Es war eine ebenso seltsame wie lehrreiche Zeitreise: Wir waren zu Gast in einem »Jungen Salon«, der nicht zuletzt insofern hochkarätig besetzt war, als sich dort auch die bereits erwachsenen Kinder zweier bekannter deutscher Autoren tummelten. Die Einladung hatte uns erreicht, weil wir vor einem Jahr mit einem der Organisatoren des Salons, einem jungen Verleger, ins Gespräch gekommen waren, in dessen Verlauf sich eine geistige Nähe einstellte, ungefähr entlang der Linie Dávila – Leben in der Provinz – reaktionär. Dieser Verleger entwarf den Plan, uns – die Rechtsintellektuellen – den Teilnehmern des »Jungen Salons« vorzustellen und zugleich auszusetzen. Ein Impulsreferat sollte in eine Diskussion über unsere metapolitische Haltung und Denkweise münden, und er warnte uns vor: Streitlustig, bisweilen ruppig sei der »Junge Salon«.
Das Vorhaben wurde umgesetzt und erhielt durch den jüngst veröffentlichten Briefwechsel zwischen dem Soziologen und Kursbuch-Herausgeber Armin Nassehi und mir eine zusätzliche Aufladung: Was sind das für Leute, über die einerseits im Internet radikale Verdikte kursieren und die andererseits über einen anknüpfungsfähigen Intellekt und interessante Gesprächspartner verfügen? Könnten diese Zootiere am Ende gar faszinierende, weil seltene und schillernde Exemplare einer Spezies sein, deren Population sich zu erholen scheint, oder besser: über deren Bestandszahlen man so recht eigentlich gar nichts weiß? Und wo wären die Reservate dieser rechten Intelligenz zu suchen? Doch nur und vor allem in jenen Waldstücken am Ende toter Gleise, in denen auch der Feuerwehrmann Montag als wandelndes Buch an sein Ziel gekommen ist?
Indes: So offen und interessiert wurde nicht gefragt, so unvoreingenommen und auf der Suche nach dem Paradigma unserer Zeit sind auch die Gespräche und Diskussionen des »Jungen Salons« nicht angelegt. Und leider machen wir uns doch immer noch etwas vor und vermuten ein Verstehen oder hoffen auf ein gutes Gespräch jenseits des Jargons, jenseits der Phrasen der herrschenden Meinung, jenseits des Angelesenen, aber nicht Durchdachten, jenseits des Verwaltens oder Bestellens des vernutzbaren Bestandes selbst in den existentiell entscheidenden Fragen.
Man fand sich dann für die abendliche Zusammenkunft in einer riesigen, mit hellem Holz nach den Wünschen eines schwulen Stars ausgetäfelten Wohnung ein: staubfreier, erstaunlicher Reichtum, dargeboten im Stil geschmackvoller, weltoffener, geräuschloser Effizienz, dies wiederum festzumachen an hohen Regalen mit teuren Bildbänden, an afrikanischer Kleinkunst und an vielen weiß gerahmten Bildern, die – oft auch in drei, vier Schichten – an den Wänden lehnten und eine Art inspirierter Unfertigkeit spiegelten, eine bewußt gesetzte Nichtfestlegung. Dazu: zwei Mac-Rechner, auf denen Börsenkurse ihre Kurven bildeten und die Verbindung nach draußen sicherstellten, während sich der Gastgeber zum Salon gesellte. Dort war man auf uns vorbereitet, hatte den Nassehi-Briefwechsel gelesen und bereits diskutiert und sich uns innerlich zu- oder abgewandt.
Von den gewöhnlich rund fünfundzwanzig Teilnehmern waren zehn nicht gekommen, um sich geistig nicht zu beschmutzen. Die anderen teilten wir auf dem Nachhauseweg in drei Gruppen ein: die ehrlich Interessierten (drei Personen), die offen Aggressiven (drei Personen) und die anderen zehn, deren Typus uns bis dahin in dieser Plastizität oder Ausprägungsschärfe noch nicht untergekommen war. Wir nannten ihn den »optimierten Typus«, den »selbstanalytischen« oder auch den »prozessualen«, aber am nächsten Morgen verwarfen wir diese Bezeichnungen allesamt und legten uns auf »postpragmatisch« fest.
