Vor dem Bücherschrank (VIII): Deutsche Schriftsteller auf dem geschichtspolitischen Schlachtfeld
Rolf Hochhuths Der Stellvertreter – Ein christliches Trauerspiel wurde 1963 von Erwin Piscator uraufgeführt, einem der bedeutendsten Regisseure der Weimarer Zeit, KPD-Mitglied und Freund von Brecht. Damit stand das Stück in der Tradition des linken Theaters der 1920er Jahre. Wegen seines dokumentarischen Charakters und seiner unmittelbaren politischen Intention gehört es zugleich zur Vorgeschichte von 1968. Aber das Aufführungsjahr rückt es auch in direkte Nähe zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 bis 1965). Während man in aller Welt den Verlauf des Konzils verfolgte – die Abkehr von traditionellen Grundsätzen, die bis 1958, bis zum Tod von Pius XII. gültig waren – stellte Hochhuths Stück einen posthumen Frontalangriff auf diesen Papst und auf die vorkonziliare Kirche dar.
Im Stück versuchen der SS-Obersturmführer Kurt Gerstein und der Jesuit Riccardo Fontana, den Papst dazu zu bewegen, öffentlich gegen die Verfolgung und Vernichtung der Juden zu protestieren. Während der Deportation der römischen Juden finden nur wenige Asyl in einem Kloster. Seinem Vater gegenüber bezeichnet Riccardo den Papst daher als »Verbrecher«. Der ist aber nur dazu bereit, im Geheimen zu agieren. In der direkten Konfrontation klagt Riccardo, sich einen Davidstern anheftend, die Untätigkeit des Papstes an. Riccardo entschließt sich, nach Auschwitz zu gehen, um als Märtyrer ein Zeichen zu setzen, womit Hochhuth die Figur in die Nähe von Maximilian Kolbe rückt, dem das Stück gewidmet ist. Kurt Gerstein bemüht sich noch darum, den Jesuiten zu retten, was aber letztlich scheitert.
Daß es Hochhuth um die Diskreditierung von Pius XII. ging, wird in der Schlußpassage deutlich. Zunächst wird aus einem Schreiben des SS-Offiziers und deutschen Botschafters beim Heiligen Stuhl, Ernst von Weizsäcker, Vater Richard von Weizsäckers, vom 28. Oktober 1943 zitiert: Nach der sogenannten Judenrazzia hat sich der Papst »zu keiner demonstrativen Äußerung gegen den Abtransport der Juden [...] hinreißen lassen«. Er habe »auch in dieser heiklen Frage alles getan, um das Verhältnis zu der deutschen Regierung [...] nicht zu belasten«. Darauf folgt eine Stimme aus dem Off: »So arbeiteten die Gaskammern noch ein volles Jahr. Erst im Sommer 1944 erreichte die sogenannte Tagesquote der Ermordungen ihren Höhepunkt. Am 26. November ließ Himmler die Krematorien sprengen. Zwei Monate später wurden die letzten Häftlinge in Auschwitz durch russische [sprich sowjetische] Soldaten befreit.« Laut Bühnenanweisung sehen die Zuschauer »nur das tote Mädchen (...) nahe der Rampe.«
Das Schlußbild soll hängenbleiben: Dokument, Kommentar, totes Mädchen. Die Verknüpfung suggeriert Kausalität. Weil Pius XII. nicht protestiert hat, konnte die Vernichtung der Juden ungehindert gesteigert werden. Er hat den Holocaust durch sein Schweigen begünstigt.
Die Wirklichkeit ist komplexer. Nach dem Protest der holländischen Bischöfe im Sommer 1942 wurden 250 Katholiken jüdischer Herkunft interniert, die Hälfte von ihnen deportiert. Auch wenn sich Pius XII. über die Zahl der Opfer täuschte, nahm er den öffentlichen Protest als Debakel war. Zudem hatte Ernst von Weizsäcker Kardinalstaatssekretär Maglione im Oktober 1943 vor einer öffentlichen Intervention des Papstes gewarnt, da die fanatischen Kräfte im Nationalsozialismus so nur bestärkt würden. Pius XII. hatte also gute Gründe anzunehmen, daß sein öffentlicher Protest die Situation hätte eskalieren lassen.
