Opfers, inter­ne Gewalt­tä­tig­kei­ten zu besänf­ti­gen und das Aus­bre­chen von Kon­flik­ten zu verhindern.“

Ste­fan Geor­ge hat die­sen Mecha­nis­mus groß­ar­tig in sei­nem Gedicht “Der Gehenk­te” dargestellt:

Den ich vom gal­gen schnitt · wirst du mir reden?

Der Gehenk­te:

Als unter der ver­wün­schung und dem schrei / Der gan­zen stadt man mich zum tore schlepp­te / Sah ich in jedem der mit stei­nen warf / Der voll ver­ach­tung breit die arme stemm­te / Der sei­nen fin­ger reck­te auf der ach­sel / Des vor­der­manns das aug weit auf­ge­ris­sen · Dass in ihm einer mei­ner fre­vel stak

Nur schmä­ler oder ein­ge­zäumt durch furcht. / Als ich zum richt­platz kam und stren­ger mie­ne / Die Herrn vom Rat mir bei­des: ekel zeig­ten / Und mit­leid musst ich lachen: ›ahnt ihr nicht / Wie sehr des armen sün­ders ihr bedürft?‹ / Tugend – die ich ver­brach – auf ihrem ant­litz / Und sit­ti­ger frau und maid · sei sie auch wahr · So strah­len kann sie nur wenn ich so fehle!

Als man den hals mir in die schlin­ge steck­te / Sah scha­den­froh ich den tri­umf vor­aus: / Als sie­ger dring ich einst in euer hirn / Ich der ver­scharr­te .. und in eurem samen / Wirk ich als held auf den man lie­der singt / Als gott ..und eh ihrs euch ver­sa­het · biege

Ich die­sen star­ren bal­ken um zum rad.

Der kol­lek­ti­ve Lynch­mord löst die mime­ti­sche Gewalt­kri­se und ermög­licht das fried­li­che Zusam­men­le­ben, wes­halb das Opfer häu­fig im Nach­hin­ein als Wohl­tä­ter, Stif­ter­fi­gur oder gött­li­che Gestalt ver­klärt wird, wäh­rend die sakra­len Insti­tu­tio­nen die ursprüng­li­che Opfe­rung in sym­bo­li­scher oder ritua­li­sier­ter Form wie­der­ho­len. Das Hei­li­ge oder Sakra­le ist also bei Girard mehr oder weni­ger iden­tisch mit der Gewalt, deren reli­giö­se Insti­tu­tio­na­li­sie­rung ver­hin­dert, daß sich eine noch schlim­me­re Gewalt die Bahn bricht:

Das Hei­li­ge ist all das, was den Men­schen gera­de des­halb so gut beherrscht, weil er sich fähig glaubt, es zu beherr­schen. Das Hei­li­ge ist also unter ande­rem, aber erst in zwei­ter Linie, die Gewit­ter, Wald­brän­de, Epi­de­mien, die eine gan­ze Bevöl­ke­rung nie­der­stre­cken. Es ist aber vor allem und in viel ver­deck­te­rer Wei­se die Gewalt der Men­schen selbst, jene Gewalt, die dem Men­schen äußer­lich ist und inzwi­schen mit allen ande­ren Kräf­ten gleich­ge­setzt wird, die von außen auf den Men­schen ein­wir­ken. Es ist die Gewalt, die Herz und See­le des Hei­li­gen ausmacht.

Unab­läs­sig ver­sucht das Reli­giö­se, die Gewalt zu besänf­ti­gen und deren Ent­fes­se­lung zu ver­hin­dern. Reli­giö­ses und mora­li­sches Ver­hal­ten zielt, im All­tag mit­tel­bar und im ritua­li­sier­ten Leben unmit­tel­bar, auf Gewalt­lo­sig­keit ab, und zwar para­do­xer­wei­se über die Ver­mitt­lung von Gewalt.

Girard sucht die Spu­ren die­ses Grün­dungs­mor­des in anti­ken Mythen, grie­chi­schen Tra­gö­di­en und den Riten pri­mi­ti­ver Völ­ker, die er wie ein Detek­tiv oder Psy­cho­ana­ly­ti­ker seziert. Die Poin­te des archai­schen Lynch­mor­des ist dabei, daß der Tat­be­stand bis zur Unkennt­lich­keit ver­fälscht wur­de, die Mythen also „lügen“ und nicht beim Wort genom­men wer­den dür­fen. Des­halb muß Girard über wei­te Stre­cken auf Spe­ku­la­tio­nen und gebo­ge­ne Inter­pre­ta­tio­nen zurück­grei­fen, wofür er auch oft kri­ti­siert wur­de. So meint er, in der Tra­gö­die des Sopho­kles Hin­wei­se zu ent­de­cken, daß Ödi­pus eigent­lich unschul­dig sei und will­kür­lich aus­ge­wählt wur­de, um einen Schul­di­gen für die Pest in The­ben zu finden.

Die Rekon­struk­ti­on sei­nes Fre­vels wäre dem­nach nur ein Vor­wand, um sei­ne Opfe­rung zu for­dern. Der Mythos sieht im Opfer kei­nen „Sün­den­bock“ in unse­rem reflek­tier­ten Sin­ne, also ein im Grun­de unschul­di­ges Wesen, auf das die Sün­den des Vol­kes ledig­lich pro­ji­ziert wer­den, im Gegen­teil: Damit die Opfe­rung ihre heil­stif­ten­de Wir­kung ent­fal­ten kann, müs­sen die Opfe­rer von der tat­säch­li­chen Schuld des Sün­den­bocks über­zeugt sein. In der Welt des Mythos sind die Hexen tat­säch­lich schuld an der ver­dor­be­nen Ern­te und haben die Juden tat­säch­lich die Brun­nen ver­gif­tet. Die Mythen inter­es­sie­ren sich nicht für die Opfer, da sie aus der Sicht der Täter erzählt wer­den. Der Per­spek­ti­ven­wech­sel setzt nach Girard erst mit dem Juden­tum ein. Das Alte Tes­ta­ment beginnt als ers­ter reli­giö­ser Text den Opfern und unge­recht Ver­folg­ten eine Stim­me zu geben, etwa in den Psal­men oder im Buch Hiob. Doch erst mit dem Neu­en Tes­ta­ment wird die Lüge, auf der die anti­ken Opfer­in­sti­tu­tio­nen auf­bau­en, voll­ends ent­larvt. Damit wird das Hei­den­tum entsakralisiert.

Indem das Chris­ten­tum den Grün­dungs­mord offen­bar­te, zer­stör­te es die Unwis­sen­heit und den Aber­glau­ben, die für die­se archai­schen Reli­gio­nen uner­läß­lich sind. Das Chris­ten­tum ließ also ein Wis­sen ent­ste­hen, das man sich zuvor nicht hat­te vor­stel­len kön­nen. Der von den Opfer­zwän­gen befrei­te mensch­li­che Geist ersann die Wis­sen­schaft, die Tech­ni­ken sowie das Bes­te und Schlimms­te der Kul­tur. Unse­re Zivi­li­sa­ti­on ist die krea­tivs­te, die mäch­tigs­te Zivi­li­sa­ti­on aller Zei­ten, zugleich aber auch die fra­gils­te und am stärks­ten bedroh­te, denn sie ver­fügt nicht mehr über die Schutz­vor­rich­tung des archa­isch Reli­giö­sen. In Erman­ge­lung des Opfers im wei­te­ren Sinn läuft sie Gefahr, sich selbst zu zer­stö­ren, wenn sie nicht auf­paßt, was sie offen­kun­dig nicht tut.

René Girard: Im Ange­sicht der Apo­ka­lyp­se. Clau­se­witz zu Ende den­ken. Gesprä­che mit Benoît Chant­re, Ber­lin 2014

Die­se Deu­tung der Bibel, die der Katho­lik Girard durch­aus apo­lo­ge­tisch ver­stan­den haben woll­te, ist der wohl fes­selnds­te Aspekt sei­nes Wer­kes. In der Erzäh­lung von der Pas­si­on Chris­ti käme ans Licht, „was seit Grund­le­gung der Welt ver­bor­gen“ (Psalm 78) gewe­sen sei, näm­lich das Geheim­nis, das die Opfer unschul­dig, daß sie nichts ande­res als Sün­den­bö­cke waren: “Es war aber Kai­phas, der den Juden riet, es wäre gut, daß EIN Mensch wür­de umge­bracht für das Volk.“ (Joh 18, 14). Die Insti­tu­tio­nen, die Hohe­pries­ter, der Mob sind im Unrecht; ein­zig die klei­ne Schar der Apos­tel wider­steht der mime­ti­schen Anste­ckung durch die gewalt­tä­ti­ge Mas­se, und selbst sie sind nicht immun, wie die Ver­leug­nung Petri zeigt.

