Die Existenzbedingungen der nomadischen Vorfahren werden nur noch reflektiert, sind aber nicht mehr gegenwärtig: „Mein Vater war ein umherirrender Aramäer, dem Umkommen nahe, und zog hinab nach Ägypten und war dort ein Fremdling mit wenig Leuten”; das sind Worte, die sich auf Abraham und überhaupt die Erzväter beziehen, die nach dem Zeugnis der Bibel mehr als einmal in das fruchtbare Nilland wanderten, wenn Wasser und Nahrung knapp wurden. Das Wort Hebräer ist zuerst in Gestalt des akkadischen chabiru und Äquivalenten in anderen Sprachen verbürgt, das eben Allochthone und Nomaden – nicht eigentlich ein Volk – bezeichnet, die zwischen der Wüste und den abgeernteten Feldern der Gartenlandschaften wechselten, von den Grenzposten argwöhnisch beobachtet, wenngleich geduldet, um ihre Angriffslust nicht zu reizen.
Ein „Fremdling” zu sein unter den Völkern, ein Entwurzelter unter den Verwurzelten, ist zu einem der wichtigsten Topoi in der Deutung wie der Selbstdeutung des Judentums geworden. Ob man die Israeliten deshalb zu den „Bewegungsvölkern” (Egon von Eickstedt) rechnen darf, bleibt aber fraglich. Denn unverkennbar ist doch, daß die Sehnsucht Israels eine andere war als die Ahasver-Existenz. In dem erwähnten Abschnitt Deuteronomium 26 geht es vor allem um den Kontrast zwischen der bedrohten, ja elenden Existenz der Umherziehenden und der Möglichkeit, sich fest anzusiedeln. Die wird zuerst in Ägypten geboten.
Folgt man der alttestamentlichen Überlieferung, dann ließ Josef, Urenkel Abrahams und Wesir des Pharao, seinen Clan aus den von Hungersnöten geplagten Gebieten Kanaans nach Ägypten kommen. Erst diese Ansiedlung hat ermöglicht, was der zitierte Text knapp zum Ausdruck bringt mit dem: „und wurde dort ein großes, starkes und zahlreiches Volk”.
Läßt man für den Moment die Zweifel beiseite, die die historische Forschung gegen die Ethnogenese Israels in Ägypten vorbringt, dann liegt hier modellhaft vor, was Wilhelm Mühlmann als Volkwerdung im Asyl oder unter dem Schutz eines asylbietenden Patrons bezeichnet hat. Den Hebräern bot das Leben an den „Fleischtöpfen” Ägyptens nicht nur eine Möglichkeit physisch zu überleben, sie bildeten unter diesen Bedingungen auch erst die Vorstellung aus, ein größeres soziales Ganzes zu sein. Es bedarf dazu oft nur einer kleinen Gruppe, die in der Lage ist, das Volksbewußtsein zu verbreiten.
Solche „Traditionskompanien” (Erich Bräunlich) sammeln die entscheidenden Identitätselemente und schaffen ein stabiles Elitegefühl, das vor allem dazu hilft, sich gegenüber der größeren asylgewährenden Einheit zu behaupten und nachhaltig abzugrenzen. Wie das im Fall Israels vor sich gegangen sein soll, läßt die Bibel im Dunkel. Es gehört zu den selten gestellten Fragen, was in den ägyptischen Jahrhunderten das Zusammengehörigkeitsgefühl verbürgte, denn wenn es der Glaube an Jahwe war – was wahrscheinlich ist -, dann bleibt die Frage, wieso der sich Mose erst so nachdrücklich als Gott seiner Väter vorstellen mußte, um Gehör zu finden.
