Jonas Lüscher – “Kraft” – lesen!

Beinahe bin ich um die Lektüre von Jonas Lüschers Roman Kraft gekommen. Was ein großes Versäumnis gewesen wäre, ein wirklich großes!

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Jonas Lüschers lite­ra­ri­sches Debüt Früh­ling der Bar­ba­ren (Sezes­si­on 59/2014) liegt vier Jah­re zurück. Zu sagen, es hät­te uns ent­zückt, damals, als ich’s Kubit­schek vor­las auf einer unse­rer Auto­fahr­ten, wäre glatt untertrieben!

Jene Novel­le spiel­te in einer Wüs­ten­oa­se, und dort in einem luxu­riö­sen Hotel­res­sort: Lüscher erzähl­te, wie der dün­ne Fir­nis der Zivi­li­sa­ti­on zusam­men­bricht (und zwar gna­den­los), als wäh­rend einer Hoch­zeits­fei­er der schö­nen, schwer­rei­chen, super­coo­len New-Eco­no­my-Gesell­schaft plötz­lich fern vom Ort der Fete die Bör­sen­kur­se zusam­men­bre­chen, sämt­li­che Kre­dit­kar­ten gesperrt wer­den und unter den smar­ten Herr­schaf­ten jäh das Gro­ße Schlach­ten beginnt.

Lüschers Novel­le bün­del­te das ful­mi­nant und bil­der­mäch­tig: Was ist, wenn nichts mehr ist, wie es gera­de eben noch war? Und war’s nicht eine “gei­le Zeit” – wenn man denn dach­te, man hät­te sei­ne Schäf­chen im Trockenen?

Nach dem gro­ßen Erfolg von Früh­ling der Bar­ba­ren waren ein paar Inter­views mit Lüscher erschie­nen, die… Naja. Sagen wir so: Er (gebür­ti­ger Züri­cher, Wahl­münch­ner seit lan­gem, Jahr­gang 1976) wirk­te arg main­ge­streamt. Berich­te­te von Anti­fa-Demos, an denen er teil­nahm, und von sei­nem Wel­co­me-Gefühl (“Wir wären ja in der Lage, mehr Flücht­lin­ge aufzunehmen”).

Nun also Lüschers Neu­ling, Kraft, ein Roman. Ich stand gewis­ser­ma­ßen bereits am Kauf­tre­sen, als ich in der Welt einen Ver­riß des frisch­ge­druck­ten Romans las, ver­faßt von einem Autor, dem ich Ver­ständ­nis und Lite­ra­tur­ge­schmack zutraue. „Plump, kli­schee­be­la­den, miß­lun­gen” stand da – kurz: nicht des Lesens wert. Ich las­se mein Lese­ver­hal­ten zuge­ge­ben gern von Rezen­sio­nen lei­ten. Das ist kei­ne Fremd­be­stimmt­heit. Wür­de ich alles erwer­ben und lesen, was mir so Tag für Tag über den Weg läuft und titel­mä­ßig inter­es­sant erscheint: Wo blie­be Zeit für Küche, Kin­der und Kir­che? Wie­wohl ich längst kein Ama­zon-Kun­de mehr bin, hat mir selbst die Durch­sicht diver­ser „Kun­den­re­zen­sio­nen“ schon viel Lese­zeit erspart. (Gehört zum Schick­sal der Dörf­le­rin: daß sie nicht ein­fach mal in die Buch­hand­lung neben­an gehen kann, um nach drei, vier Sei­ten Schmö­ke­rei einen Ein­druck zu gewinnen.)

Ich sah also vom Buch­kauf ab – um es zu Hau­se auf mei­nem Schreib­tisch vor­zu­fin­den. Ein Geschenk mit drin­gen­der Lese­emp­feh­lung. Schick­sal, na dann!

Was für eine loh­nen­de, groß­ar­ti­ge Lek­tü­re! Also: Richard Kraft ist Rhe­to­rik­pro­fes­sor in Tübin­gen. Ein glän­zen­der Den­ker, dabei ein viri­ler Typ. Und kei­nes­falls ein strom­li­ni­en­för­mi­ger Kar­rie­rist! Bei­spiels­wei­se stand er als Stu­dent den ton­an­ge­ben­den Ideen der Lin­ken immer kri­tisch, gar spöt­tisch gegen­über, und zwar aus einer Mischung aus Klug­heit, Über­zeu­gung, Trotz, Wider­spruchs­geist und Diskt­ink­ti­ons­wil­len. Madame That­cher fand er über­zeu­gend, er war defi­ni­tiv pro-Wie­der­ver­ei­ni­gung, er war libe­ral, min­des­tens! Seit’ an Seit’ schlug er sich sich mit sei­nem Freund Ist­van Pán­c­zél, dem unga­ri­schen Dis­si­den­ten, durch das Stu­di­um bis hin zu Postdoc-Zeiten.