Die Offen­ba­rung der Grün­dungs­ge­walt und der Unschuld des Opfers hat aller­dings unge­heu­re, zwie­späl­ti­ge Fol­gen. Das Her­ren­wort „Ich bin nicht gekom­men, Frie­den zu brin­gen, son­dern das Schwert“ (Mt 10, 34) inter­pre­tiert Girard als Fol­ge der Auf­lö­sung der Opfer­in­sti­tu­ti­on durch die Dis­kre­di­tie­rung ihrer Grund­la­gen. Denn wenn nur der Sün­den­bock-Mecha­nis­mus die Gewalt in Zaum hal­ten kann, bedeu­tet sei­ne Abschaf­fung die Gefahr des Rück­falls in den Urzu­stand des Krie­ges aller gegen alle, womit auch der Pfad zur Apo­ka­lyp­se – wört­lich: Offen­ba­rung – berei­tet wäre. Das ergibt natür­lich eine selt­sa­me Kon­stel­la­ti­on, die man als Ein­wand gegen den Sinn der christ­li­chen Offen­ba­rung spricht, wie Girard sie ver­steht, ins Feld füh­ren könn­te. Wenn die mensch­li­chen Insti­tu­tio­nen qua­si auf einer from­men Lüge und auf einer dosier­ten Gewalt beru­hen, die schlim­me­re Gewalt ver­hin­dern soll – war­um sol­len sie durch die Ent­hül­lung einer Wahr­heit, die nie­mand ertra­gen kann, auf­ge­löst werden?

Der kon­ser­va­ti­ve Phi­lo­soph Pierre Manent, ein schar­fer Kri­ti­ker Girards, brach­te die­se Dop­pel­bö­dig­keit auf den Punkt:

Wenn die poli­ti­sche Natur des Men­schen Gewalt ist oder auf Gewalt grün­det, dann ist die Gewalt­lo­sig­keit des Chris­ten­tums, was Machia­vel­li die Gewalt gegen die Natur nann­te, die Gewalt zwei­ten Gra­des, die „from­me Grau­sam­keit“. Wenn die mensch­li­che Kul­tur essen­ti­ell auf Gewalt grün­det, dann kann das Chris­ten­tum nichts ande­res brin­gen als die Zer­stö­rung der Mensch­heit unter dem trü­ge­ri­schen Schein der Gewaltlosigkeit.

Pierre Manent, Com­men­tai­re 5/19 (1982).

In der Apo­kal­py­se ste­hen sich nach Girard das Reich Satans der Gewalt und der Lüge und das Reich Got­tes der Gewalt­lo­sig­keit und der Wahr­heit streng geschie­den gegen­über. In die­ser Zuspit­zung mani­fes­tiert sich der Sinn von Höl­der­lins berühm­tem Vers: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Ret­ten­de auch.“ In sei­nen letz­ten Lebens­jah­ren sah Girard die bibli­schen Pro­phe­zei­un­gen vom Ende der Welt in greif­ba­re Nähe rücken: „Ein Ende Euro­pas, der abend­län­di­schen, ja der gan­zen Welt ist mög­lich“, sag­te er 2007 im Gespräch mit Benoît Chant­re. Die­se Sät­ze wur­den in den Jah­ren des „Kriegs gegen den Ter­ror“ und des glo­ba­len Auf­stiegs des Dschi­ha­dis­mus aus­ge­spro­chen. Girard sah in dem neu erwach­ten Isla­mis­mus ein „Sym­ptom eines Gewalt­an­stiegs glo­ba­len Ausmaßes“.

Die­ser Gewalt­zu­wachs gehe jedoch ursprüng­lich „vom Abend­land selbst aus, da er die Form einer Ant­wort der Armen auf die Wohl­ha­ben­den annimmt. Er ist eine der letz­ten Meta­sta­sen des Krebs­ge­schwürs, das die abend­län­di­sche Welt befal­len hat. Der Ter­ro­ris­mus ist die Vor­hut einer all­ge­mei­nen Revan­che gegen den Reich­tum des Abend­lan­des“, wäh­rend „die Stär­ke des Isla­mis­mus“ daher rüh­re, „daß er eine Ant­wort auf die Unter­drü­ckung der gesam­ten Drit­ten Welt dar­stellt“. Die „wech­sel­sei­ti­ge Theo­lo­gi­sie­rung des Krie­ges“ – Girard dach­te hier wohl an die evan­ge­li­kal inspi­rier­te Rhe­to­rik, derer sich Geor­ge W. Bush ger­ne bedien­te – bil­de „eine neue Pha­se der Stei­ge­rung bis zum Äußers­ten“, wie er im Anschluß an Clau­se­witz formulierte.

Befan­gen in sei­ner Uni­ver­sal­theo­rie und ihren Prä­mis­sen, gelang es Girard jedoch nicht, ein wirk­lich schlüs­si­ges Bild der heu­ti­gen Lage zu zeich­nen. Mit dem Islam ist eine aus­ge­spro­che­ne Täter­re­li­gi­on auf den Plan getre­ten, die expli­zit zur Ver­meh­rung des Glau­bens durch das Schwert ruft, und auf eine Welt trifft, die, wie Girard beton­te, gleich­zei­tig hyper- wie anti­christ­lich ist. Er sah in der „poli­ti­schen Kor­rekt­heit“ eine Art „Super­chris­ten­tum“, das von der Vik­ti­mi­sie­rung wie beses­sen und stän­dig auf der Suche nach neu­en Opfern und Unter­drü­ckungs­me­cha­nis­men sei. Ihre Anhän­ger sei­en stän­dig auf der Suche nach Sün­den­bö­cken, und dabei eben­so opfer­fi­xiert wie selbst­be­zo­gen. Die “poli­ti­sche Kor­rekt­heit” tei­le zwar die christ­li­che Sor­ge um das Opfer, die der Natio­nal­so­zia­lis­mus im Anschluß an Nietz­sche bekämpft hat­te, ver­wer­fe aber gleich­zei­tig die christ­li­che Moral, Tra­di­ti­on und Kul­tur als wei­te­re For­men der „Unter­drü­ckung“.  Poli­ti­sche Kor­rekt­heit sei eine „pri­mi­ti­ve Form des Mar­xis­mus“, der „Tota­li­ta­ris­mus der Zukunft“.  Auch für den Kitsch der “Welt­of­fen­heit” und die Uto­pie der offe­nen Gren­zen hat­te Girard nichts übrig:

Heu­te hal­ten wir den Staat für schlecht. Dar­um glau­ben wir, daß es in einer glo­ba­li­sier­ten Welt, in der alle ein­an­der immer mehr glei­chen, kei­ne Gewalt mehr geben wird. Das ist immer noch die Idee, daß Gewalt auf Unter­schie­den basiert. Aber sie mer­ken nicht, daß sie mehr und mehr die Bedin­gun­gen für Gewalt schaf­fen, indem sie die Gren­zen besei­ti­gen. Was war der Zweck von Gren­zen? Die Gewalt im Inne­ren fest­zu­hal­ten. Oder sie auf zwei oder drei Natio­nen zu beschrän­ken, da sie sich sonst in die gan­ze Welt aus­brei­ten wür­de. Wenn man die Welt glo­ba­li­siert, wird man sie anzünden.

René Girard: Inter­view mit CBC, Teil 5 (2011).

Viel­leicht läßt sich das Phä­no­men der Opfer­hier­ar­chien inner­halb der Ideo­lo­gie des Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus ein wenig mit Girard­schen Son­den durch­leuch­ten. Der aus der Drit­ten Welt stam­men­de „Flücht­ling“ oder „Migrant“ nimmt in der mul­ti­kul­tu­ra­lis­ti­schen Ima­gi­na­ti­on den Sta­tus einer gehei­lig­ten Figur ein, eines „Opfers“ per se, das stän­dig von Sün­den­bock­me­cha­nis­men wie „Aus­gren­zung“, „Ras­sis­mus“ oder Pogrom bedroht sei. In die­sem Zusam­men­hang erwähn­te Botho Strauß Girard en pas­sant in sei­nem Essay “Anschwel­len­der Bocks­ge­sang” (1993):

Ras­sis­mus und Frem­den­feind­lich­keit sind “gefal­le­ne” Kult­lei­den­schaf­ten, die ursprüng­lich einen sakra­len, ord­nungs­stif­ten­den Sinn hat­ten. In “Das Hei­li­ge und die Gewalt” schreibt Rene Girard: “Der Ritus ist die Wie­der­ho­lung eines ers­ten spon­ta­nen Lynch­mor­des, in des­sen Fol­ge in der Gemein­schaft wie­der Ord­nung herrsch­te …” Der Frem­de, der Vor­über­zie­hen­de wird ergrif­fen und gestei­nigt, wenn die Stadt in Auf­ruhr ist. Der Sün­den­bock als Opfer der Grün­dungs­ge­walt ist jedoch nie­mals ledig­lich ein Objekt des Has­ses, son­dern eben­so ein Geschöpf der Ver­eh­rung: Er sam­melt den ein­mü­ti­gen Haß aller in sich auf, um die Gemein­schaft davon zu befrei­en. Er ist ein meta­bo­li­sches Gefäß.

Der “Migrant” als Opfer: das gilt selbst dann noch, wenn er im Extrem­fall als isla­mi­scher Fun­da­men­ta­list oder gar Ter­ro­rist auf­tritt. Schuld an sei­nem Tun tra­gen dann Sün­den­bö­cke wie “Ras­sis­mus”, “Dis­kri­mi­nie­rung”, “Kolo­nia­lis­mus” usw. Die­je­ni­gen, die Gewalt durch Ein­wan­de­rer erlei­den, sei es durch Kör­per­ver­let­zung, Ver­ge­wal­ti­gung oder Mord, sind dann viel­leicht nicht nur die in Kauf genom­me­nen Kol­la­te­ral­schä­den der „anti­ras­sis­ti­schen“ Uto­pie, son­dern womög­lich ein unbe­wußt dar­ge­brach­ter, ent­süh­nen­der Blut­zoll an einen moloch­ar­ti­gen Gott, der Süh­ne, gar Ver­gel­tung für die ech­ten und ver­meint­li­chen Unta­ten ver­langt, die der euro­päi­sche Mensch dem nicht-euro­päi­schen Men­schen zuge­fügt hat.