Die Bezeichnung »postpragmatisch« stammt aus dem Roman Planet Magnon, den der 1983 geborene Schriftsteller Leif Randt Anfang des Jahres vorgelegt hat. Randt ist uns bereits vor einigen Jahren mit Schimmernder Dunst über CobyCounty aufgefallen. Er schildert in diesem ersten Roman eine seltsam ruhiggestellte, um nicht zu sagen sedierte, narkotisierte Gesellschaft, eine Gesellschaft, der bestimmte Ansätze und Forderungen der political correctness, des gender mainstreaming oder auch diverser technokratisch-pragmatischer Ansätze in Fleisch und Blut übergegangen sind.
Man hat Beziehungen, die von vornherein auf eine begrenzte Dauer angelegt sind, handelt in jeder Hinsicht tolerant, zurückhaltend, affektarm, kontrolliert. Diese Kontrolle wird nicht von außen ausgeübt, das ist der große Unterschied zu Romanen wie Brave New World, 1984 oder Fahrenheit 451 (obwohl der letztgenannte ja bereits subtile Formen der Selbstformierung beschreibt). Die Kontrolle in Leif Randts Roman ist ins Innere des Einzelnen verlagert, und zwar nicht in Form einer entweder angsterfüllten Anpassungsleistung oder einer denunziatorischen Selbstzensur: Sie funktioniert vielmehr aufgrund einer heruntergedimmten, nichtmissionarischen Form ausgleichender Vernunft. Vernünftig ist das Konfliktarme, vernünftig ist der Verzicht auf unkontrollierbare individuelle Gefühlswallungen, vernünftig ist die Selbstnormierung entlang gelungener Rollenbilder, die notwendige Einpassungsbereitschaft des Einzelnen in einen reibungslosen Ablauf. »Coby County« ist nicht mehr technikkritisch, »Coby County« glaubt an die Lösbarkeit aller Probleme, an die Machbarkeit und – das ist der Subtext – an ein Ende der Geschichte.
In diesem Post-Histoire, dieser großen Übereinkunft nach einer finalen Auseinandersetzung, spielt der zweite Roman Leif Randts, Planet Magnon. Er ist – wie der Schimmernde Dunst – ein Zukunftsroman, eine Science-Fiction-Geschichte, wählt aber einen anderen Ansatz und geht über CobyCounty hinaus: Wir befinden uns in Planet Magnon im Jahr 48 n. AS, also knapp fünf Jahrzehnte nach der Einführung von ActualSanity. ActualSanity ist ein auf einem Shuttle installiertes, weit über den Himmelskörpern schwebendes Computersystem, das die Organisationszentrale der neuen Gesellschaft bildet. Als eine Art algorithmischer Weltgeist verteilt AS Finanzmittel nach einem »Fairneß-Schlüssel« und sorgt dafür, daß Straßen repariert und Häuser gebaut werden. Unauffällig leitet sie die Geschicke der Menschen und beweist dabei Lernfähigkeit. Sie paßt »ihre Gesetzestexte auf Grundlage statistischer Auswertungen immer präziser und unmittelbarer an die sich stets erneuernden Verhältnisse an.« Sie kann »keine eigenmächtigen Entscheidungen treffen«, sie ist abhängig von den »Handlungen, Diskursen und Wünschen« derer, die unter diesem über den Köpfen installierten Konsenssystem leben.
Herrschten vor der Einführung von ActualSanity noch Gewalt, Chaos und Verteilungskampf, ist die Welt mittlerweile ökonomisch und militärisch befriedet. In der interstellaren Gemeinschaft, die keine Staatsgrenzen mehr kennt, organisieren sich die meisten Menschen in Kollektiven. Das Bedürfnis nach Identität ist also in einem System spielerisch konkurrierender Kollektive aufgehoben, die an britische Clubs, an eine Rotary-Stimmung, an ein lebenslanges Internat erinnern.
Im Zentrum der Handlung steht Marten Eliot, der zusammen mit seiner Kollegin Emma Glendale die Dolfins, eines der wichtigsten Kollektive, repräsentiert. Sie sind Anhänger der »PostpragmaticJoy-Theorie«, einer Lehre von Techniken und Strategien zur »ambivalenten Persönlichkeitsentwicklung«. Die Grundhaltung ist in hohem Maße empathisch und unterkühlt zugleich, also: einfühlend in den Zusammenhang, den es permanent zu analysieren und zu optimieren gilt. Das Ziel: ein psychischer Zwischenzustand, »der gemäß dem postpragmatischen Schwebeideal nie abschließend zu definieren ist«. Man ist also unausgesetzt sein eigenes Experiment, hat eine Art Vogelperspektive auf die Ursache, die Äußerungsform und die Folgen von Aufwallungen, die das austarierte Miteinander ins Ungleichgewicht bringen könnten. Man ist sich selbst fremd, um sich steuern zu können, und ist sich erst durch diese Kontrollfähigkeit so nahe, daß man sich selbst nicht mehr überraschen kann. Einen seiner Höhepunkte erreicht diese Haltung immer dann, wenn man einen »Mitch« formuliert – einen kleinen, formschönen Satz, der indifferent bleibt, niemandem zusetzt, »Möglichkeitsfelder eröffnet« und somit die Vorläufigkeit und das Ideal der Folgenlosigkeit auf vollendete Weise repräsentiert. Anders ausgedrückt: Wenn die Sprache das Bewußtsein formt, gehört zur rücksichtsvollen Ichbezogenheit der neuen Gesellschaft zwingend das Ideal eines smalltalks auf höchstem Niveau.
