Erstens aus der Perspektive jener Mehrheit, die Rußland unter Putin als ultranationalistisches “Reich des Bösen” darstellt, das bei jeder sich bietenden Gelegenheit versucht, Europa zu spalten. Und zweitens der einer verschwindend geringen Minderheit, die in Rußland das letzte Bollwerk gegen den westlichen Universalismus und quasi ein Paradies sieht, nach dem sich die ganze Welt zu orientieren habe.
Während die erstere Haltung zu Rußland überwiegend von Liberalen übernommen wird, ist die zweite Position vor allem innerhalb des patriotischen Lagers wahrzunehmen, welches sich angesichts des Mangels einer patriotischen Führung im eigenen Land verklärend nach Osten hin orientiert, ähnlich den europäischen Kommunisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sieben Tage lang nehme ich mir nun die Zeit, mir selbst ein Bild von diesem Land und seinen Menschen zu machen, wenn auch nur aus dem beschränkten Blick auf seine Hauptstadt.
Daher mache ich mich auf in den südwestlichen Außenbezirk von Moskau, um dort bei einer Freundin für eine Woche mein Quartier zu beziehen. Als Wiener staunt man zunächst über die schiere Größe dieser Stadt: Mit mehr als 11,55 Millionen Einwohnern und mehr als der sechsfachen Fläche Wiens übertrifft die russische Hauptstadt die Städte des deutschsprachigen Raumes, aber auch viele Metropolen wie Paris, London und Rom bei weitem. Aber auch darüber hinaus wird einem schnell klar, daß es sich bei Rußland um eine eigene Welt, eine einzigartige Zivilisation handelt, die von Europa zwar beeinflußt, aber kulturell doch unabhängig ist.
Es ist nicht nur der russische Winter, der einem im wahrsten Sinne des Wortes den Bart gefrieren läßt, sondern auch der russische Menschenschlag, der feststellen läßt, daß man nicht in Europa ist. Die Menschen, die vom russischen Geist, dem “russkij duch”, erfüllt sind, wirken wie Männer und Frauen, an denen die im Westen vollzogene geistige Gleichschaltung unter den Zeichen von Menschenrechten, Individualismus, Egalitarismus und Gender Mainstreaming spurlos vorüber gegangen ist. Die Mehrzahl der Kopftücher in der Hauptstadt wurde auch dementsprechend nicht von Muslimen getragen, sondern von traditionsbewußten russischen Frauen.
Während man in den Straßen Wiens und Berlins alle naselang auf Elendsgestalten wie Hipster, junge Frauen wie Männer, die sich ihres Geschlechts unsicher sind, und Rastaträger trifft, muß man sie in Moskau mit der Lupe suchen. Als historisch interessiertem Menschen springt einem sofort der Umgang der Russen mit ihrer eigenen Geschichte ins Auge: Zarenreich, Kommunismus, das Chaos unter Jelzin und die gegenwärtige Herrschaft Putins – all diese Zeitabschnitte versucht man harmonisch ins öffentliche Bild einzufügen. So ließ Putin die 1931 von den Kommunisten gesprengte Christus-Erlöser-Kathedrale nach den originalen Bauplänen wieder aufbauen. Gleichzeitig wurde die Statue des kommunistischen Massenmörders Felix Dscherschinski vom Platz vor der Lubjanka entfernt.
Die Verehrung der Zaren und der Weißen aus dem Russischen Bürgerkrieg hingegen erlebt einen neuen Höhepunkt: Die von den Kommunisten ermordeten Romanows werden als Heilige verehrt, den monarchistischen Helden des Bürgerkrieges werden Spielfilme und Fernsehserien gewidmet. Im Gegensatz zu Österreich und Deutschland ist die Geschichte im positiven Sinne gegenwärtig und wird nicht für eine Politik der Schuld instrumentalisiert. Dementsprechend groß sind auch die sowjetischen Heldendenkmäler in der Stadt vertreten, welche die Helden des “Großen Vaterländischen Krieges” hochleben lassen.
Für westliche Augen ungewöhnlich mag auch die starke Verschränkung, man kann sogar sagen: Identität, von Kirche und Staat sein. So segnet die Orthodoxe Kirche nicht nur die Waffen der Soldaten, sondern organisiert auch gemeinsam mit der Armee Wehrertüchtigungslager. Während Wehrhaftigkeit und Christentum in Europa ein Widerspruch sind, kann man sie in Rußland nicht voneinander trennen. Aber nicht nur die Wehrhaftigkeit ihrer Gläubigen ist der Orthodoxen Kirche ein Anliegen, sondern auch die moralische Erneuerung der Gesellschaft. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und der russischen Wirtschaft Ende der 80er sowie dem liberalistischen Chaos unter Boris Jelzin Anfang der 90er Jahre bestand in Rußland ein großes geistiges Vakuum. In dieses Chaos stießen nicht nur der “Tiefe Staat” Rußlands vor, aus dem Putin selbst stammt, sondern auch die Orthodoxe Kirche selbst. Geht man heute durch die Straßen Moskaus, sieht man alle naselang neu entstehende orthodoxe Kirchenbauten – Rußland erlebt heute eine wohl einzigartige Re-Christianisierung. Auch die Kirchen am Stadtrand sind am Sonntag voll – voller junger Menschen.