Sol­che welt­an­schau­li­chen Fra­gen stel­len sich inner­halb des bun­des­deut­schen Uni­ver­si­täts­ge­fil­des als schwie­rig her­aus. “Kraft und Pán­c­zél argu­men­tier­ten unter Auf­bie­tung ihrer ver­ein­ten intel­lek­tu­el­len Kräf­te für die Frei­heit und stie­ßen bei ihren Kom­mi­li­to­nen doch nur auf Unver­ständ­nis, was ganz ein­fach dar­an lag, daß sich alle schon sehr frei fühl­ten; außer Kraft und Ist­ván, die in ihrem Furor recht unfrei wirkten.”

Sei­ne Dis­ser­ta­ti­on hat­te Kraft übri­gens zur Poe­tik Ernst Jün­gers ver­faßt. Sei­ne, Krafts, dama­li­ge Gelieb­te, Johan­na, war in irres Lachen aus­ge­bro­chen, als er ihr aus den Mar­mor­klip­pen vor­las. Kraft wuß­te lan­ge nicht, war­um Johan­na damals mit ihm jäh gebro­chen hat­te und schob es auf die­se Lek­tü­re. Johan­na, das weiß Kraft, zog nach  Kali­for­ni­en. Er wird sie treffen.

Seit der Zeit mit Johan­na ist viel gesche­hen. Ist­ván lehrt mitt­ler­wei­le in Stan­ford und hat eine Toch­ter namens McKen­zie, Krafts zwei­te Ehe möch­te gern ver­nünf­tig und in Güte geschie­den wer­den, allein, wie soll das gehen: Frau­en, Kin­der und sich selbst zu ver­sor­gen? Die Ein­la­dung, die ihm Ist­ván ver­mit­telt, kommt daher gera­de recht. Es ist ein Preis­aus­schrei­ben, gestif­tet vom Inter­net­mo­gul Tobi­as Erkner. Erkner erin­nert an den rea­len Peter Thiel, den Mann hin­ter Pay­Pal und Face­book. Eine Mil­li­on Dol­lar soll der­je­ni­ge erhal­ten, der fol­gen­de Fra­ge mit­tels eines acht­zehn­mi­nü­ti­gen Vor­trags mus­ter­gül­tig zu beant­wor­ten weiß: „Why wha­te­ver is, is right, and why we still can impro­ve it?“ Sprich: Wir leben zwar in der bes­ten aller denk­ba­ren Wel­ten, aber so kön­nen wir sie immer noch verbessern…!

Im Grun­de wäre die­se Fra­ge­stel­lung kei­ne Opti­on für den längst zum Kul­tur­pes­si­mis­ten gewen­de­ten Alt­eu­ro­pä­er Kraft, der sich in stil­len und ver­zwei­fel­ten Momen­ten Stro­phen von Bau­de­lai­re oder Höl­der­lin memo­riert. Ande­rer­seits: Wer, wenn nicht er, ist in der Lage, sich rela­tiv frei aus dem Kos­mos der abend­län­di­schen Ideen­ge­schich­te zu bedie­nen, klug und bestechend zu for­mu­lie­ren, unge­ahn­te Syn­the­sen zu schaf­fen, durch Wor­te Wel­ten zu schöp­fen? Und wer, wenn nicht er, könn­te das schö­ne Geld gera­de jetzt drin­gen­der brauchen?

Kraft (gele­gent­lich beob­ach­tet von einem aukt­oria­len Meta-Erzäh­ler – “War­um tut sich Kraft so schwer?” –, ein unzeit­ge­mä­ßer und sehr hüb­scher Ein­fall von Jonas Lüscher) jeden­falls reist nach Kali­for­ni­en, um dort sei­nen Pre­mi­um­bei­trag zu ver­fas­sen und vor­zu­tra­gen. Dort drü­ben, im Sili­con Val­ley, ist er “nur mit sei­ner Ver­ach­tung allein“. Die zukunfts­trun­ke­ne Atmo­sphä­re fin­det er „sehr irri­tie­rend, ver­bie­tet es sich aber, in den Begrif­fen Abend­land und Unter­gang dar­über nachzudenken”.

Die Vor­trags­rei­se­rei der aka­de­mi­schen Upper­class ist dabei ein Phä­no­men an sich, das sich der Vor­stel­lungs­kraft des Nor­mal­bür­gers weit­ge­hend ent­zieht und das sel­ten in bel­le­tris­ti­schen Erzeug­nis­sen gewür­digt wur­de. Eine spit­ze Sati­re dazu hat­te Arthur Koest­ler in den sieb­zi­ger Jah­ren unter dem Titel Die Her­ren Call-Girls ver­öf­fent­licht. Der Roman han­delt von Aka­de­mi­kern, die – damals schon! – welt­rei­send an Kon­gres­sen teil­neh­men. Als auf einer sol­chen glo­ba­len Vor­trags­tour ein Kol­le­ge einen ande­ren fragt, ob er “die­se Tagung hier nicht für eine Schnaps­idee” hal­te, wird er zurecht­ge­wie­sen: “Die gro­ße Stun­de der aka­de­mi­schen Call­girls hat geschla­gen: Sie wer­den die Mensch­heit ret­ten… oder zumin­dest ein paar Tage frucht­bar dis­ku­tie­ren, auf alle Fäl­le dis­ku­tie­ren…” Unse­re intel­lek­tu­el­le Speer­spit­ze! Denn das steht fest: Wör­ter zähl­ten nie zur Mangelware.