Und wäh­rend die mul­ti­kul­tu­ra­lis­ti­sche Poli­tik Unglei­che zu Brü­dern machen will, und inne­re Span­nun­gen, Kon­flik­te und mime­ti­sche Riva­li­tä­ten schürt, hat sie einen Sün­den­bock für ihr per­ma­nen­tes Schei­tern iden­ti­fi­ziert: Die „Rech­ten“ in all ihren Schat­tie­run­gen, die ihr Expe­ri­ment durch „Ras­sis­mus“, „Haß“, „Het­ze“ und „Into­le­ranz“ sabo­tie­ren und zunich­te machen. Man muß sie stra­fen mit Aus­gren­zung, Äch­tung, sozia­ler Ver­nich­tung. Von der kol­lek­ti­ven Ver­sto­ßung des „rechts­ra­di­ka­len“ Sün­den­bocks erhofft man sich die Eini­gung einer ret­tungs­los frag­men­tier­ten Gesell­schaft im Zei­chen der „Viel­falt“. Aus die­sem Grund wird das „Nazi“-Phantom auch immer böser, schwär­zer, omni­prä­sen­ter, ver­netz­ter dargestellt.

In der Tie­fen­schicht steckt das Trau­ma des Zwei­ten Welt­kriegs und des Holo­causts, die Erin­ne­rung an die gro­ße mime­ti­sche Gewalt­kri­se Euro­pas, die via Natio­nal­so­zia­lis­mus nahe­zu aus­schließ­lich den „Rech­ten“ ange­las­tet wird. Die Bedin­gung für den Frie­den war Ver­ur­tei­lung des besieg­ten deut­schen Sün­den­bocks als Allein­schul­di­gen an dem Blut­bad, auf den die ande­ren betei­lig­ten Natio­nen ihre Mit­schuld abwäl­zen konn­ten. Sie begrün­de­ten den Mythos vom erschla­ge­nen Dra­chen, auf des­sen Grab eine neue Welt­ord­nung errich­tet wur­de, die in den heu­ti­gen Glo­ba­lis­mus der Gren­zen­lo­sig­keit mün­de­te. Der Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus ist einer sei­ner wesent­li­chen ideo­lo­gi­schen Bestand­tei­le, und sei­ne Kol­la­te­ral­schä­den und Sün­den­bö­cke sind die Opfer, der täg­lich dar­ge­bracht wer­den, damit die Welt nie wie­der in die Gewalt­kri­se des gro­ßen Krie­ges zurückfalle.

Eine Kurz­fas­sung die­ses Arti­kels erscheint in Sezes­si­on Nr. 76, The­men­heft “Gewalt”.

 

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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Kommentare (27)

Maiordomus

21. Februar 2017 17:33

Was die oben genannten Kriterien für das Heilige betrifft, wohl eher Quatsch, mögen es auch prominente Geister sein. Vielleicht müsste man sich damit befassen, was Max Scheler unter dem Heiligen als einen der vier Grundwerte zusammen mit dem Wahren, Schönen und Guten verstanden hat. Im übrigen ist das Heilige dasejenige, worüber man letztlich keinen Spass versteht.

deutscheridentitärer

21. Februar 2017 23:18

ein verstörender Artikel

tOm~!

22. Februar 2017 00:37

Was mir bei Girard besonders gefährlich erscheint, ist die These mit dem Sündenbock. Stellen Sie dies doch mal bitte in ein Verhältnis zum Verlauf des 20. Jahrhunderts. Welches Volk leidet denn bis heute unter seinem Sündenbock? 

Und nicht nur wir Deutschen leiden darunter. Im Grunde leiden alle sogenannten "Rechten", Konservativen bis hin zu Donald Trump, noch heute unter einem Mann, Adolf Hitler. Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte gab es einen solchen Sündenbock.

Wer aber kennt Genrikh Yagoda?

*We cannot know with certainty the number of deaths Cheka was responsible for in its various manifestations, but the number is surely at least 20 million, including victims of the forced collectivization, the hunger, large purges, expulsions, banishments, executions, and mass death at Gulags.

And us, the Jews? An Israeli student finishes high school without ever hearing the name "Genrikh Yagoda," the greatest Jewish murderer of the 20th Century, the GPU's deputy commander and the founder and commander of the NKVD. Yagoda diligently implemented Stalin's collectivization orders and is responsible for the deaths of at least 10 million people. His Jewish deputies established and managed the Gulag system. After Stalin no longer viewed him favorably, Yagoda was demoted and executed, and was replaced as chief hangman in 1936 by Yezhov, the "bloodthirsty dwarf."*

"https://www.ynetnews.com/articles/0,7340,L-3342999,00.html"

Der Gehenkte

22. Februar 2017 00:51

Faszinierende Materie, keine Frage. Ohne die späte Wende wäre mir freilich nicht recht klar gewesen, was der Artikel – über Rezensionzwecke hinaus – bewirken will. Die gesamte Herleitung wirkt doch sehr spekulativ, auch wenn sie spannende Perspektiven eröffnet. Bewegen wir uns im Bereich des Realen? Es tut sicher gut, eine Position des Als-Ob einzunehmen. Dann werden die subtilen Denkbahnen, das um-die-Ecke-denken möglicherweise sinnvoll, wenngleich ich mitunter an Lacan oder Althusser denken mußte, also zwei der größten „Charlatene“ der Philosophie. Überhaupt klingt der Begriff des Begehrens doch sehr nach Postmoderne. Gibt es da Verbindungen?

Die Empirie sagt uns jedenfalls etwas anderes. Den von Girard konstatierten „Gewaltzuwachs“ hat es, wenn man Steven Pinker folgt, nicht gegeben. Im Gegenteil, Pinker versucht auf über 1000 Seiten seines Buches „Gewalt“, „Eine neue Geschichte der Menschheit“ zu schreiben, die am historischen Dokument, vor allem aber an der Statistik zu beweisen versucht, daß der Zivilisationsprozeß zu einer stetigen – wenn auch von Katastrophen unterbrochenen – Verminderung von Gewalt und zwar jeglicher Form, aktueller und symbolischer, geführt hat. Wenn Gewalt aber an Religiosität gebunden ist und diese domestiziert, „religiös Institutionalisiert“, dann müssten wir in Zeiten der Säkularisation wahren und akzelerierenden Gewaltorgien ausgesetzt sein.

Girards Gedanken mögen interessanter sein, aber sind sie auch richtiger? Es scheinen faszinierende psychohistorische Hypothesen, aber können sie verifiziert werden?

Ist der Islam eine „ausgesprochene Täterreligion“ (wer sagt das? ML oder RG?)?

M.L.: Ich sage das, und Girard auch. Mohammed ist ein Täter, Christus ein Opfer (im zweifachen Sinn). Schon Pascal hat diesen Unterschied betont.

Daran stört das „ausgesprochen“, weil es ihn auf eine Eindimensionalität zurückstuft, die wohl so nicht besteht. Der Islamismus läßt sich ebenso als verzweifelte Reaktion auf den Verlust des Religiösen auch im Islam beschreiben – das hat, wenn ich nicht irre, Sloterdijk in „Gottes Eifer“ darzulegen versucht.

Darf man in der „Hierarchie der Opfer“ Vertiefungen zur These des Zusammenhalts des multikulturellen Teppichs durch kollektive Verstoßung des „Rechtsradikalen“ erwarten?

M.L.: Ja.

Ist der Sündenbockgedanke auf den casus Höcke anwendbar? Oder den Holocaust? …

Mehr Fragen als Antworten. Auch des Verständnisses ...

Der Gehenkte

22. Februar 2017 01:20

Mohammed ist ein Täter, Christus ein Opfer“

Dem ist wohl so – aber die islamische Erzählung sieht das ganz anders. Mohammed wurde erst zum Täter nachdem er zum Opfer wurde. Die Quraish haben ihn nicht akzeptiert, er wurde aus Mekka vertrieben, das Tötungsgebot gilt nur, wenn man angegriffen wird oder bei Ungläubigen (Angreifern Gottes – womit der Verteidiger Opfer ist) etc.

M.L.: Na, diese krasse Selbstgerechtigkeit und Täter-Opfer-Umkehr ist bis heute so geblieben in der islamischen Mentalität. Gerade bei der Koran-Lektüre fällt das krass auf. Jeder islamische Terrorist und Massenmörder sieht sich als Opfer, das seine unterdrückten Glaubensbrüder und -schwestern rächt. Im Islam wird von Opfern nur geredet, um die Rache anzuheizen. Im NT gibt es dagegen die Forderung nach dem expliziten Verzicht auf Rache. Da empfiehlt es sich, die "islamische Erzählung" textkritisch zu lesen, wie man es seit 250 Jahren mit dem NT macht, sie ist ja schließlich eine ausgesprochene Rechtfertigungs- und Propagandaschrift.

Und Mohammed ist auch nicht die Religion. Der Koran ist, wie alle Heiligen Bücher, voller intrinsischer Widersprüche und ich glaube sogar, daß die Widersprüchlichkeit Bedingung dafür ist, daß ein Buch ein Heiliges werden kann: es braucht die ambigue Aussage um als Projektionsfläche herhalten zu können. Die Vielfalt der Interpreationen, wenn auch im engen Rahmen, kennt ganz unterschiedliche Zugänge zu diesen Themen - es gibt eine islamische Scholastik.