Daher ging er einen anderen Weg, der unter anderem von Anna Foa und Dominik Burkard rekonstruiert wurde. Nach der »Judenrazzia« vom 16. Oktober 1943, bei der die SS in Rom etwa 1300 Juden inhaftiert hatte, sorgte Pius XII. dafür, daß sich die Juden in kirchlichen Einrichtungen, in etwa 150 Gebäuden verstecken konnten. Das alles vollzog sich im Stillen. Bis zum Abzug der deutschen Truppen im Juni 1944 konnten sich so 4500 Juden verstecken. Wo Hochhuth also Kausalität suggeriert – päpstliches Schweigen impliziert die Fortsetzung der Tötungen – übersieht er, daß der Papst, sich öffentlich zurückhaltend, die Rettung der Juden in Rom betrieb.
Hochhuth unterstellt Pius hingegen ganz andere Interessen. Riccardo bezeichnet »Petri Nachfolger als größten Aktionär der Welt«. Bei seinem ersten Auftritt sieht man den Papst »von brennender Sorge um Unsere Fabriken erfüllt«. In Kriegszeiten bangt er nicht um das Schicksal der Juden, sondern um die Betriebe, an denen der Vatikan finanziell beteiligt ist. Hochhuths raffinierte Formulierung spielt auf die berühmte Enzyklika Mit brennender Sorge an, 1937 von Pius XI. veröffentlicht, aber maßgeblich von Eugenio Pacelli (also Pius XII.) verfaßt. Bei Hochhuth gilt Pius’ Sorge jedoch nicht den Gefahren des Nationalsozialismus, sondern den Wirtschaftsinteressen des Vatikans. Daß sich Pius XII. schon Jahre zuvor eindeutig positioniert hatte, wird von Hochhuth nur persifliert. Sonst immer kühl, wird Pius plötzlich »freundlich, intim«, wenn die Rede auf Geld kommt. Hochhuth ist eine schmierige Darstellung gelungen, die argumentativ an die DDR-Geschichtsschreibung erinnert.
Obwohl keine Institution so vielen Juden das Leben gerettet hat wie die katholische Kirche, obwohl der Historiker Thomas Brechenmacher das Stück als »Geschichtsklitterung« bezeichnet hat, wirkt Hochhuths Bild von Pius XII. bis heute nach. Im kulturgeschichtlichen Kontext von 1968 trug das Stück zur Delegitimierung der kirchlichen Autorität und ihrer Überlieferung bei. Auf dem geschichtspolitischen Schlachtfeld hat sich Hochhuth blendend geschlagen. Er hat tatsächlich Geschichte geschrieben, und das ist das wahre christliche Trauerspiel.
1998 erschien Martin Walsers Roman Ein springender Brunnen. Der Titel zitiert Nietzsches Nachtlied aus dem Zarathustra. »Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch / meine Seele ist ein springender Brunnen.« Die springenden Brunnen reden. Wenn man ihnen lauscht, kann man auch die Seele hören. Der Roman schließt mit dem Satz: »Die Sprache ist ein springender Brunnen.« Die Sprache also, die Literatur ist der springende Brunnen, der Auskunft über die Seele gibt.
In diesem Sinn erzählt Walser von der seelischen Entwicklung seiner Hauptfigur Johann, in der Walser, die autobiographischen Hinweise sind eindeutig, seine eigene Kindheit und Jugend spiegelt. Die drei Teile des Romans entsprechen drei Stationen auf Johanns Lebensweg, in den Jahren 1932 und 1938 und abschließend vom Herbst 1944 bis Mitte 1945. Das Geschehen wird aus Johanns Perspektive erzählt, ohne daß seine Wahrnehmungen in ein größeres Bild eingefügt oder einsortiert würden. Das ist die poetische Strategie des Romans.