Einer der Vertreter der religiösen Erneuerung im Land ist Alexander Schargunow. Der heute mehr als 70 Jahre alte Priester ist durch seine Auftritte in Rundfunk und Fernsehen, aber auch als Autor zahlreicher christlich-traditionalistischer Bücher wie Kultur und Antikultur von 2014 im ganzen Land bekannt und wird von den Gläubigen dort verehrt. Als es im Sommer 2012 zum Prozeß gegen die kulturliberalistische Punkgruppe “Pussy Riot” kam, bezog Schurganow in einer Radiosendung klar gegen den westlichen Liberalismus und die Moderne Stellung:
Extremismus und Satanismus ist unser gemeinsamer Feind und eine Bedrohung für die gesamte Zivilisation. Der Horror des Zweiten Weltkriegs und die hundert Millionen Toten, die autoritäre Regime hervorbrachten, inklusive des Holocaust, werden wie ein Kinderspiel erscheinen neben dem, was uns bevorsteht, wenn wir uns nicht gemeinsam gegen das Böse stemmen.
Schließlich spielen der auch in Europa bekannte russische Philosoph Alexander Dugin und die Denkrichtung des Neoeurasismus eine große Rolle im neuen Rußland. Während meines Besuchs bei ihm in den Räumlichkeiten der traditionalistischen Denkfabrik Katehon in Moskau hat er im Gespräch eine tiefe Besorgnis über die geistige Leere in den rechtspopulistischen Parteien Europas geäußert. In seiner Vierten Politischen Theorie, welche in der Tradition der Neuen Rechten steht, tritt Dugin dieser Leere entgegen und fordert eine endgültige Überwindung der Moderne und den Aufbau einer multipolaren Weltordnung, in welcher Rußland als Teil der “Eurasischen Zivilisation” ein vom Westen und damit dem Einfluß der USA freier, souveräner Block sein soll.
Seine geopolitischen Schriften lesen sich wie eine Handlungsanleitung für die russische Außenpolitik der vergangene Jahre. Die Eurasische Wirtschaftsunion ist 2015 eine Realität geworden, der Rubel steht heute wieder fast beim gleichen Wert wie vor Beginn der Sanktionen 2014. Im Gegensatz zum Westen beschäftigt die Menschen die Frage nach der Einwanderung kaum. Die russifizierten Einwanderer aus Zentralasien werden in den patriotischen Kreisen nicht als Bedrohung wahrgenommen; wo sie zum Problem werden, schiebt sie der Russische Staat ab. So kam es alleine 2016 zur Abschiebung von zwei Millionen Gastarbeitern.
Dennoch ist Rußland kein Paradies: Die nicht zu verleugnenden Probleme des Landes sind in den Bereichen der Wirtschaft, Korruption, Bildung und der außenpolitischen Lage zu finden. Doch welche Lehren ziehe ich aus diesen Eindrücken? Meine These: Rußland ist ein Staat, dessen innenpolitische Lage definitiv besser ist als die Europas, und sollte daher vom patriotischen Lager in Deutschland und Österreich nicht nur beobachtet, sondern auch besucht werden. Beim Aufbau einer patriotischen Hegemonie kann man sich einiges von diesem Land abschauen, welches im Westen zu unrecht als “Reich des Bösen” tituliert wird.
Gotlandfahrer
Also doch quasi Paradies.
Man könnte auch sagen, der russische Hang zur Improvisation verhindert die heute im Westen in ihrer Endstufe erreichte systematische Dekonstruktion axiomatischer Traditionen. Selbst Stalin konnte sich nach ersten Jahrzehnten der Enttraditionalisierung auf die unermessliche Leidensfähigkeit und Leidenschaft für's Mütterchen verlassen. Der Preis für diese verlässliche Lebensbasis könnte in der dem sonstigen Chaos innewohnende Lebensfeindlichkeit liegen, soweit man Leben als das Streben nach Entlastung versteht.
Also ein bißchen Saufen, Gröhlen, Morden, Bestechen und hinterher in die Kirche gehen könnte das stabilere Gesellschaftsmodell auf niedrigerem Wohlstandsniveau sein. Es gibt einen Punkt gesellschaftlicher Instabilität, an dem ich mir das durchaus als Alternative vorstellen könnte, der erste Teil zumindest fiele mir leicht, wenns sein müsste.