M.L: Der Islam kümmert sich fast gar nicht um die Opfer oder Verfolgten, es sei denn, sie seien seine Glaubensbrüder und -schwestern, um dann seinen gerechten Zorn zu entlassen. Mit anderen Worten ist der Islam eine extreme Sündenbock-Religion, darum hat er auch das selbstreflektierte Denken, den Selbstzweifel und Selbstverdacht, die Gewissensprüfung usw. kaum entwickelt.

Umgekehrt ist Jesus auch Täter gewesen: Vertreibung der Händler aus dem Tempel, Ich bringe das Schwert usw.

M.L.: Das ist kaum mit Mohammed vergleichbar. Ein stärkerer Kontrast zwischen der Passion Christi und dem Leben Mohammeds als siegreicher Feldherr ist schwer vorstellbar. Ebenso gibt es im Koran nicht die Ethik der Gewaltlosigkeit, die im NT so bedeutend ist.

Jakobus 1.22: „Seid aber Täter des Worts und nicht Hörer allein, wodurch ihr euch selbst betrügt.“ usw.

Damit soll die Wesensdifferenz nicht in Frage gestellt, aber ein bißchen verflüssigt werden.

tOm~!

22. Februar 2017 01:49

Man könnte sich sogar die Frage stellen, ob es denkbar wäre, daß Girard auch ohne einen Holocaust zu einem Erklärungsmuster gekommen wäre, das darauf abzielt, alle Menschen hinsichtlich der Gewalttätigkeit unter Generalverdacht zu stellen. 

In seiner Geschichte hat das britische Empire gut 200 Länder erobert, die Liste der Landstriche die man nie erobert hat, umfasst nur 22 geoplitisch mehr oder weniger unbedeutende Staaten.

Dies geht aus dem Buch "All the Countries We've Ever Invaded: And the Few We Never Got Round to" von Stuart Laycock hervor.

"https://www.amazon.de/All-Countries-Weve-Ever-Invaded/dp/0752479695"

Bis heute muss sich kein britischer Staatsbürger für diese Vergangeheit schämen, war man doch immer für höhrere Ziele und Ideale, für Gott und die Krone am Werk.

Wenn ich das richtig verstanden habe, spielte eine solche Petitesse bei einem Mann wie Girard gar keine Rolle, da eben alle Menschen und Völker zu Rivalität, und in Folge dessen zu Gewalt neigen.

Ist es aber bei einer solchen Historie wirklich recht zu behaupten, die Bolivianer seien genauso gewalttätig veranlagt wie die Angelsachsen?

M.L.: Ich weiß nicht so recht, was Ihr Problem ist (bzw doch). Der Holocaust spielt bei Girard keine zentrale Rolle. Die anthropologische Gewalt der ganzen Menschheit ist sein Thema.

Raskolnikow

22. Februar 2017 09:31

Beim Lesen,

des Artikels verfiel ich in ein leises Summen und wiegte den Kopf hin und her, untrügliches Zeichen einer innerlichen Berührung. Manchmal bewege ich auf idiotische Weise die Lippen beim Lesen. Diesmal summte ich. Schon das obangestellte Bild bringt eine Saite in meinem Schädel zum Klingen, ein Schädel der glücklicherweise recht hohl ist, ja glücklicherweise, denn volle Gehirnkästen klingen nicht, und das Sujet verbietet sich für Intellektuelle, Professoren oder Berufsphilosophen. (Zuletzt summte ich übrigens, wie passend, bei Albert Caraco...)

Nun denn: Mir gelingt es beim Lesen nicht, ganz eindeutig zwischen Girards und Lichtmesz´ Ansicht zu unterscheiden, aber die angebliche Klarheit der christlichen Gewaltlosigkeit will mir durchaus nicht einleuchten.

Das Konzept der Erbsünde erkennt zweifellos die barbarische Natur des Menschen vollumfänglich an. Christus ist illusionslos, was unsere Begierden und unsere Verdorbenheit anbelangt. Auch wenn Frau Sommerfeld alternative Ansichten auf die Bühne ruft, über die Friedlichkeit der menschlichen Seele macht sich nur der Frevelhafte Illusionen, der den Krieg oder das Verbrechen abschaffen will. Im übrigen halte ich Holocaust-Gasmorde, Drohnenmassaker und Bombenteppiche für im Grunde gewaltlose Formen des Tötens. Es ergiebt sich aus diesen technisierten Verfahren keine Erfahrung!

Selbstverständlich ist der Sündenbock das naheliegende Mittel, die verhinderte Gottesunmittelbarkeit bzw. Götterunmittelbarkeit wieder herzustellen. Aber jetzt trennen sich unsere Ansichten: der Gottmensch nimmt das Opfer eben nicht hinweg, sondern setzt es erst ein. Das ungeheuerlichste aller Opfer! Das Christentum ist die Feier der menschlichen Gewalttätigkeit! Christus sagt nicht: "Hört auf zu töten!", sondern er sagt: "Tötet richtig! Tötet endgültig! Tötet Euren Gott!" Die islamischen Terroristen sind gegen uns nur erbärmliche Amateure des Tötens!

Verzeih´ mir, werter Meister Lichtmesz, ich muß dieses Steckenpferd reiten, denn es ist mein Sujet. Unzählige Tagebuchseiten sind bedeckt mit diesem Lebenselexier und das Schönste daran: kein Philosoph, kein Professor könnte je profund darüber schreiben. Nur wer sich vor einer Golfausrüstung, einem Rollkoffer, hochgestellten Polohemdkragen und slimFit-Textilien mehr ekelt, als vor der Kotze eines Sterbenden, dem Monatsblut der Frau oder den Innereien eines geschlachteten Ziegenbocks ist hier befugt. Also laß mir, in Gottes Namen, ein wenig Raum!

Man schaue einmal auf die Mariendarstellungen der Alten oder Flämischen Meister! Diese Männer waren gläubige Christen mit Furcht vor Gott, dem Teufel und der Hölle. Einige dieser Darstellungen sind geradezu wollüstig. Rubens´ Maria mit dem Kinde, Frans Franckens Hexen, Jan van Eyck, Bosch etc... Wer spürt die Fleischlichkeit der christlichen Marien- und Märtyrerverehrung nicht?

Der Gewaltkult in unseren Kirchen ist unübersehbar. Allein die Darstellungen des Hl. Sebastian... Das Opfer ist in seiner blutigen Klarheit überall greifbar.

Und wo Opfer ist, wo sich die Märtyrer ein Stelldichein geben, da ist die Idee des Selbstopfers, der Selbstzerstörung nicht weit. Denn der Selbstmord ist vllt. die einzige wirkliche Freiheit, die uns auf Erden bleibt. Alles andere ist nur Gequatsche! Und gewinnt der Selbstmörder nicht auf jene fatale Weise Macht über sich? Nimmt er sich nicht durch seine Tat endgültig in Besitz?

(Natürlich steht hier und im folgenden nicht die windschiefe Frömmigkeit der Kirche des Neuen Advent oder jener protestantischen Fantasiekulte zur Rede. Ich bin offensichtlicherweis auf dem katholischen Trip und gebe nichts auf das Gerede der zeitgenössischen Pfaffia! Old School Latin-Meth!)

Nein, die Barbarei in ihrer Fleischlichkeit hat uns nie verlassen. Was ist denn die Transsubstantiation des Brotes anderes als die sublimierte Inbesitznahme des Fleisches? Das Eindringen in die Unversehrtheit des Körpers, das Hineinschlüpfen und letztlich das Verschlingen bedeuten Macht über das Fleisch. Verschmelzung als Besitz und Selbstauflösung. Dahin führt unser tiefstes Verlangen...

Was ist die Wesensverwandlung des Weines anderes als das Stillen unseres Blutdurstes? Welcher gesunde Junge hat sich nicht mit einem Freunde den Arm geritzt und Blutsbruderschaft geschworen? Wer gäbe insgeheim nicht zu, daß das Verletzen oder Töten eines Anderen neben dem Schrecken auch Hochstimmung verursachte?

Letztlich, ja man muss es sagen, ist der Drang zur Übernahme und zum Tohde die eigentliche Essenz unseres Lebens unter welcher Gestaltniß auch immer - ob nun die erotische Assistenz der Nachtschwester im Unfallkrankenhaus zu Calw, die Treue des Todesangstgefährten im Schützengraben vor S. oder die lebenslange Kameradschaft des Blutsbruders, begründet im Wald bei Werneuchen; das alles birgt den Willen zum totalen Besitz, oder zu vollkommener Hingabe und gleichzeitiger Beherrschung, und wo wäre die Macht am vollkommensten, denn im Akt des Verschlingens?

Ich halte es, um all der dampfenden Wirrniß wieder etwas Form zu verleihen, für ein Mißverständnis, zu glauben, Jesum hätte das Opfer abgeschafft. Nein, er hat es auf eine Höhe gehoben, die unfaßbar ist. Eine Höhe, die das säkularisierte Europa verloren hat bzw. gerade verliert. Wie gerne behielte ich unsere kultivierte Form des Barbarentums, mit Bach, Frapin XO und Ilja Repin. Aber entfällt die Transsubstantiation (hier liegt tatsächlich der Hase im Pfeffer!), folgt die niedrige Barbarei, denn der Mensch ist der Mensch ist der Mensch... Das Faß der Parusie in Duckmäuserzeitaltern lasse ich für heute ungeöffnet, es ginge sonst jede Contenance zuschanden.