Umgekehrt erscheint rätselhaft, warum ein assimilierter Hebräer, der auch noch einen ägyptischen Namen trug und qua Adoption zur Adelsschicht zählte, ein Bewußtsein davon haben konnte, daß er eigentlich zu den unterdrückten Fremden gehörte. Alle Antworten, die man hier findet, sind letztlich spekulativ, eine handfeste Angelegenheit ist dagegen die nüchterne Feststellung am Beginn des Buches Exodus: „Als nun Josef gestorben war und alle seine Brüder und alle, die zu der Zeit gelebt hatten, wuchsen die Nachkommen Israels und zeugten Kinder und mehrten sich und wurden überaus stark, so daß von ihnen das Land voll ward. Da kam ein neuer König auf in Ägypten, der wußte nichts von Josef und sprach zu seinem Volk: Siehe, das Volk ist mehr und stärker als wir. Wohlan, wir wollen sie mit List niederhalten, daß sie nicht noch mehr werden. Denn wenn ein Krieg ausbräche, könnten sie sich auch zu unsern Feinden schlagen und gegen uns kämpfen und aus dem Lande ausziehen.”
Was hier zusammenkommt, ist gleich in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich:
1. Aus irgendeinem Grund blieben die Israeliten trotz des langen Aufenthalts unter den Ägyptern integrationsunwillig; 2. die Ägypter ihrerseits vergaßen die Fremdheit der Fremden nicht; 3. die erschien in dem Maß gefährlicher, in dem die Geburtenrate der Zuwanderer die der Einheimischen überstieg und wurde 4. noch potenziert durch die Sorge vor der Bildung ethnischer Brückenköpfe, die im Ernstfall mit einem äußeren Feind paktieren konnten.
Wie auch immer es mit der Historizität dieser Überlieferung aussehen mag, sie hat eine gewisse Logik für sich. Schon früh wurde die Ansicht vorgetragen, daß man es mit einem Reflex auf die Hyksos-Katastrophe Ägyptens zu tun haben könnte.
Das ägyptische heqa chasut bedeutet soviel wie „Herrscher fremder Länder”. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich bei den Hyksos um ein semitisches Volk, das während der Zweiten Zwischenzeit (um 1648 vor Christus) Ägypten eroberte. Die Hyksos verfügten schon über Pferd, Streitwagen und Bogen als neue Kriegswaffen. Ihre Herkunft ist umstritten, als wahrscheinlich erscheint aber, daß sie aus Kanaan und den syrischen Küstengebieten gekommen waren. Sie besaßen wohl jene politische Überlegenheit der Wandernden, von der die ältere Völkerkunde ausging: bedingt durch rabiate Siebung in Folge der harten Lebensbedingungen, die straffe Zusammenfassung der nomadischen Sippen und die Einübung des Beherrschens größerer Menschenverbände an den Herden. Vergleichbare Phänomene lassen sich an den siegreichen Zügen von Indogermanen oder Arabern ablesen.
Um 1540 vor Christus wurden die Hyksos nach mehr als einem Jahrhundert der Fremdherrschaft durch Pharao Ahmose vertrieben. Was wir über sie wissen, geht in erster Linie auf den jüdischen Historiker Flavius Josephus zurück, der in seiner Schrift Gegen Apion behauptete, den Bericht des ägyptischen Geschichtsschreibers Manetho aus dem 3. Jahrhundert vor Christus wiederzugeben. Schon Manethos Bericht brachte die Hyksos mit den Stämmen Israels in Verbindung. Manetho soll auch überliefert haben, daß die Hyksos anfangs friedlich in Ägypten einsickerten und sich erst dann als Feinde entpuppten. Schließlich habe eine ägyptische Armee die Hyksos bei ihrer Hauptstadt Avaris besiegt. Merkwürdigerweise sei den Hyksos nach der Niederlage gestattet worden, Ägypten samt ihrer Habe zu verlassen. Daraufhin seien sie nach Judäa gezogen und hätten Jerusalem erbaut.
Die teilweise Analogie zu dem, was die Bibel über das Schicksal der Israeliten berichtet, ist offensichtlich. Die Furcht des Pharao vor einem möglichen Bündnis zwischen den Israeliten und einem feindlichen Volk aus dem angrenzenden asiatischen Raum erhält so eine gewisse Plausibilität. Jedenfalls müssen die brutalen und letztlich auf „ethnische Säuberung” zielenden Maßnahmen der Ägypter gegen die Hebräer durch eine Sorge motiviert gewesen sein, die über das hinausging, was schon die Assimilationsverweigerung an Affekten heraufbeschwor. Zwangsarbeit und dann die Tötung der israelitischen Knaben hätten jedenfalls in letzter Konsequenz dazu geführt, den gerade entstandenen ethnos der Hebräer vollständig auszulöschen.
