Über den Begriff des »Revisionismus«

von Ernst Nolte -- Anders als (der Sache nach) etwa der Begriff »Historismus« taucht derjenige des »Revisionismus« nicht schon in den Anfängen der Historiographie der neueren Zeit auf.

Am frühesten wurde er durch die Kritik bekannt, welche einige Marxisten an dem »orthodoxen« Marxismus von Marx und Engels übten. Eduard Bernstein und dessen Anhänger stellten zentrale Begriffe dieser Konzeption in Frage: diejenigen der Einheitlichkeit eines »Weltproletariats«, der zur Revolution treibenden »Verelendung« der Arbeiterschaft in den industrialisierten Ländern, der Unausweichlichkeit einer »Weltrevolution« usw.; sie betrachteten vieles als positiv, was die »Orthodoxen« anklagten, etwa die Beteiligung von Sozialisten an »bürgerlichen« Regierungen, sie setzten Reformen an die Stelle der Revolution, und dieser »Revisionismus« oder »Reformismus« nahm die spätere Trennung von sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien innerhalb der marxistischen Bewegung vorweg.

Zunächst nur ideelle Kritik innerhalb eines Ideengebäudes, entfaltete sich dieser Revisionismus zum politischen Gegensatz staatlicher Regime: der kommunistischen Sowjetunion seit der bolschewistischen Revolution von 1917 und der deutschen Weimarer Republik sowie der ältesten entsprechenden Tendenzen im Westen, die sich als Vorhut der fortschrittlichen und zivilisierten, erst in der Entwicklung zum genuinen Sozialismus begriffenen Welt dem »zurückgebliebenen« und mithin allenfalls pseudosozialistischen Sowjetrußland entgegenstellten.

Aber eine »revisionistisch« zu nennende Bewegung hatte es in der historischen und politischen Welt schon vorher gegeben, nämlich nach dem Siege der amerikanischen Nordstaaten über die »separatistischen« Südstaaten in dem schrecklichen »Bürgerkrieg« der Jahre von 1861 bis 1865. Für die entschiedenen Vorkämpfer des Nordens handelte es sich um die welthistorische Auseinandersetzung zwischen der Lehre von der Freiheit aller Menschen auf der einen Seite und der Doktrin von der Legitimität der Sklaverei infolge des gottgewollten Rangunterschieds zwischen der weißen Rasse und der schwarzen. Insofern ging es in den Augen der nördlichen Liberalen um den Kampf zwischen einem guten und einem bösen Prinzip, und der Sieg der Freiheit mußte den Weg zu einer »freiheitlichen« Welt bahnen.

Freilich gelang die Vernichtung der einst »sklavenhaltenden« führenden Schichten des Südens nicht, und die überlieferten Verhältnisse in den Südstaaten stellten sich zunächst in erheblichen Teilen wieder her. Und an der Columbia University in New York bildete sich eine Schule von Historikern um William Archibald Dunning, welche die liebenswürdigen Züge des »alten Südens« hervorhob: die höhere Kultur und die »menschlichen« Merkmale selbst innerhalb der Sklaverei. Dieser Revisionismus erstrebte indessen keine Wiederherstellung der Vorkriegsverhältnisse; er gehörte also zu einem ideellen oder historischen Revisionismus.

Anders stand es um die »deutschen Revisionisten«, die nach der bis fast zuletzt ungewissen Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg vornehmlich die alliierte These von der »Alleinschuld« Deutschlands leidenschaftlich kritisierten. Sie waren die militante Spitze einer Haupttendenz der deutschen Publizistik und Historiographie der Weimarer Republik, und einige ihrer Tendenzen waren zugleich die offizielle Linie der deutschen Politik, vornehmlich der Verneinung der im »Diktat von Versailles« zugunsten des wiederentstandenen Polen vorgenommenen territorialen Veränderungen wie insbesondere des »polnischen Korridors«, der das Deutsche Reich in zwei ungleiche Hälften teilte.

Aber merkwürdig war, daß sich auch bekannte nicht-deutsche Historiker, wie etwa die Amerikaner Harry Elmer Barnes und Charles Tansill, auf die Seite dieses Revisionismus stellten, der also offenbar einen »rationalen Kern« besaß. Die meisten der deutschen Verfechter konnten sich indessen schwerlich dem Verdacht entziehen, tatsächlich eine reale Veränderung zwecks partieller oder vollständiger Wiederherstellung des »alten Deutschland« zu erstreben und also zu dem politischen oder praktischen Revisionismus zu gehören, der in Frankreich nach der Niederlage von 1870/71 und dem Verlust von Elsaß-Lothringen selbstverständlich gewesen war, wenn er auch meist nicht unübersehbar hervortrat. Schlechthin evident war der Revisionismus während der Zwischenkriegszeit in Ungarn, das im Friedensvertrag von Trianon drei – meist allerdings von fremdnationalen Bevölkerungen bewohnte – Viertel seines Staatsgebietes verloren hatte.