Aber selbst das ist ja schon etwas: Medea tötet am Ende alle.

Wir gehen unzweifelhaft in ein Zeitalter des Blutes. Immerhin besser als das öde Übergangszeitalter der Heiligen Dreifaltigkeit aus Menschenrechten, BGB und Pressefreiheit...

Kennt Ihr das Bild "Sündenbock" von Norbert Bisky? Es schmückt meinen Herrgottswinkel und passt so fabelhaft zu Lichtmesz´ Beitrag... ER schlingt!

In Liebe,

R.

 

 

RMH

22. Februar 2017 12:07

Interessanter Artikel, mit Girad habe ich mich noch nie befasst und kann daher jetzt nur den obigen Beitrag und das, was ich bei wikiblödia dazu gelesen habe, meine Ausführungen zu Grunde legen. Girad scheint mir ein bisschen zu unterschlagen, dass es in den alten, integralen Weltanschauungen, wo Natur, Götter etc. alle immanent und damit alles untrennbar verbunden war und nichts ohne das andere Gedacht werden konnte und alles seine Bedeutung hatte, im Kleinen wie im Großen (Mikrokosmos/Makrokosmos), durchaus die magische Vorstellung gab, durch Opfer, Zauber, Riten und Kulte Dinge zielgerichtet bewegen, beeinflussen und verändern zu können. Und dies nicht nur als Kollektiv sondern auch ganz individuell. Man ging mit der besten Ziege zum Schamen oder Priester, opferte diese und hoffte, dadurch und den anderen dabei erfolgenden, kultischen Handlungen, etwas Konkretes zu bekommen. Heilung, Rache, Liebe, Wohlstand, Gelingen einer Unternehmung etc. Mit Katharsis hat das auf den ersten Blick erst einmal wenig zu tun.

Die magische Komponente von Opferungshandlungen erscheint mir folglich nicht besonders berücksichtigt zu sein und das alte "ich gebe etwas, um etwas zu bekommen", ganz individuell, geht in den kollektiven Vorstellungen vom Sündenbock etwas unter.

Grundsätzlich ist die Gruppendynamik und die Sinnstiftung von Gewalt unbestreitbar. Es gibt bis heute Gruppierungen (Mafia bspw.), Vereinigungen, Bruderschaften, Orden, Logen etc., die als Eintrittsgeld für uns "Laien" Unfassbares bis im geringeren Fall schlicht schwer Nachvollziehbares verlangen.

So kann eine gemeinschaftlich begangene Tat eine enge Verbindung schaffen, aus der sich zu lösen schwer bis unmöglich wird. Hier wird die Tat, das Opfer, das Ritual also auch fast magisch, als eine Art "Zauber", "Bann" oder "Fluch" zur Bindung verwendet.

Das weite Feld der "Initiation" in eine Gemeinschaft ist auch eine Thematik, die mit den von Girad beschriebenen Phänomenen nicht hundertprozentig erklärbar ist. 

Girad bringt einen auf jeden Fall zum Nachdenken und auch aktuelle Bezüge sind herstellbar.

PS: Kann bitte mal jemand den Missionar tOm~! ein wenig einbremsen. Ich bin ja selber Freund des Off-Topic und der Seitendiskussionen, aber er schafft es jetzt auch hier fast (zum Glück nur fast), den ganzen Debattenstrang mit seiner Weltweisheit und seinem Geraune - bei dem klar erkennbar ist, auf was es abzielt - zu zerlegen.

Gustav Grambauer

22. Februar 2017 14:27

Girard habe ich noch nicht gelesen, aber zur Islam-Diskussion:

Ich habe es hier noch nie preisgegeben, aber heute muß es raus: ich bin Sunnit. Ich hänge der SUNNA an. Bin gerade in meinen reinigungszeremoniellen Vorbereitungen auf meine Haddsch, der jährliche Höhepunkt unserer Religion steht wieder bevor:

https://www.youtube.com/watch?v=JZ2fu7_3DmA

Und, klar, Gewalt ist bei uns impliziert, möglichst brutal, BRING IHN UM, DEN KUFR!:

https://www.youtube.com/watch?v=L78RNzDh0Ac

- G. G.

Heinrich Brück

22. Februar 2017 17:00

Die Perspektive definiert den Sündenbock, der eine Lüge ist? Die Vergöttlichung des Sündenbocks heiligt das Profane nicht, schafft auch keine echte Gemeinschaft durch ihn.

In einer multikulturellen Welt gibt es keine SUNNA (Grambauers Germania) mehr, nur noch den NWO-Einheitsmenschen.

Diese drei Busse vor der Frauenkirche in Dresden, ein häßliches Schrottdenkmal, sind ein Symbol des Häßlichen vor dem Schönen. Wie unfrei muß ein Volk leben, wie sehr die Rolle des Sündenbocks angenommen worden sein, um sich eines solchen Angriffs des Niederen nicht mehr erwehren zu können!?

Henrik Linkerhand

22. Februar 2017 17:37

Das Heilige oder das Sakrale ist im ästethischen Sinn immer das Erhabene oder Sublime. Alles, was auf irgendeine Art und Weise geeignet ist, uns eine Idee von Schmerz und Gefahr zu vermitteln, erregt uns. Es ist das Schreckliche, welches unvermittelt über uns hereinbricht, und uns erschaudern läßt. Und genau dieses Erschaudern ist die vollendete Form des Erhabenen oder Sakralen und Heiligen. Die Idee von Schmerzen ergo Gewalt ist weit mächtiger als die der Vergnügungen. Ohne jeden Zweifel ist das Martyrium, die man uns antun könnte, in ihren Wirkungen auf den Körper und auf das Gemüt weit größer als alle Vergnügungen in all ihrer raffiniertesten Wollust. Nur muss das Opfer immer der andere sein, es muss Idee bleiben. Warum das so ist? Keine Ahnung.

Eine Stifterfigur ist kein Wohltäter und ein Wohltäter keine göttliche Gestalt. Das Opfer kann sehr wohl göttliche Gestalt sein.

Monika L.

22. Februar 2017 20:22

"Ich halte es, um all der dampfenden Wirrniß wieder etwas Form zu verleihen, für ein Mißverständnis, zu glauben, Jesum hätte das Opfer abgeschafft. Nein, er hat es auf eine Höhe gehoben, die unfaßbar ist. Eine Höhe, die das säkularisierte Europa verloren hat bzw. gerade verliert. "

Das Sujet verbietet sich für Intellektuelle, Professoren, Berufsphilosophen...dampfende Wirrniss- was soll das ? Man muß sich weder vor einer Golfausrüstung ekeln noch vor der Kotze eines Sterbenden..

"Gott ist Licht und keine Finsternis ist in ihm ". 1 Joh 1,5

"Die Gewalt Gottes wird nunmehr eindeutig lichthaft gesehen. Die entscheidende Wende von einem Menschen, der Gewalt ausübt, zu einem, dem Gewalt angetan wird und ihr freiwillig zustimmt, ist eine christliche Wende. Sie wird im Christentum sogar zur kultischen Mitte, zur memoria passionis des Messopfers. Dabei wird streng genommen der Opfergedanke verändert, nämlich als " ein für allemal" vollzogen gedacht. Seit das Uropfer, das eine "Lamm", starb, wird seine Tötung nicht wiederholt, sondern täglich in der Eucharistie unblutig gegenwärtig gefeiert. Hier opfert nicht der Mensch, sondern Gott selbst.Auch verbietet das Christentum religiös begründeten Selbstmord, ja, und aus guten Gründen sogar das Drängen zum Märtyrium - es leitet vielmehr grundsätzlich zur seelischen Hingabe an, verstanden als gewaltfreie imitatio Christ."

Das hat allerdings eine Professorin, Hanna -Barbara Gerl -Falkowitz, geschrieben. Man muß auch keine sakrale Kunst bemühen, um die Barbarei in ihrer Fleischlichkeit zu zeigen. Welches im alten katholischen Sinne erzogene Kind kennt nicht den Grusel und wollüstigen Schauer beim Betrachten entsprechender Bilder. Die gequälten Leiber gibt es auch in " schwuler" Ausführung. Siehe den Hl. Sebastian auf Pirinccis entsprechendem Buch.

Die Leiche am Kreuz schreckt ja nicht nur Moslems, diese aber besonders. Da meinte Navid Kermani bei der Betrachtung der barocken Kreuzigungsdarstellung von Guido Reni." Ich könnte an ein Kreuz glauben".. Wenn ein lieblicher Leib daranhängt. Ich stelle mir vor, man würde über das Altarkreuz in einem Dom (etwa in Köln) eine Fotografie einer echten heutigen  Kreuzigung einblenden. Oder eine Videoinstallation.

Wer Fotos  von gekreuzigten Christen im Irak sieht, der sieht die Wirklichkeit der Kreuzigung. Oder die Bilder vom Kindermassaker von Beslan. Wo Mütter ihre toten Kinder im Arm halten wie eine lebende Pieta. 

Das säkularisierte Europa hat die Höhe nicht verloren. Aber: es sieht das Naheliegende nicht. 

Und das Licht leuchtet in der Finsternis,und die Finsternis hat es nicht erfaßt.

Johannesprolog

Der Feinsinnige

22. Februar 2017 21:11

 

Ein hochspannender Artikel, gerade für einen interessierten Laien auf dem Gebiet der Theologie und der Philosophie.