Daß die Vernichtungsabsichten der Ägypter scheiterten, mußte jedenfalls das Selbst- und Sendungsbewußtsein Israels außerordentlich stärken. In dem genannten Bekenntnis Deuteronomium 26 heißt es ausdrücklich: „Aber die Ägypter behandelten uns schlecht und bedrückten uns und legten uns einen harten Dienst auf. Da schrieen wir zu dem Herrn, dem Gott unsrer Väter. Und der Herr erhörte unser Schreien und sah unser Elend, unsere Angst und Not und führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand und ausgerecktem Arm und mit großem Schrecken, durch Zeichen und Wunder.”
Dieser Befreiungsakt steht hier so im Vordergrund, daß vom Bundesschluß am Sinai gar nicht gesprochen wird, obwohl die biblische Tradition sonst in diesem Akt die eigentliche Geburtsstunde Israels sieht. Wenn die Erwähnung fehlt, dann sehen einige Wissenschaftler darin auch einen Hinweis auf die insgesamt sagenhafte Struktur der Geschichtsüberlieferung des Alten Testaments.
Seit dem 19. Jahrhundert ist der Verdacht geäußert worden, daß der Auszug bestenfalls von einer Teilgruppe der späteren Stämme vollzogen wurde und den Erzvätererzählungen nur der Wirklichkeitsgehalt von Ilias und Odyssee zukomme. Interessanter als die Frage nach der Faktenbasis ist aber die, warum eine derartige Vorstellung solchen Rang gewinnen konnte. Erich Voegelin äußerte die Annahme, daß in den bedrohten Anfängen politischer Gemeinschaftsbildung eine „Panik der Verlassenheit” ins Spiel komme, bedingt von „Erlebnissen der Vereinzelung, der Verlorenheit, der Verödung”, er sprach sogar von einer „Herabminderung des kosmisch-vitalen Zusammenhangs”, die zu einer heftigen Beschwörung der Einheit führe, in der sich der einzelne geschützt und aufgehoben fühle.
Dieses Bedürfnis nach Stabilisierung und Stabilität hat auch das Bild von der Wüste und der nomadischen Existenz gefärbt. Gerade in der späteren Phase, als die Jahwe-allein-Bewegung der Propheten an Einfluß gewann, verknüpfte sich mit der Wanderung und der Unwirtlichkeit die Idee einer Ursprungssituation, als Gott mit seinem Volk in Harmonie lebte und noch nicht die Vegetation, der Wechsel der Jahreszeiten und vor allem die Versuchungen der bäuerlichen „Protobourgeoisie” (Ernest Gellner) die Reinheit des Anfangs verdorben hatten.
Daß die neue Seßhaftigkeit so problematisch erscheinen konnte, hing auch damit zusammen, daß Israel in Kanaan keineswegs allein war und die Landnahme in einer Mischung aus Infiltration und Invasion vonstatten ging. Auch die Schilderung einer ausgesprochen brutalen Eroberung, Unterwerfung und Ausmerzung der Einwohner wird heute bezweifelt; ein eher friedlicher Prozeß spräche immerhin für die Unwiderstehlichkeit von Einwanderungen, wenn die „Zuflußintensität” (Alexander und Eugen Kulischer) ein gewisses Maß überschreitet.
Unbezweifelt ist jedenfalls, daß die Israeliten schon vor der politischen Zusammenfassung eine deutlicher abgetrennte Einheit bildeten, die sich nicht zuletzt über rituelle Tabus – entscheidend war offenbar das Verbot, Schweinefleisch zu verzehren – definierte.
Als Hauptgegner traten in der Übergangszeit, dem 11. vorchristlichen Jahrhundert, die Philister auf. Wahrscheinlich gehörten sie ursprünglich zur Seevölkerkoalition und siedelten sich nach deren Niederlage vor dem Nildelta an der Küste Kanaans an. Ihre Lebensweise unterschied sich von der der Israeliten deutlich.
