Vielleicht ist es auch ein tiefsitzender Unwille, diese zur Kenntnis zu nehmen. Das Gespräch bietet eine Ansammlung von Motiven, die in den Medien längst zu Topoi avanciert sind und von denen mittlerweile jedes einzelne widerlegt ist. Wer das im einzelnen nachvollziehen möchte, sollte sich an Rolf Peter Sieferles Das Migrationsproblem. Über die Unvereinbarkeit von Sozialstaat und Masseneinwanderung halten, der die einschlägigen “Legitimationsnarrative” sorgfältig und überzeugend dekonstruiert.
Hier können aus Platzgründen nur zwei dieser Motive behandelt werden, die den journalistischen (und teils auch den akademischen) Diskurs durchziehen wie ungenießbar-zähe Fettadern den Prosciutto. Bei dem ersten handelt es sich um die beliebte Opposition von (ängstlichen, abgehängten, ungebildeten) “Modernisierungsverlierern”, denen eine Gruppe von “gebildeten Kosmopoliten” entgegengestellt wird, die “quasi mit links Begriffe wie Kultur, Volk, Nation dekonstruiert”.
Während die ersteren nach “Herstellung von Übersichtlichkeit” (Komplexitätsreduktion) streben, jonglieren die anderen munter mit den Gegebenheiten einer “komplexen, globalisierten, unübersichtlichen Welt”. Nassehi scheint nicht realisiert zu haben, daß z.B. Hans Vorländers PEGIDA-Studie einen Akademiker-Anteil von immerhin 28,2 % auswies und sogar die Süddeutsche feststellen mußte, daß der Erfolg der AfD nicht auf die berühmten “weniger gebildeten Männer mittleren Alters” reduziert werden könnte.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß in der fixen Idee einer Welt “kleinbürgerliche® Ängste und Enge” eine projektive Energie steckt, die auf genau das zielt, was das Klischee bei den “Modernisierungsverlierern” am Werk sieht, nämlich auf Komplexitätsreduktion. Ein schauderndes linksgrünes Juste milieu ordnet auf diese Weise seine kleine Welt und erzielt Bourdieusche Distinktionsgewinne. Das Bedürfnis nach Übersichtlichkeit sucht offenbar gerade diese dauermoralisierenden, die Welt in Gut und Böse spaltenden “Kosmopoliten” mit besonderer Intensität heim.
Und: Was bitte ist ein “Kleinbürger”? Der Begriff ist längst kein soziologischer Terminus technicus mehr (sofern er das je war), sondern ein Diffamierungsbegriff marxistischer Herkunft (der reaktionäre “Kleinbürger” im Gegensatz zum revolutionären “Proletarier”, eine Fiktion gegen die andere!). Sein Referenzobjekt war immer schon in nützlicher Weise unklar − ein Gummibegriff, mit dem vom Hausierer bis zum mittelständischen Unternehmer, von der Kindergärtnerin bis zum Professor seit jeher alles bezeichnet worden ist, was gerade zum Abschuß freigegeben werden sollte.
Die diffamatorische Energie, mit der er auf der Linken trotz seines gegen Null tendierenden Erkenntniswertes benutzt wird, rührt wohl daher, daß sich die meisten Intellektuellen der 68er-Generation herkunftsmäßig dieser Schicht zuordnen müßten, auch das eine charakteristische Projektion nach außen.
Die vollständige Realitätsverweigerung erreicht Nassehis Text mit der Leugnung von Gruppenidentitäten. Zeichen einer “Krise” sei es, “dass da, wo Sichtbarkeiten wie Hautfarbe oder Sprache vorhanden sind, immer mehr Identität vermutet wird, als vorhanden ist. […] daß jemand eine andere Hautfarbe hat, hat überhaupt keine Bedeutung.” Man kann gerne behaupten, daß dies keine Bedeutung haben soll, und hat damit eine normative Aussage getätigt.
Faktisch jedoch sind es genau solche Unterschiede, die Prozesse der Bedeutungsbildung in Gang setzen und anhand derer sich Identitäten herauskristallisieren. Eine Erlaubnis bei der Soziologie holt die Realität für diese Vorgänge nicht ein. Man darf sicher sein, daß die professorale Vorstellung, Sprache, Hautfarbe und Kultur hätten “überhaupt [!] keine Bedeutung” von Migranten am allerwenigsten geteilt wird, wie soeben die Türken in Deutschland und den Niederlanden angesichts von Erdogans Wahlkampf eindrucksvoll bestätigen. Auch die Qualifikation der Deutschen als “Köterrasse” läßt nicht darauf schließen, daß der Beleidiger Probleme gehabt hätte, seine Identität von einer anderen zu unterscheiden.
Inexistent sind Gruppenidentitäten allenfalls im Schutzraum des akademischen Diskurses, wo man der Konstruktion des abstrakten Menschen, die Benoist so eindringlich kritisiert hat, unbelästigt von Riots frönen kann. Auch hier jedoch wäre, gerade mit Mitteln der von Nassehi ansonsten vertretenen Systemtheorie, eine realitätsnähere Beschreibung der Auswirkungen fremdkultureller Massenzuwanderung möglich.
Dieter
Stimme dem Gesagten in allen Punkten zu. Aber Herr Nassehi spricht m.E. einen interessanten Punkt an: die Spaltung und Polarisierung, die gerade weil sie auf Fiktionen beruht und die Stellung der Herrschenden festigend wirkt, nicht wünschenswert ist. Wie finden wir Konservative ein anderes Narrativ um die unter dem Brennglas der Lügenpresse sich selbst mit Moralin übergießenden "Kosmopolizisten" davor zu bewahren, in Flammen aufzugehen und uns alle mit in den Abgrund zu reissen?