Mir ging - wie @ deutschidentitärer - am Ende der Lektüre das Wort „verstörend“ durch den Kopf.

Martin Lichtmesz schreibt:

In seinen letzten Lebensjahren sah Girard die biblischen Prophezeiungen vom Ende der Welt in greifbare Nähe rücken: „Ein Ende Europas, der abendländischen, ja der ganzen Welt ist möglich“, sagte er 2007 im Gespräch mit Benoît Chantre. Diese Sätze wurden in den Jahren des „Kriegs gegen den Terror“ und des globalen Aufstiegs des Dschihadismus ausgesprochen. Girard sah in dem neu erwachten Islamismus ein „Symptom eines Gewaltanstiegs globalen Ausmaßes“.“

An anderer Stelle in diesem Block (bei christlicher Glaube und Flüchtlingsfrage von Michael Wiesberg) habe ich kürzlich die Frage formuliert, ob der christliche Gott wirklich den Willen haben könne, daß das heutige immer noch vom christlich-abendländischen Erbe geprägte Europa durch Völkerschaften mit anderer religiöser Prägung (insbesondere mit islamischer Prägung) übernommen bzw. erobert werde. Ich meinte, diese Frage (natürlich nicht mit letzter Sicherheit) verneinen zu können (besser gesagt: ich wünschte, diese Frage verneinen zu können). Für Antworten wäre ich dankbar!

Girard hätte wohl – wenn ich die soeben zitierte Passage aus dem Artikel richtig verstehe – ein „Ja“ auf meine Frage ernstlich in Betracht gezogen.

Nimmt man nun den im Artikel zitierten (offenbar gegen Girard gerichteten) Satz von Manent hinzu:

Wenn die menschliche Kultur essentiell auf Gewalt gründet, dann kann das Christentum nichts anderes bringen als die Zerstörung der Menschheit unter dem trügerischen Schein der Gewaltlosigkeit.“,

dann stellt sich ja fast die Frage, ob unsere christlichen Amtskirchen nicht in diesem Sinne sogar (ungewollt?) richtig liegen könnten in ihrer Auslegung des Christentums, die darauf hinausläuft, die endgültige Preisgabe unseres Kontinents zu betreiben (diesen zu opfern).

Dies hat wesentlich zu meinem Gefühl der Verstörung beigetragen. Wir wären verloren. ---

Verloren jedenfalls im weltlichen Sinne. Ob der Glaube an die Offenbarung des Johannes demgegenüber einen Trost geben kann, muß jeder für sich selbst entscheiden.

 

 

 

 

 

Sven Jacobsen

22. Februar 2017 21:15

Nach der Lektüre dieses wie üblich anregenden Artikels von Martin Lichtmesz (sowie der Kommentare und der druckfrischen Ausgabe der Sezession) schwirren mir vornehmlich zwei Gedanken im Kopf herum. 1. Was hätte Girard wohl zur Fronleichnams-Predigt von Kardinal Woelki im Jahr 2016 zu sagen, als ein Original-Schlepperboot eigens vor dem Kölner Dom (!) als Altar aufgebaut wurde und anschließend (als hätte das alles nicht gereicht) noch in den Dom selbst gebracht wurde? 2. Wozu dient die in letzter Zeit hier im Forum wahrnehmbare Verschärfung der Tonlage?

Gustav Grambauer

22. Februar 2017 22:30

Ein unausgesprochenes Wort zieht sich für mich durch die Diskussion und wartet darauf, ausgesprochen zu werden: Nähe.

Die Masche, Gott hintenrum durch Kindergarten-Dramatik nahe zu kommen, ist pfiffig von jenen ausgedacht, die dies nicht auf selbstverständliche, frei fließende Art können. Anders als ihr Gegenpol in der mystischen Praxis, die Minne, schafft die Gewalt sogar zweimal Nähe, erst unmittelbar und dann noch einmal beim Auskosten der Vergebung, ein Bonus-Modell für ganz Clevere! So wie es ja auch Ehen geben soll, die nur durch das Spiel von Streit und Versöhnung zusammengehalten werden, so wie manche erst in den Schützengraben müssen, um überhaupt einmal echte Freundschaft kennenzulernen (weil sie dazu im Alltag unfähig sind), bauen manche Leute ihre Beziehung zu Gott auf neurotisch-psychotischer Ambivalenz auf.

Was sagt Gott zu dieser Diskussion? Er sagt nur vier Worte: "Lebt einfach mit mir."

Damit das auch noch gesagt sei: Christus hat Weltenkräfte bewegt. Das Mysterium von Golgatha erschöpft oder auch nur fokussiert sich nicht in einer trivialen Täter-Opfer-Schablone; jene, die den Schwerpunkt dort glauben, sind, selbst wenn sie das Neue schon zu erahnen vermögen, noch gefangen in der alttestamentarischen Eschatologie oder einfach in ihrer eigenen Trivialität.

Ich erkenne an, daß manche in ihrem Leben möglichst starke Kontraste zu Nietzsches Letztmenschen setzen wollen, aber wer das auf militärische Art tut, der sollte es bitte ohne viel Theater auf Buddelkasten-Niveau tun. Vorvorige Woche ist Oberst Givi ermordet worden, vom Ukrop-Abschaum wie Russophilus sich ausdrückt. Hier die Bilder von der Beisetzung, die jedem nahe gehen, der ein Herz für die Volksrepubliken hat:

https://www.youtube.com/watch?v=C1CwBMvuTFo

Hat sich Givi jemals mit zwischen Selbstüberhöhung und Selbsterniedrigung oszillierendem Drama-Schwulst hervorgetan, hat er jemals mit der angeblichen (!) eigenen Niedrigkeit und Sünderhaftigkeit kokettiert und diese auch noch ins Mystische hinein zu übersteigern versucht, der Peinlichkeit zum Fremdschämen nicht genug noch einen Schuß sartreschen Existentialismus beimischend?! War Givis Christentum nur Verbrämung für schwarzmagische Motive ("sich durch Schneiden in lebendiges Fleisch abhärten und zugleich die Lust an dessen Schmerz kultivieren", bitte googeln)?! Ich denke, nein, obwohl auch Givi getötet hat.

"Wer gäbe insgeheim nicht zu, daß das Verletzen oder Töten eines Anderen neben dem Schrecken auch Hochstimmung verursachte?"

Bei mir nicht. Definitiv nicht. Ich bin kein Perversling und kein Fall für die geschlossene Psychiatrie. Ich verbitte mir auch verallgemeinernde Unterstellungen, bei denen jemand nur von sich auf andere schließt. Wundere mich, daß alle anderen hier das so hinnehmen.

- G. G.

Raskolnikow

23. Februar 2017 07:54

Werter Professor Grambauer,

Sie sind doch bestimmt Professor oder zumindest Lehrer, jedenfalls Intellektueller, nicht wahr? Leider gefallen Sie sich in Andeutungen und vermeiden die konkrete Ansprache, aber da Sie mich schließlich zitieren, darf ich mich wohl zumindest teilweise angesprochen fühlen? (Ich habe Ihr Fleisch-Zitat leider erfolglos gegoogelt!)

Ihre Beiträge fallen mir immer auf, wegen des intellektuellen Formats und einer stets vorhandenen, oft nur erahnten, Tiefe. Beides erschließt sich mir nicht immer, bin ich doch nur ein Gefangener meiner eigenen Trivialität. Aber ich lese Sie gern! Diesmal machen Sie sich allerdings keine Ehre. Die Eitelkeit hat Sie in Gefilde vordringen lassen, die Ihnen fremd sind; das merkt ein zum Schwulst neigender Hobbymystiker ohne Scheu vor Peinlichkeiten sofort... Unsereins ist sensibel wie die Hexen!

Warum Sie mir (oder uns) den "Drama-Schwulst" nicht gönnen, in dem Sie diesen mit einer nüchtern-intellektuellen Quieszenz einfach vorüberziehen lassen, ist eine Frage, die Sie sicher nicht beantworten müssen. Aber warum unterstellen Sie eine erschöpfende oder auf den Opfermythos fokussierende Beschäftigung mit dem Mysterium Christi? Das Thema des Artikels, zur werten Erinnerung, war gerade die Gewalt, das Opfer, daher die vollkommen berechtigte Hervorhebung dieser einen (hobby-scholastischen?) Deutungsebene!

Und nun, mit den letzten drei Absätzen, betreten Sie das Ihnen offensichtlich unbekannte Land. Wer ernsthaft glaubt, das Militärische trete vor allem in Beisetzungsparaden, Marschformationen, Orden, Uniformen und youtube-Filmen zutage, wer darob in verzücktes Herzspringen verfällt, ohne die rätselhaft-grauslige Dimension in Rechnung zu stellen, dem sei seine Walter-Flex-Romantik gegönnt, aber die Männer neben der Lafette hatten andere Gedanken und Bilder im Kopf... Es ist sicher unpassend, diese Bilder hier lebhaft werden zu lassen, sie sind offenbar nur im Erleben oder vor dem, der sie kennt, nicht peinlich. Auf Papier und Bildschirm sind sie scheinbar nur Zielscheibe für Häme. So soll es denn in Zukunft sein! Sie jedoch, lieber Grambauer, kannten weder Givi noch kennen Sie seine Somalis oder die Anderen!