Sie bildeten wahrscheinlich nur eine sehr dünne Oberschicht, die sich gewaltsam in den Besitz kanaanäischer Stadtstaaten gebracht hatte. An der Spitze dieser poleis standen Könige, die von einer Adelsversammlung beraten wurden. Ihre Technologie war der der Israeliten deutlich überlegen. Das betraf neben Architektur und Schiffsbau vor allem die Bewaffnung: „Dies sind die Völker, die der Herr übrigließ – damit er durch sie Israel prüfte … und die Geschlechter Israels Krieg führen lehrte, die früher nichts davon wußten …” (Richter 3.1).
Bezeichnenderweise zwangen die Philister die Israeliten, nachdem sie deren ersten König Saul vernichtend geschlagen hatten, alle Schmieden zu zerstören und eiserne Gegenstände nur bei ihnen zu kaufen. Nach einem der anfangs seltenen Siege über die Philister, „lähmten” (Josua 11.9) die Israeliten deren erbeutete Pferde, indem sie ihnen die Sehnen durchschnitten, und verbrannten deren Streitwagen, da sie nichts mit ihnen anfangen konnten.
In praktisch jeder Hinsicht standen sich Israeliten und Philister wie Entwicklungsvolk und Entwicklungshelfer gegenüber, das aber in einem eng umgrenzten Raum, der kaum die Größe Hessens erreichte.
Im allgemeinen integriert und beherrscht in solcher Situation der kulturell Fortgeschrittene den kulturell Rückständigen. Das ist jedoch kein zwangsläufiger Prozeß, weil die „Wanderwucht” (Ilse Schwidetzky) in dem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielt: Wie massiv ist der Zustrom der Neuankömmlinge, wie groß ihr Durchsetzungswille? Das kann durchaus dazu führen, daß Herrschaft und Unterwerfung zwischen Zivilisierten und Barbaren wechselt, erstere den letzteren unfreiwillig als Lehrmeister dienen und jeder Sieg mit Verlusten bezahlt wird, die schließlich nur noch durch Rückgriff auf das Potential des Feindes ausgeglichen werden können. Ganz entsprechend haben anfangs Römer über Germanen gestanden, dann aber Germanen über Römern, Araber unterwarfen Spanier, dann Spanier Araber, Mongolen herrschten über Slawen, später Slawen über Mongolen.
An Assimilation war von seiten der Hebräer jedenfalls nicht zu denken. Die „Unbeschnittenen” erschienen ihnen noch verhaßter als die anderen semitischen Völker in Kanaan. Es wirft insofern ein bezeichnendes Licht auf die Person Davids, der leuchtenden Gestalt aus Israels Frühe, daß er diese kulturelle und Volksgrenze aus taktischen Erwägungen übertrat, indem er sich als Vasall dem Philisterfürsten Achis von Gad zur Verfügung stellte, von den Feinden seines Volkes das überlegene Know how kopierte, um es in günstiger Lage zur Machtübernahme in Israel zu nutzen, dann die alten Verpflichtungen an seinen Lehnsherrn abstreifte und den Erbfeind angriff und besiegte.
Das von David als König regierte Reich entsprach in vieler Hinsicht dem orientalischen Normalfall politischer Ordnung. Jedenfalls handelte es sich auch hier um einen Vielvölkerstaat, in dem die Israeliten lediglich das Reichsvolk bildeten, dessen Bevorzugung nicht oder nicht immer unumstritten war. Aus der Geschichte von Davids Ehebruch mit Bathseba ist schon die Gestalt von deren Ehemann, dem Hethiter Uria, geläufig, der als „Feldhauptmann” diente.