Es ist in diesem planetarischen System nicht verpönt, sondern geradezu erwünscht, die eben geschilderten Kontroll- und Bewußtseinszustände mithilfe eines pharmazeutischen Arsenals zu erreichen. Den Dolfins steht dabei Magnon zur Verfügung. Diese kupferfarbene Flüssigkeit erzeugt den Effekt einer »sphärischen Versachlichung«. Leif Randt hat die Bezeichnung ganz sicher an jenen gleichnamigen Begriff aus der Quantenphysik angelehnt, welcher einen kollektiven Anregungszustand eines magnetischen Systems bezeichnet. Das Magnon der Dolfins ruft eine »Metaeuphorie« hervor, die zu der oben benannten Vogelperspektive und zu einer Art hedonistischem Ultrarationalismus führt. Dabei gilt: Selbst der Rausch führt immer in den Wesenskern der Protagonisten – zu der Einsicht nämlich, daß Freiheit lediglich in der Erkenntnis der Notwendigkeit liegt. Und diese Notwendigkeit ist eben – diese Lehre hat man aus der »Alten Geschichte« vor der Einführung von ActualSanity gelernt – das technokratische Management der Weltbevölkerung mittels Effizienzsteigerung auf jedem – auch dem seelischen – Feld.
Dem Roman fehlte nun eine Dimension, wenn er auf Charaktere verzichtete, die nicht jeden kalten Hauch des Schicksals in ihr persönliches Selbstoptimierungsprogramm umlenken könnten. Und so tritt ein neues, mysteriöses Kollektiv auf den Plan: Die Hanks verüben Anschläge mit sogenanntem Ketasolfin, einer gasförmigen Substanz, die schwach dosiert Wankelmut und Nostalgie hervorrufen kann, in höherer Dosierung aber auch »Zustände der Panik sowie Ohnmachts- und Lähmungserscheinungen« auslöst. Das »Kollektiv der gebrochenen Herzen«, wie die Hanks sich selbst nennen, will sich nicht in die Schmerzlosigkeit fügen. »Diese jungen Leute überhöhen ihren Schmerz«, heißt es an einer Stelle, und sofort ist klar, daß diesem Aufstand die ökonomische Begründung fehlt: Es geht den Hanks darum, den Schmerz endlich wieder zuzulassen und den Menschen in seiner Antiquiertheit anzuerkennen. Wer an den »Fight Club« Tyler Durdens denkt, liegt nicht falsch, nur ist das alles gar nicht mehr kraß und blutig und konsequent zu einem totalen Aufstand hin durchlebt – sondern in der Diktion sanft und auf einen Restraum der Schwäche angelegt: Es kursieren öffentlich gemachte, persönliche Briefe, in denen Menschen über ihre Verletzungen und Enttäuschungen sprechen und sich damit gegen jene wenden, »die eine neue schmerzlose Welt versprechen«. In einem Manifest der Hanks heißt es denn auch: »Heute arbeitet jeder daran, sich möglichst schmerzfrei abzukapseln. Die Enttäuschung ist vorprogrammiert. Wir höhlen uns aus.« Im Kontrast zu diesem emotionalen Eskapismus müsse man nun dringend das Bewußtsein des eigenen Mangels wiederentdecken.
Es gibt unter dem Romanpersonal (und den Lesern) wohl einen nicht geringen Anteil, der sich durch derlei Attacken aus verlorener Stellung heraus anrühren läßt. Aber weil es Rührung ist (und nicht viel mehr), stellt sich gleich eine Frage ein, die aus der Revolution gegen das Ganze eine revolutionsromantische Aufwallung im Dienste des Ganzen macht: Warum unterbindet ActualSanity die Anschläge der Hanks nicht, wo das System doch sogar den Ort der Rebellen kennt? Die Antwort ist die denkbar verheerendste für jeden Aufständischen: Er ist als Dampfventil längst ausgemacht und eingebaut in die permanente Systemstabilisierung. So gesehen sind in Leif Randts Roman die Hanks vielleicht nur ein Mittel zur temporären Energieabfuhr. Das wird nicht explizit behauptet, aber als sehr konsequente Erklärung angeboten. Authentizität oder doch nur ein genialer Schachzug? Im Roman bleibt alles in der Schwebe.