Heute ist in den Volksrepubliken (und natürlich in Rußland) großer Feiertag. In ein paar Stunden sitzen Männer zusammen die andere Empfindungen haben, als die Hinterlandnationalisten und die schnittigen Redenhalter. Die nicht von Orden und Paraden beeindruckt sind, sondern von ...(ich erspar´s Ihnen!).

Glauben Sie mir, geschätzter Grambauer, sie alle die da heute abend beisammen sitzen, sind sentimentale Drama-Königinnen, die unglaublich hart, nüchtern und kühl tun können, aber Weihnachten fern von zu Haus die Tränen verbergen müssen. Und auch sonst ist keiner je dem emotionalen Buddelkasten entkommen, zwischen Machogerede vom Schlage eines Jack Donovan und feuchtäugigen Umarmungen liegen manchmal nur Augenblicke... Alles "Perverslinge", die Sie in die "geschlossene Psychiatrie" stecken würden.

Ihre letzten drei Zeilen, nun ja, die lassen viele Rückschlüsse auf Ihre Lebensumstände zu, aber wer bin ich... In der Bibel gibt es dafür einen Begriff: Pharisäertum!

Ich glaube, Grambauer, wir gehören eigentlich zusammen! Aber im jeweils unbekannten Teil des Waldes sollten wir leiser sprechen und lieber dem Kundigen zuhören...

Trinken Sie doch heute einen Schnaps auf die Verteidiger des Vaterlands und seien Sie allen Irren wohlgesonnen, bitte!

Herzlichen Gruß aus dem Buddelkasten,

R.

[Ich möchte Ihnen noch aus ganzen Herzen von einem einseitigen! Informationsbezug aus dem von Ihnen angesprochenen Blog abraten! Ohne Frage lesens- und bedenkenswert, aber m.M.n. oft mehr als fragwürdig und schlecht informiert... R.]

Monika L.

23. Februar 2017 10:19

"Wer gäbe insgeheim nicht zu, daß das Verletzen oder Töten eines Anderen neben dem Schrecken auch Hochstimmung verursachte ?" R.

@Herr Grambauer

Ich bin natürlich an dieser Stelle auch hängengeblieben, Herr Grambauer. Und wollte das intellektuell mal so nicht hinnehmen. Brauchte etwas Zeit, um meinen Intellekt auszuhebeln. Da hilft manchmal etwas War-Entertainment. An der Stelle 0.53 kam sogar bei mir etwas Hochstimmung auf:

https://m.youtube.com/watch?v=fuPX8mjeb-E

Und mehr Nähe als in der Szene danach gibt es im fleischlichen Leben kaum. Völlig unausgesprochen. 

Gustav Grambauer

23. Februar 2017 10:50

Raskolnikow

"Sie sind doch bestimmt Professor oder zumindest Lehrer, jedenfalls Intellektueller, nicht wahr?"

"Bin weder Fräulein, weder schön, kann ungeleitet nach Hause gehen." Bin ein ganz einfacher Mann mit einem ganz einfachen Beruf, völliger Autodidakt.

Keiner von den Männern neben der Lafette würde wohl ein solches auf Männlichkeit getrimmtes Poesiealbum-Mädchen-Zeugs schreiben wie Sie. "... Kühler Kopf ..." hat sogar der erzperverse polnische Graf, Sie wissen, wen ich meine, seinen Männern mit auf den Weg gegeben. Und Weihnachten als Soldat heulen, feuchtäugige Umarmungen von Männern - das ist etwas völlig anderes, das hat Ihrem Abfeiern der Barbarei in Ihrem verquasten Selbsterniedrigungs-Modus überhaupt nichts zu tun.

Hatte Ihnen schon mal indirekt geschrieben, daß Sie eine Gewaltnatur sind. Das können Sie ja sein, aber stellen Sie das bitte hier nicht als christliches Ideal hin, schmieren Sie das bitte nicht mit Ihren pseudo-christlichen Ergüssen zusammen.

"Das Christentum ist die Feier der menschlichen Gewalttätigkeit!" ... "Was ist denn die Transsubstantiation des Brotes anderes als die sublimierte Inbesitznahme des Fleisches? Das Eindringen in die Unversehrtheit des Körpers, das Hineinschlüpfen und letztlich das Verschlingen bedeuten Macht über das Fleisch. Verschmelzung als Besitz und Selbstauflösung."

Bin ja auch Querdenker, aber, sagen Sie mal, geht`s noch?!

Kann Ihnen sagen, daß ich für Operetten-Momente beim Militär keine Ader habe (es waren für mich die langweiligsten ...), übrigens auch nicht für Operetten-Katholiken, die, wenn der Herr Pastor gerade kurz wegschaut, den Selbstmord als das Ultimo preisen. Die Bilder von der Trauerfeier sollten Ihnen nur andeuten (!), wie sehr man als Soldat mit seiner ganzen Integrität als Vorbild wahrgenommen wird.

Daß wir zusammengehören, bei Ihrem Nachwort zu Donovan hatte ich daran schon zu zweifeln begonnen gehabt, hatte ich bis gestern immerhin noch gedacht. Abenteuer, Bewährung, Risiko, Wildheit, Sucht nach ergreifenden Szenen, Zusammenschweißung, Manneszucht, Mannesehre und selbstverständlich Einsatz für Ideale - alles und auch sonst alles lasse ich gelten. Aber gestern haben Sie unmißverständlich zum Ausdruck gebracht, daß Sie eigentlich aus Mordlust in den Donbas bzw. wohin auch immer in den Krieg ziehen. Selbst wenn das nur 30 % Ihrer Motivation ausmachte, da hört`s bei mir auf.

Ich erkläre Ihnen die schwarze Magie: es wird Energie zum persönlichen Vorteil aus dem Leid anderer gesaugt. Genau das, was Sie tun, was Sie in Ihre "Hochstimmung" bringt und woher sich z. B. hier ein gewisses Charisma von Ihnen speist. Aber ist die Energiequelle eines Charisma durchschaut, welches  nicht von innen her aufgebaut sondern sogar unredlich woanders abgesaugt wurde, dann fällt es in sich zusammen.

- G. G.

M.L.: Na, na, GG, brems Dich ein bissl ein. Raskolnikow immer mit einem literarischen grano salis lesen.

Monika L.

23. Februar 2017 11:43

If  you don't make up a reason to live for, you will get killed.

Battle for Sevastopol, Youtube 1.08

War is not just death. It's also life.

ebd.

Schlagzeile focus:Focus, Februar 2017 Wien: 

Neun Männer sollen deutsche Lehrerin vergewaltigt haben.( Mag jeder selbst googlen) 

Herr Grambauer, es ist ja nun leider so, dass ein "Fräulein heute nicht mehr ungeleitet nach Hause gehen kann" . Und die Momente, wo sich " meine flache Hand in eine  Faust verwandelt" ( Wiktor Zoi, Kukuschka) nehmen zu. Und diese Erfahrung wird für viele Mädchen und Frauen zunehmen. Das ist intellektuell nicht mehr wegzudiskutieren. Aus Opfern wollte eine Tussi in der taz "Erlebende" machen. Den Mist kann man auch googlen. Bin es leid, den Schwachsinn zu verlinken. Meine " Gewaltnatur" kommt auch immer mehr zum Vorschein. Gewalt aus Liebe. Grüße an die jungen Mädchen, die sich hoffentlich bald gewaltig wehren:

https://m.youtube.com/watch?v=SdWr3bWjYdM

Bran

23. Februar 2017 12:38

Ich empfinde die Auseinandersetzung zwischen G.G. und Raskolnikov gerade als stilistischen wie auch inhaltlichen Genuss. Ich muss aber gestehen, dass ich hier wohl auch eher zur "Gewaltnatur" neige. Hinter der schönen Sprache, den blühenden Metaphern und der Romantik von Raskolnikovs Texten lauert stets die unleugbare und grausame letzte Wahrheit des Lebens, die immer lauten wird, dass der Mensch im Kern ein wildes Tier ist und dass wir dereinst alle wieder zu Erde werden.

Gewalt verbirgt sich hinter jeder Beziehung, jedem Verhältnis, jeder Hierarchie und schliesslich auch hinter jeder Nahrungsaufnahme. Wir sind geboren, uns unser Leben zu erkämpfen und immer wieder zu verteidigen, wenn wir mehr wollen als nur existieren. Die Wohlgesittetheit und die hohen Ideale, die G.G. hier kunstreich (das soll kein Spott sein) verteidigt und die ihm zur Ehre gereichen, können nur in den seltensten Fällen bestehen, wenn die Feuer erstmal brennen. In der Dunkelheit des Lebens, die uns jederzeit befallen kann, zerbröckeln diese Bilder und legen offen, was wir sind und immer waren: Lebende oder Sterbende und wir können nur noch wählen, zu welchen wir uns stellen oder legen wollen, wobei unsere Wahl noch viel zu oft vom Leben selbst ignoriert werden wird.

Der_Jürgen

23. Februar 2017 13:26

@Gustav Grambauer und @Raskolnikow gehören zu den brillantesten und kenntnisreichsten Foristen, die sich hier zu Wort melden; ich möchte den einen so wenig missen wie den anderen.

Theoretisch muss ich bei diesem Disput G. G. recht geben. Raskolikow gibt sich in seiner Wortmeldung arg viele Blössen (auch wenn seine Formulierungen nur literarisch gemeint waren, riskiert er, dass man sie wortwörtlich nimmt). In der Praxis muss ich freilich @Bran sowie @Monika recht geben, die von "Gewalt aus Liebe" spricht.