Weniger bekannt ist die Bedeutung der Garde Davids, die er aus „Kreti und Plethi”, das heißt kretischen und philistäischen Söldnern, rekrutierte. Mit diesen „Männern Davids” hatte er Jerusalem erobert und zu seinem persönlichen Besitz gemacht. Sie mußten ihm gegenüber unbedingt loyal sein, weil sie in keinem Fall auf Rückhalt in der israelitischen Bevölkerung rechnen konnten. David nutzte insofern die ethnische Heterogenität seiner Untertanen auch zum Zweck der Herrschaftssicherung. Ein probates Mittel aller Despoten, die mit diesem Vorgehen ein höheres Maß an Distanz, auch und gerade zu ihrem Herkunftsvolk sichern. Vergleichbares kennt man im Hinblick auf die staufische Herrschaft in Sizilien, die sich der Sarazenen, und der osmanischen Herrschaft in Kleinasien, die sich der christlichen Armenier bediente.
Allerdings entspricht das so gezeichnete Bild kaum dem, das die Bibel in späterer Zeit von David als dem Idealkönig entwarf. Seine Herrschaft erscheint als Zeit der Blüte und sogar der vorbildlichen Frömmigkeit. Dagegen verfällt nach alttestamentlicher Auffassung schon unter seinem Sohn Salomo die Größe des Reiches ebenso wie dessen innere Einheit. Salomo schloß diplomatische Ehen und tolerierte im Hofstaat seiner Frauen auch die Ausübung fremder Kulte. Diese Duldungsbereitschaft erscheint in der Sicht der alttestamentlichen Geschichtsschreibung vor allem deshalb problematisch, weil hier ein Muster vorgegeben wurde, das die Nachfolger Salomos kopierten.
Nach dem Zerbrechen Israels in das Nordreich Israel und das Südreich Juda gehörte es jedenfalls zu den Standardvorwürfen, daß ein König wegen seiner fremden Gattinnen vom Glauben an Jahwe abfiel. Auch derartige Prozesse sind typisch im Zusammenleben verschiedener Ethnien. Selbst bei strengen Heiratsverboten, wie es sie nach Eroberungen bei siegreichen Völkern gab, hat das männliche Sexualverhalten regelmäßig zu deren allmählicher Aushöhlung oder Unterwanderung geführt.
Wenn man die von der Bibel angebotene, rigide Deutung des Geschehens zurückstellt, ergibt sich allerdings der Eindruck, daß mit der wachsenden „Zivilisierung” Israels eine religiöse Anlehnung an Modelle einherging, die das kulturell erfolgreiche – heidnische – Ausland vertrat. Einen durchschlagenden Erfolg konnte die auf strikten Monotheismus gerichtete religiöse Bewegung der Propheten im 8. und 7. Jahrhundert vor Christus jedenfalls nicht erreichen. Dabei spielte eine Rolle, daß die Reste der anderen Bevölkerungen in Israel niemals ganz eingeschmolzen werden konnten, wichtiger war aber die Faszination des Exotischen, das angesichts seines Verbreitungsgrades auch als das Normale und insofern Normative wahrgenommen werden konnte. Daß der Polytheismus trotzdem keine Möglichkeit zur Durchsetzung erhielt, hing ausgerechnet mit der politischen Katastrophe Israels zusammen.
Sein Gebiet befand sich geopolitisch in einer Zangenlage, zwischen dem mesopotamischen auf der einen und dem ägyptischen Großraum auf der anderen Seite. Rein innerweltlich betrachtet, konnte der Aufstieg des Davidreiches nur in einer Ausnahmesituation glücken, in der der Druck der Backen dieser Zange nachgelassen hatte. Sobald dieser wieder zunahm, wurde zuerst jede Expansion unmöglich und schließlich der Rest an Souveränität vernichtet. 722 vor Christus fiel der Nordstaat, 586 vor Christus der Südstaat einer Invasion zum Opfer.