Raus aus dem Roman, zurück in den »Jungen Salon«. Der postpragmatische Typus, der diesen Kreis vorzugsweise besiedelte, ist ein am Ende aller Auseinandersetzungen und ideologischen Kämpfe angelangter, nachgeschichtlicher Charakter. Er hat kein Interesse mehr an Ausschließlichkeit, an Konfrontation oder an Leidenschaft: Er bewegt sich im Post-Histoire und nimmt das Leben als Substanz, die es ständig zu analysieren, anzupassen und zu verbessern gilt. Geschichte als Schicksal, als Kampf, als Konfrontation und Elend, als Größe und Zusammenbruch ist für ihn etwas, das der Vergangenheit angehört, und zwar so ganz und gar, daß es als schwarze Zeit vom nachgeschichtlichen, geschichtslosen, hellen Zeitalter durch eine unhintergehbare Kulturschwelle getrennt ist. Das ist wie im Roman ein Elitenkonzept, das den größten Teil der Leute nicht berührt, aber das ist nicht so wichtig. Denn es sind die tonangebenden Leute, die sich so verhalten, die dünne intelligentere Schicht. Für den großen Rest ist unserem System sowieso längst etwas eingefallen, das in der Folgerichtigkeit der Moderne liegt: Die Unterschiede sind dort bereits zur Ununterscheidbarkeit eingedampft, wo sich der Mensch als 24-Stunden-Konsument konditionieren und einsortieren läßt.
Was der »Junge Salon« nicht begreifen wollte oder konnte: unseren Drang, die Entfremdung des Menschen von seiner Vernutzung und Optimierung zu forcieren. Das war wirklich frappierend: die Bereitschaft dieser Leute, den vollständigen Umbau der Völker zu einer multikulturell, emanzipatorisch und seelisch neu ausgerichteten Gesellschaft nicht nur hinzunehmen, sondern ziemlich leidenschaftslos als Ingenieursaufgabe zu begreifen und zu betreiben. Man stand dort ein wenig ratlos und ein wenig lächelnd vor unserem Furor, unserer Sehnsucht nach einer fundamentalen Freiheit. Im Roman sagt Marten Eliot: »Vielleicht müssen wir uns gar nicht befreien, um glücklich zu werden. Vielleicht reicht es ja, wenn wir uns die Unfreiheit immer nur klar vor Augen führen.«
Was genau ist unser Gegenentwurf? Etwa dies: Erst wenn man einer glatten Versöhnung mit den Verhältnissen widersteht, eröffnet sich ein wahrer Möglichkeitsraum. Die fundamentale Freiheit: Das ist ein Ja zum Mangel, zur Unglätte, zur Last der Geschichte, zur Leidenschaft, zur echten Liebe, zur echten Trauer, zum echten Zorn, zum Amplitudenausschlag. Alles das brachten wir an, aber es klang vor der empathischen Kühle der Ich-Manager im Raum sehr trotzig und sehr romantisch, und selbst die Verweise auf die Macht des Faktischen oder die vielen Beispiele aus der keineswegs funktionalen Wirklichkeit verfingen nicht: Dies alles nämlich würde sich richten lassen.
Ob das stimmt, bleibt in der Schwebe. Klar wurde, daß mit diesem postpragmatischen Typus eine Verständigung nicht mehr möglich ist: Wir redeten permanent aneinander vorbei und konnten die Notwendigkeit, sich auf unseren Argumentations- und Interpretationsweg der Lage der Zeit einzulassen, nicht vermitteln. Wer alle Last abzustreifen vermag, hat keine Veranlassung, über die richtige Trageweise der Last zu streiten. Wer die Geschichte hinter sich gelassen hat und mithilfe von Jargon und Formeln die schwarze von der neuen Zeit scheidet, hält sich nicht mehr mit Geschichtspolitik auf.
Wir müssen mit diesem Typus rechnen. Vielleicht sind wir selbst mit unserem Widerstand bereits im großen Plan vorgesehen. Vielleicht ist das Schicksal ausgehebelt. Vielleicht sind wir Dampfventile.