Wenn Raskolnikow im Donbass sein Leben aufs Spiel setzt, dann gewiss nicht aus Mordlust oder aus Hass auf den ukrainischen Soldaten, der ihm gegenüberliegt, sei es, weil er von einem kriminellen Regime als Kanonenfutter in die Schlacht geschickt wurde, sei es, weil er sich freiwillig gemeldet hat, im ehrlichen Glauben, für seine Heimat zu kämpfen, obwohl er seine Knochen doch nur für eine Verbrecherbande hinhält, deren Häuptlinge übrigens auffallend oft gar keine ethnischen Ukrainer sind. Raskolnikow kämpft als Idealist für eine Sache, die er als gerecht ansieht.

Dass den Soldaten freudige Erregung überkommt, wenn seine Kugel einen Feind niedergestreckt hat, darüber mögen Moralapostel ja angewidert die Nase rümpfen, aber die menschliche Natur ist eben so. Den neuen Menschen zu schaffen, haben schon viele versucht. Der Erfolg ihrer Bemühungen hält sich augenscheinlich im Rahmen.

Raskolnikow

23. Februar 2017 14:19

Liebe Monika,

da haben Sie ja einen der schlimmsten Schinken des zeitgenössischen russischen Patriotenkinos ausgekramt. Da gibt es noch so eine Serie über ein Frauenbataillon, als blutige Soap Opera im Vorabend-Programm... - ich kann mir sowas nicht anschauen.

Aber warum Sie dessen bedürfen, um die Abgründigkeit der menschlichen Seele zu akzeptieren, erscheint mir unverständlich. Ist die Vorstellung, wir wären ohne Finsternis, nicht kindisch? Auch wenn man selbst vollkommen erfahrungslos und eingebildet wäre, müßte einem doch intellektuell einleuchten, woher all das Böse kommt. Was ist denn die Sünde, etwa isolierte actio peccati? Ist uns der Abgrund nicht sogar verheißen?

Man denke doch einmal die Abendmahlszene in all ihrer Ungeheuerlichkeit zu Ende! Man hört geradezu, wie sich die Ur-Spießer (man hat natürlich sofort Petrus und Thomas in Verdacht) einander zuflüstern: "Geht´s noch?" Frau Sommerfeld hat den Kreuzweg angesprochen, hier könnte man ein ganz eigenes Kapitel eröffnen.

Wenn man den ehrlichen Blick in den Spiegel nicht scheut, erkennt man doch wohl ganz genau, wie es um uns Menschlein bestellt ist. Daß item die ewig-schlauen Kleinbürger anfangen, in ihrem Käfig zu piepen ("Mordlust, Mordlust, Pervers...!") und bedrohlich mit den sündenfrei weißen Flügelchen flattern, sei geschenkt. War es je anders?

Ist die Fähigkeit zur eigenhändig vollzogenen Schreckenstat nicht jedem klar, der Kinder hat und über etwas Fantasie verfügt? "Sollte meiner Frau oder einem meiner Kinder etwas zustoßen, werde ich das nicht für einen Zufall halten, sondern auf die Suche gehen." (GK) Das ist nicht pervers oder abwegig sondern menschlich, das ist die Finsternis in jedem von uns, auch im hysterisch piepsenden Pharisäer...

Ohne den Verlust der Integritätsgaben wäre das Opfer bei Heiden und Christen völlig sinnlos! Christus nahm zwar das Tier- und Menschenopfer hinweg, aber er setzte das ultimative Opfer ein. Das ist astreine Lehre! De fide!

Bran,

der schalkhafte Prof. Max Thürkauf hat einmal gesagt, "Wenn Sie auf einer zeitgenössischen Party in Ruhe gelassen werden wollen, beginnen Sie Gespräche über Gott oder den Tod!" Da auch hier einige diesen Poesiealbumsthemen abhold sind, sei es itzund dabei belassen. Vielleicht haben wir Mädchen dieser Welt ja nur die Wahl, unser Sterben halbwegs anständig hinzubekommen...

Ahoi!

R.

Monika L.

23. Februar 2017 16:26

Lieber Raskolnikow,

Ich brauche diesen Schinken nicht, um die Abgründe der menschlichen Seele zu akzeptieren und zu verstehen. Die waren mir als Kind recht schnell klar. Auf diesen Schinken bin ich gestoßen durch einen privaten Hinweis Ihrerseits.,Stichwort: War-Entertainment. Musik gefiel mir.

Man kann auch " Gran Torino" oder " Ein Mann sieht rot" nehmen. Dann kommen die Männer und Frauen breitbeinig aus dem Kino. Das war's schon.

Wenn dann allerdings ein junger, hoffnungsvoller Mann von einem viel jüngeren Mann ins Koma getreten wird und stirbt, wie an Heiligabend in unserer Westdeutschen Stadt geschehen, dann herrscht Funkstille. 

Dann fragt man sich durch. Wie ? Warum ? Wer ? Großes Schweigen. Zur falschen Zeit am falschen Ort. Leider. Pech gehabt. Da geht niemand auf die Suche. Da ist keine Finsternis. In Niemandem. Kein Abgrund. Niegendwo.

 Manchmal beneide ich Sie um Ihre Kriegserfahrungen. Pervers oder komisch ?

Und von  Jesus brauchen Sie schon  gar nichts zu erzählen. Von seinem ultimativen Opfer. Das interessiert hier keinen.

Wissen Sie was ! Es ist schlimm, wenn man nichts tun kann. Was noch schlimmer ist. Gran Torino gibt es nur im Film. In echt wäre er nur eine armselige Lachnummer. Um auf einer zeitgenössischen Party in Ruhe gelassen zu werden, müssen Sie nicht Gott, Tod und Teufel bemühen. Es genügt, wenn Sie über begrapschte oder vergewaltigte Frauen oder totgetretene Junge Männer reden wollen, über ganz alltägliche Dinge eben....

Empört. 

Monika

deutscheridentitärer

23. Februar 2017 16:51

"Aber gestern haben Sie unmißverständlich zum Ausdruck gebracht, daß Sie eigentlich aus Mordlust in den Donbas bzw. wohin auch immer in den Krieg ziehen. Selbst wenn das nur 30 % Ihrer Motivation ausmachte, da hört`s bei mir auf."

Selbst wenn es so wäre, wo ist das Problem? Dass der Mensch nun mal Freude an Gewalt haben kann, der eine mehr, der andere weniger, ist doch wohl unbestritten? Was für eine bessere Möglichkeit gibt, als dieser Freude im Dienst an eine gute Sache nachzugehen?

" Raskolnikow kämpft als Idealist für eine Sache, die er als gerecht ansieht."

Das mag sein oder auch nicht, dass dem zwangsläufig so sein müsste halte ich aber für eine naive Annahme. Von meinen Kameraden, die in der QRF in Afghanistan gedient haben, hat das keiner getan, weil sie das für die gerechte Sache hielten (wäre ja auch ziemlich dumm). Neben denen, die ohne großes eigenes Zutun dort gelandet sind, war Abenteuerlust das bestimmende Motiv, zu der ich auch den Wunsch nach dem realen Gefecht zählen würde.

Crouchback

23. Februar 2017 17:45

@ Grambauer: 1.) Krieg, auch schon eine Schlägerei, ist Ernstfall. Damit ist's wie mit dem Kindererziehen - vorher hat man tausend Theorien, wenn's dann soweit ist, ist's dann doch ganz anders. 2.) In der Eucharistie verzehren die Christen den Leib Christi und trinken sein Blut. Die Transsubstantiationslehre ist im Girardschen Sinn der Gipfel einer zivilisatorischen Leistung - der Keim bleibt aber doch Menschenopfer und Menschenfresserei.

Dietrich Stahl

23. Februar 2017 22:16

@ Caroline Sommerfeld

Ich halte es für produktiv […], sich auf alle theoretischen Strömungen und seltsamen Einzeldenker und feindliche Monster und widerlegte Provokateure beziehen zu dürfen. Das richtig Gute am Rechtssein ist doch wohl: man darf endlich alles!

Die letzten vier Worte klingen genau wie das postmoderne, links-liberale anything goes. Selbstverständlich kann [im Unterschied zu dürfen] man alles tun. Nur alles hat eben auch Konsequenzen. Was ist einem wichtig? Will man die Antwort[en] auf diese Frage wirklich leben? Dann ist es notwendig, sich entsprechend auszurichten, seine Aufmerksamkeit auf das dafür Dienliche zu fokussieren. Diligence ist das schöne Wort, für das es keine rechte deutsche Entsprechung gibt. Ein Beispiel. Freud ist für mich ein Scharlatan und Filou mit der bekannten Agenda. Übrigens genau wie Einstein. Die Sex-Fixierung der Freudschen Lehre war der Beginn dessen, was sich über viele Entwicklungsstufen [nur zwei Stichworte: Frankfurter Schule, McKinsey] bis hin zu dem entwickelte, was heute alltäglicher Wahnsinn ist: Pervertierung der Sexualität, Frühsexualisierung, Auflösung der Familie, Genderterror etc. Freuds Arbeiten mögen interessante Aspekte und Perspektiven enthalten. Meine Aufmerksamkeit schenke ich aber lieber anderen Autoren, die mir echte Anregungen geben können, die mir weiterhelfen. Das ist mein persönlicher Ansatz.

Martin Lichtmesz

24. Februar 2017 02:09

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