Das Schicksal der Israeliten entsprach dem, was in der Antike zu erwarten war: Tötung der Anführer, Dezimierung und Versklavung der Masse. Allerdings besaßen die in Frage stehenden Imperien, das assyrische und das neubabylonische, schon erhebliche Erfahrung in der Niederhaltung und Organisation sehr großer Vielvölkerreiche. Zu den bevorzugten Mitteln ihrer Herrschaftssicherung gehörte die Deportation von Oberschichten, die man in möglichst weit entfernten Regionen des Imperiums ansiedelte. Die Kalkulation dabei war, daß die sozial enthauptete Restbevölkerung kaum zur Rebellion in der Lage sein würde und daß sich die Verschleppten über kurz oder lang mit den Autochthonen ihrer neuen Heimat vermischen würden. Diese Methode wurde in Großreichen regelmäßig angewendet, von dem chinesischen Kaiser Schuang-Hsi, der ganze Städte und Provinzen zwangsweise in neueroberte Territorien umsiedelte, bis zum Befehl Karls des Großen, renitente Sachsen nach Franken zu deportieren.
Für gewöhnlich dürfte die dahinterstehende Kalkulation aufgegangen sein. Nicht so im Fall der Israeliten. Berühmt ist der Brief des Propheten Jeremia an die „Weggeführten”, in dem er ihnen mit knappen Worten erklärt, was einzig das Überleben eines Volkes in so gefährdeter Lage sichern kann: „Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und eßt ihre Früchte; nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen, und gebt eure Töchter Männern, daß sie Söhne und Töchter gebären; mehret euch dort, daß ihr nicht weniger werdet.” (Jeremia 29.5–6)
Ausgerechnet die „Babylonische Gefangenschaft” führte zu einem bemerkenswerten theologischen Klärungsprozeß, an dessen Ende auch eine Neufassung des politischen Selbstverständnisses stand. War die Identität bis dahin wesentlich an das Vorhandensein eines Staates im „gelobten Land” gebunden, so entwickelte sich jetzt die Idee einer über Abkunft und religiöse Tradition bestimmten Zugehörigkeit. Beim Eintreffen der Exilierten unter Führung von Esra und Nehemia ging man sofort daran, den zerstörten Tempel wieder aufzubauen, um die Opfer vorschriftsmäßig vollziehen zu können.
Diese Möglichkeit eines Neuanfangs war nur wegen der zwischenzeitlich veränderten weltpolitischen Lage denkbar geworden. Die Perser, die Gott nach biblischer Auffassung von den Enden der Erde „herbeigepfiffen” (Jesaja 7.18) hatte, zerstörten das neubabylonische Reich und übernahmen dessen Bestand. Sie sicherten sich die Loyalität der Vertriebenen, indem sie deren Rückkehr erlaubten, die Anführer zu persischen Beamten ernannten und auf diese Weise für eine stabile Ordnung im gefährdeten Durchgangsgebiet nach Ägypten sorgten.
Interessanterweise duldeten die Perser hier wie auch in anderen Teilen ihres Imperiums eine weitgehende Selbstverwaltung der Unterworfenen, die sie vor allem durch die kollaborierenden einheimischen Eliten zu beherrschen suchten. Wahrscheinlich ist ein derartiges Konzept von indirect rule das erfolgversprechendste in multikulturellen Systemen. Es kann allerdings gerade nicht verhindern, daß die kleineren Einheiten eine besonders scharf abgegrenzte Identität ausbilden, die dann wieder sprengend auf das größere Ganze wirkt.
Im Fall der Israeliten war jedenfalls zu beobachten, daß die Rückkehrer in der Heimat ein Maß an Homogenität durchzusetzen suchten, für das sie sich zwar auf die Vergangenheit beriefen, für das es aber in dieser Vergangenheit gar kein Beispiel gegeben hatte. Bekannt sind die Zwangsscheidungen von heidnischen Ehegatten, die Esra und Nehemia durchführten, sowie die Ausstoßung der im Norden ansässigen Bevölkerung, der später so genannten Samariter, die zwar am traditionellen Kult festgehalten hatten, sich aber so stark mit fremden Zuwanderern vermischten, daß sie als nichtzugehörig betrachtet wurden.
Erst in dieser Phase der Entwicklung, im 5. Jahrhundert vor Christus, erreichte Israel oder wie man jetzt sagen sollte: das Judentum, jenen Grad an politisch-religiöser Vereinheitlichung, der Hans Kohn dazu veranlaßt hat, von den Juden als der ersten „Nation” im genauen Sinn des Wortes zu sprechen.