Eine wei­te­re Par­al­le­le zur Lüscherschen/Kraftschen Gemenge­la­ge: Im Ach­sen­jahr 1968 hat­te das lin­ke Zen­tral­or­gan namens Kurs­buch eine ähn­li­che Preis­fra­ge wie Tobi­as Erkner gestellt: “Der bes­te Gedan­ke für die Zukunft” soll­te da prä­miert wer­den: “Gemeint ist damit kei­ne blo­ße Extra­po­lie­rung erkenn­ba­rer Trends, son­dern eine kon­kre­te uto­pi­sche Kon­zep­ti­on.” 1000 DM betrug das Preis­geld. (Iro­nie der Geschich­te: Anders als Kraft woll­te sich der dama­li­ge Preis­trä­ger nicht schei­den las­sen, son­dern such­te einen ande­ren Aus­weg aus der Ehe­tris­tesse – er ver­faß­te das poly­amo­rö­se Buch Lie­be zu viert.)

Kraft nun aber, die­ser aner­kannt bril­lan­te Den­ker, gewa­schen mit allen Was­sern der abend­län­di­schen Phi­lo­so­phie: Kraft ver­sumpft in Kali­for­ni­en. Aus­ge­rech­net hier, wo der Him­mel doch blau und die Zukunft offen ist! Hier, wo er auf opti­mis­ti­sche Leu­te vol­ler Unter­neh­mens­geist trifft, die völ­lig frei sind von all dem, was Kraft belas­tet: frei von den ver­ma­le­dei­ten kul­tu­rel­len Seman­ti­ken, von his­to­ri­schen Bezü­gen, von emo­tio­na­lem Bal­last! Zuvor rafft sich Kraft ein letz­tes Mal zusam­men. Die­sem Erkner, jenem angeb­li­chen über­zeug­ten Katho­li­ken, der jedoch an der eige­nen Unsterb­lich­keit feilt, wird er auch mit geschei­ten Wider­sprüch­lich­kei­ten kom­men kön­nen, Kraft ist ein begna­de­ter Schwaf­ler, er wird eine Art Mash-up erschaf­fen! “Frei­heit mani­fes­tiert sich in Tech­nik!” könn­te er titeln, das könn­te man “mit links begrün­den”! Post­hu­ma­ner Trans­theo­tech­nis­mus, war­um nicht; ein sol­cher Cla­im, beredt aus­ge­walzt auf 18 Minu­ten, könn­te ordent­lich was her­ma­chen! Doch hier irrt Kraft. Die däm­li­che Preis­fra­ge wird ihm zum Schicksal.

Das ist: Welt­deu­tungs­ver­such anno 2017, bun­des­deut­sche Men­ta­li­täts­ge­schich­te und lite­ra­ri­sche Kunst in einem! Was für ein groß­ar­ti­ger Roman!

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Jonas Lüscher: Kraft. Roman, Mün­chen 2017. 240 Sei­ten, 19.95 Euro.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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Kommentare (3)

Tokugawa

27. Februar 2017 18:08

... "Was für ein großartiger Roman!" Und: Was für eine großartige Kritik!!

Nemo Obligatur

27. Februar 2017 21:05

Ach menno, wieso hat Lüscher seinen Roman nicht "Kraft durch Freude" genannt! Oder "Freude durch Kraft"! Nur "Kraft" klingt wie "Faust", aber eben auch nicht so richtig. Übrigens fühlte ich angesichts der Kritik spontan an einen Roman von Kempowski erinnert, bei dem es auch um einen Vortragsreisenden in den USA geht - hält der Vorträge? Ich muss noch mal nachlesen. Der Titel war "Letzte Grüße", wie ich soeben bei einem ungeheuer großen Internetversand für Bücher recherchiert habe. Na, Kempowski ist sowieso großartig. Noch 50 Jahre, dann wird Böll schon längst vergessen sein und Lüscher tot, aber Kempowski ist dann DER Klassiker... Wie war noch gleich das Thema? Na, am Rosenmontag darf es auch mal so ein Leserkommentar sein...

Maiordomus

27. Februar 2017 21:15

Danke, wunderbar, dass Sie mich auf einen Landsmann aufmerksam machen, den ich trotz täglicher Buchlektüre noch ncht auf dem Radar hatte, bloss seine Existenz war mir bekannt. Das werde ich ändern. Zutiefst betrübt bis empört bin ich aber über das, was ich im Editorial des gedruckten Heftes Sezession, sowieso dem Besten, was Sie nebst Büchern produzieren, leider in Sachen Ihres Kinobesuchs lesen musste. Ich gehe davon aus, dass so etwas in Trumps Amerika absolut undenkbar gewesen wäre, liebe Frau Kositza.

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