Da ist Wasserburg, bevölkert von einer Unzahl uriger Typen, da ist die Gastwirtschaft der Eltern, die Restauration, man ist knapp bei Kasse, der Vater läßt Johann komplizierte Wörter buchstabieren, Popocatépetl, Bhagavad-Gita, regt so die Phantasie des Fünfjährigen an. Da sind die »Hitlerleute«, die »Nazi-Sozi«, der Vater nennt Hitler eine Katastrophe, die Mutter tritt in die Partei ein, endlich hat man wieder etwas Geld, die Partei hält ihre Versammlungen jetzt in der Restauration ab. Da sind die »Dachauer« in ihren merkwürdigen Uniformen, der SA-Mann geht nicht mehr in die Kirche, Johanns Freund Adolf Brugger plappert die Sätze des Vaters nach, eines Parteisoldaten, Johann schreibt Gedichte, weil er sich verliebt hat. 1944 erhält Johann seinen Stellungsbefehl, da ist der ältere Bruder schon gefallen. Doch bevor es richtig ernst wird, ist der Krieg aus, Johann kann nach Hause gehen.
Es ist ein Roman über das Erwachsenwerden und das Finden der eigenen Sprache, einer authentischen Sprache – das letzte Kapitel trägt denn auch die Überschrift »Prosa«. Es geht um die eigene Sprache, die nicht von anderen vorgeformt wird. Sie wird dann die Prosa des freien Schriftstellers.
Daran ist nichts Weltbewegendes. Der Dialekt, die Bilder aus der Provinz, das Erwachen des Schriftstellers. Aber das Buch fand sofort einen gewichtigen Kritiker. Im Sommer 1998 kritisierte Marcel Reich-Ranicki im »Literarischen Quartett«, daß Auschwitz im Buch nicht vorkomme. Wie aber verträgt sich Auschwitz mit der Perspektive des fünfjährigen, elfjährigen, 17jährigen Johann? Die Figur soll sich an etwas erinnern, was außerhalb ihres Gesichtskreises lag. Indem Reich-Ranicki komplett an der ästhetischen Strategie des Romans vorbeigegangen ist, wurde die geschichtspolitische Forderung in seiner »Literaturkritik« um so deutlicher erkennbar. Dem Autor wird mithin abgefordert, was und wie er zu schreiben hat.
Als Walser im nachfolgenden Oktober der Friedenpreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde, begab er sich in seiner Rede auf das geschichtspolitische Schlachtfeld. Man werfe ihm ein »schweres Versagen« vor, weil »in des Autors Buch Auschwitz nicht vorkomme«. Hier werde die Ästhetik dem Zeitgeist untergeordnet. Von seiner eigenen Situation ausgehend, analysierte Walser die in den Medien übliche Verarbeitung der deutschen Geschichte. Jene Intellektuellen und Publizisten, die ständig im »grausamen Erinnerungsdienst« arbeiten, entlasteten tendenziell sich selbst, während sie ihre Leser aber permanent anklagten. »[W]enn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen.« Das Motiv dieser Dauerpräsentation bestimmte Walser nicht im »Nichtvergessendürfen«, sondern in der »Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken« aus. Doch Auschwitz eigne »sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets«. So zielten die folgenden Worte auf Reich-Ranicki: »Das möchte man den Meinungssoldaten entgegenhalten, wenn sie, mit vorgehaltener Moralpistole, den Schriftsteller in den Meinungsdienst nötigen.« Im Roman Ein springender Brunnen hatte Johann, den Zeitumständen zum Trotz, seine eigene Sprache gefunden, und nun mußte sich sein Autor Walser gegen die Vorgaben tonangebender Instanzen wehren.
Während Walsers Rede insgesamt große Zustimmung fand, wurde sie vom damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, scharf kritisiert. Bubis sprach von einer »Schlußstrichmentalität« und »geistiger Brandstiftung«. Die Debatte mündete schließlich in ein persönliches, von der FAZ organisiertes Gespräch, in dem Bubis den Vorwurf der »geistigen Brandstiftung« zurücknahm.