Die strikte Abschließung nach außen gehörte gerade wegen des Fehlens staatlicher Unabhängigkeit zu den wesentlichen Bedingungen für deren Dauer. Jede Bereitschaft zur Öffnung – wie sie gerade in der Oberschicht regelmäßig vorkam – wurde als Bedrohung der kollektiven Existenz betrachtet.
Die Achtung dieses Lebensgesetzes hat zur Dauer des Judentums ungleich stärker beigetragen als die kurzen Phasen der Geschichte, in denen es ein gewisses Maß an politischer Selbständigkeit zurückgewinnen konnte. Allerdings war der jüdische ein Sonderweg. Andere Völker konnten und wollten ihn nicht gehen. Das hat in der Antike auch dazu geführt, daß sich eine spezifische Judenfeindlichkeit ausbildete, die gerade an der Exklusivität des „auserwählten Volkes” Anstoß nahm und eine Multikulturalität als Normalfall postulierte, die im Hellenismus wie im römischen Reich als weithin gültiges Modell betrachtet werden konnte.
Aber diese Entwicklung bezieht sich schon auf die nachbiblische Zeit, die nicht mehr Gegenstand dieser Betrachtung sein soll. Die hatte vielmehr zu fragen, welche Lehren die alttestamentliche Überlieferung im Hinblick auf die Entstehung von multikulturellen Systemen, ihre Lebensgesetze und denkbare Alternativen bereithält:
1. Die Hauptursache für die Entstehung multikultureller Systeme sind Wanderungen. Diese folgen nicht bestimmten Himmelsrichtungen, sondern können in „saugende” und „stoßende” (Alexander und Eugen Kulischer) unterschieden werden; das heißt, entweder dringen Fremde in ein bestimmtes Gebiet ein, weil dieses ein Vakuum aufweist, das gefüllt werden kann wie im Fall Ägyptens bei Einwanderung der frühen Hebräer, oder sie kommen zustande, weil bestimmte Ethnien aktiv verdrängt werden wie im Fall des Exodus und der Invasion in Kanaan.
2. Für multikulturelle Systeme ist ein zivilisatorisches Gefälle typisch; die Autochthonen müssen nicht überlegen sein, auch wenn das die Regel ist. Eine langfristige Prognose erlaubt ein solches Gefälle selten; in vielen Fällen lernen die Barbaren aus ihren Niederlagen mehr als die Zivilisierten aus ihren Siegen. So auch die Israeliten, die die Philister in vielem technisch kopierten und so die Voraussetzungen für ihre zukünftige Herrschaft und das Verschwinden ihres Erbfeinds schufen, der ethnisch absorbiert wurde.
3. Multikulturelle Systeme bieten eine spezifische Möglichkeit für Herrschaftsausübung dadurch, daß die Mächtigen verschiedene ethnische oder religiöse Gruppen gegeneinander ausspielen können. So verfuhr David im Hinblick auf Kreti und Plethi, so verfuhren aber auch die Perser im Hinblick auf die rückkehrwilligen Juden unter Esra und Nehemia.
4. Das bedeutet weiter, daß multikulturelle Systeme am besten despotisch zu beherrschen sind. Selbst wenn relativ kompakte Reichsvölker zur Verfügung stehen, ist nicht zu verhindern, daß die Pluralisierung zunimmt und die zentrifugalen Tendenzen verstärkt. Das hat nicht unwesentlich zum Kollaps der antiken Imperien beigetragen.
5. Das Gegenmodell zu multikulturellen Systemen sind „Nationen”, das heißt solche Einheiten, die durch eine bestimmte Identitätsauffassung auf Separation und starken inneren Zusammenhalt setzen. Sie müssen, wenn sie ihre Existenzbedingungen nicht selbst unterlaufen wollen, am Prinzip der Verdichtung festhalten und Expansion vermeiden, was allerdings ihre Chance auf Behauptung gegenüber imperialen Gebilden schwächen kann.
6. Das bedeutet schließlich auch, daß die Existenz von Nationen ein Ausnahmefall in der Geschichte ist; multikulturelle Systeme sind die Regel.