Walser hat sich öffentlich geschlagen, weil er den Versuch, ihm zu diktieren, was in seinen Büchern zu stehen habe, als geschichtspolitischen Konformismus benannte und zurückwies. Zu lernen war und bleibt freilich die Bereitschaft, eine andere Perspektive, einen anderen Blick auszuhalten.
Der jüngst verstorbene Günter Grass fühlte sich wohl auf dem geschichtspolitischen Schlachtfeld. Über Jahrzehnte galt er als moralische Instanz, etwa durch seine Kritik an Kiesinger, Filbinger, Strauß oder Kohl. 1990 beharrte Grass auf der deutschen Teilung, die den Deutschen von der Geschichte »auferlegt« sei. Wenn es darum ging, die Vergangenheit, die nicht vergehen will, zu beschwören, war der Sozialdemokrat Grass zur Stelle.
Da mutete es geradezu grotesk an, als Grass 2006 seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS eingestand. Nicht diese fünfmonatige Episode des damals 17jährigen mußte ihm vorgeworfen werden, sondern die heuchlerische Art, mit der er über Jahrzehnte hinweg andere vom hohen Roß herab belehrt hatte, während er seine eigene Geschichte in Schweigen hüllte. Es war nur logisch, daß Henryk M. Broder Grass daraufhin als »erledigt« bezeichnete. Die geschichtspolitische Doppelmoral lag offen zutage, doch erledigt war Grass nicht: Bis zuletzt applaudierte ihm sein Publikum, ungerührt von jenem zum Himmel schreienden Widerspruch.
Publikum und Feuilleton flochten Grass bereits 2002 Kränze, weil er sich mit seiner Novelle Im Krebsgang – vermeintlich – dem Thema der Vertreibung angenommen, das brisante Thema »enttabuisiert« hatte, als hätte es, neben vielen anderen, die Romane von Arno Surminski, Heimatmuseum von Siegfried Lenz oder das Echolot von Walter Kempowski nie gegeben.
Worum geht es in dem Text? Nachdem der in Schwerin geborene Wilhelm Gustloff, Leiter der NSDAP-Auslandsorganisation in der Schweiz, im Februar 1936 von dem exilierten Juden David Frankfurter in Davos erschossen worden war, baute ihn die NS-Propaganda zum »Blutzeugen der Bewegung« auf. Das nach ihm benannte Schiff wurde im Rahmen der KdF-Urlaubsfahrten eingesetzt. Ab Ende 1940 lag die Gustloff vor Gotenhafen in der Danziger Bucht, als »schwimmende Kaserne«. Nachdem die Rote Armee die Ostfront durchbrochen hatte, strömten zahllose Flüchtlinge in Richtung Danzig. Auch die Gustloff sollte die Flüchtlinge evakuieren. Am 30. Januar 1945 lief das Schiff, mit vermutlich über 10 000 Menschen an Bord, aus und wurde von einem sowjetischen U-Boot versenkt. Unter den 1252 Überlebenden war auch Tulla Pokriefke, die unter Schock ihrem Sohn Paul das Leben schenkte. Tulla floh dann mit ihrem kleinen Paul weiter nach Schwerin. Vor dem Mauerbau ging ihr Sohn Paul aber nach West-Berlin, wo er als Journalist arbeitete, heiratete und einen Sohn namens Konny bekam.
Diese Vorgeschichte wird auf das Jahr 1997 bezogen. Ein prominenter Schriftsteller, ein Alter ego von Günter Grass, bedauert es auf seine alten Tage, dem Thema Flucht und Vertreibung keine Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Damit habe man nur rechtsextremene Verzerrungen ermöglicht. Als er den Journalisten Paul Pokriefke, Tullas Sohn, der ja in der Nacht der Versenkung der Gustloff auf die Welt gekommen ist, kennenlernt, beauftragt der »müdegeschriebene« Schriftsteller Pokriefke, über den Untergang zu schreiben. Während seiner Nachforschungen stößt Paul dann auf die Internetseite blutzeuge.de, in deren Forum der rechtsextreme »Wilhelm« und ein vorgeblicher Jude namens »David« diskutieren – Wilhelm Gustloff und David Frankfurter reloaded. Bei Wilhelm handelt es sich aber um niemand anderen als um Pauls eigenen Sohn Konny. Unter der Maske des virtuellen Wilhelm verabredet er sich mit David in Schwerin, wo er ihm den 1950 zerstörten Gedenkstein Wilhelm Gustloffs zeigt. David spuckt auf den Stein, woraufhin Wilhelm, also Konny, ihn erschießt und im Jugendgefängnis landet.
Die Geschichte wiederholt sich, mit umgekehrten Vorzeichen. Konny nimmt Rache für Wilhelm Gustloff und auch für die Versenkung der Wilhelm Gustloff, indem er einen virtuellen David Frankfurter tötet, der eigentlich Wolfgang hieß und mitnichten Jude war. Dieser aberwitzige Racheakt ist nur erklärlich, weil Günter Grass und seine Kollegen das Thema Flucht und Vertreibung zu lange »den Rechtsgestrickten« überlassen haben, wahlweise mag man an die Vertriebenenverbände oder Walter Kempowski denken, so daß es zu einem diffusen Motiv für die Aufwertung des Nationalsozialismus werden konnte.
»Das nagt an dem Alten. Eigentlich, sagt er, wäre es Aufgabe seiner Generation gewesen, dem Elend der ostpreußischen Flüchtlinge Ausdruck zu geben: den winterlichen Trecks gen Westen, dem Tod in Schneewehen, dem Verrecken am Straßenrand und in Eislöchern, sobald das gefrorene Frische Haff nach Bombenabwürfen und unter der Last der Pferdewagen zu brechen begann, und trotzdem von Heiligenbeil aus immer mehr Menschen aus Furcht vor russischer Rache über endlose Schneeflächen ... Flucht ... Der weiße Tod ... Niemals, sagt er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen. Dieses Versäumnis sei bodenlos.«
Ja, es wäre seine Aufgabe gewesen – aber Grass hat sie nicht wahrgenommen. Anstatt sich jetzt endlich dem Schicksal der Vertriebenen zuzuwenden, ihre verzweifelte Geschichte zu erzählen, verschwindet die Tragödie dahinter, daß Grass den Untergang der Gustloff nur als Stichwort für die schiefe Handlung um Konny nutzt. Helmuth Kiesel hat festgestellt, daß Grass dem »tausendfachen Tod« nicht viel mehr als eine Seite gewidmet habe und Grass’ Eingeständnis, dem Erzähler könne es ohnehin nicht gelingen, »das tausendmalige Sterben (...) in der eisigen See in Worte zu fassen«, eine künstlerische Kapitulation darstelle.
In seiner »politisch korrekten Novelle« (NZZ) geht es Grass nicht um den Wahnsinn der Vertreibung. Vielmehr wird Konnys absurde Tat auch noch direkt auf den Einfluß der Großmutter, die selbst Opfer der Katastrophe war, zurückgeführt: Sie habe den Jungen »mit Flüchtlingsgeschichten, Greuelgeschichten, Vergewaltigungsgeschichten vollgepumpt«.
Hätte Grass also vorher über die Gustloff geschrieben, dann hätten wir heute keine Neonazis. Das ist das Thema der Novelle – und nicht, wie überall zu lesen, die Vertreibung der Deutschen. Grass habe, so noch einmal Helmuth Kiesel, »am Elend vorbeigeschrieben«.
Hochhuth, Grass, Walser: Letzterer hat sich einer volkspädagogischen Literatur verweigert. Die Literatur darf nicht »gegenwärtigen Zwecken« dienen, denn dann plappert sie, wie der kleine Adolf Brugger, nur das nach, was andere schon vorher auswendig gelernt haben.
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