All das nahm sich umso gefährlicher aus, als in Deutschland eine neue und dann auf spektakuläre Weise erfolgreiche Partei unter einem »charismatischen« Führer, dem vor 1920 völlig unbekannten »Gefreiten des Weltkriegs« Adolf Hitler, sich diesen politischen Revisionismus auf freilich halbversteckte Weise zu eigen machte. Die Machtübernahme dieser Partei im Januar 1933 mußte daher unter den Siegern des Ersten Weltkriegs große Beunruhigung auslösen, und der Gedanke, diese neue Gefahr durch einen präventiven Angriff zu beseitigen, fand einflußreiche Befürworter, nicht zuletzt den polnischen Staatschef Józef Piłsudski.

In der noch ganz unter dem Eindruck der Ereignisse der »Epoche des Faschismus« stehenden Geschichtsschreibung der Zeit nach 1945 nehmen daher Begriffe wie »Revisionen« und »revisionistisch« einen großen Raum ein. So will Karl Dietrich Bracher in seinem Buch über Die Krise Europas 1917–1975 nicht zuletzt den »Aufstieg radikaler Revisionsbewegungen« schildern, insbesondere die aus dem »Diktat von Versailles« entstandene »radikale deutsche Revisionsbewegung«, aber auch das temporäre Zusammenspiel mit der am Rande ebenfalls revisionistischen Sowjetunion sowie die verwandten Bewegungen wie diejenige des »Antikolonialismus«, die durch den Ausgriff der »Revisionsmächte« Italien, Japan und Deutschland zwischen 1935 und 1945 »zum vollen Durchbruch« gebracht wurden, so daß ein eigenartiges und paradoxes Verhältnis zwischen den meist als »reaktionär« interpretierten faschistisch-revisionistischen Mächten und den Tendenzen eines unangezweifelten »Fortschritts« zu konstatieren ist.

Es ist indessen noch eine weitere Frage zu stellen, bevor weitergegangen werden kann. Was war das Ziel des von Hitler verkörperten »deutschen Revisionismus«? Allzu rasch wird darauf häufig geantwortet: Hitler, von seinem unersättlichen Eroberungswillen getrieben, sei es letztlich um die »deutsche Weltherrschaft« gegangen.

Dieser Revisionismus hätte also einen völligen Umsturz der Verhältnisse im Auge gehabt und wäre infolgedessen gar nicht wirklich ein »Revisionismus« gewesen, der ja immer auf die, sei es auch veränderte, Wiederherstellung eines früheren Zustandes ausgerichtet sein muß. Es gibt in der Tat einige Äußerungen Hitlers, die dieses größte aller möglichen Projekte zu implizieren scheinen. Aber es existieren auch andere und gewichtigere Aussagen Hitlers, die so viel Besorgnis wegen des ständigen Anwachsens der »ostasiatischen Menschenmassen« an den Tag legen, daß diese »globale« Zielsetzung als ernstlich in Betracht gezogene Möglichkeit auszuschließen ist.

Deshalb ist es ratsam, eine nur selten erwähnte Möglichkeit zu erwägen, die keinen Überschritt über den Begriff des »Revisionismus« hinaus erfordert, nämlich daß Hitler die freilich grundstürzend veränderte Wiedererstehung des »Deutschen Bundes« erstrebte, der ja noch bis zum Krieg von 1866 bestanden und auch einen großen Teil der überwiegend von Tschechen bewohnten Gebiete von »Böhmen und Mähren« umfaßt hatte.

Dieser Zustand wurde gerade durch Hitlers »Griff nach Prag« vom März 1939 wiederhergestellt, mit dem Hitler an die Stelle des neueren Begriffs von der »Selbstbestimmung der Völker« einen älteren und historischen Begriff der internationalen Ordnung setzte. Was diesem Deutschland im Juli/August des Jahres 1939 noch fehlte, waren die deutschen Gebiete des »polnischen Korridors«, und es scheint, daß Hitler sowohl in der Periode, in der er noch eine Art Bündnis mit Polen erstrebte, als auch in dem Augenblick, wo diese Möglichkeit infolge der Verständigung Polens mit England nicht mehr real war, die Absicht hatte, dieses »letzte« seiner territorialen und revisionistischen Ziele auf verständnisvolle, ja großzügige Weise zu lösen.

Aber entscheidend wurde die Weigerung der Nachfolger Piłsudskis, den »revisionistischen« Prozeß der Wiederherstellung eines größeren und erst vor weniger als hundert Jahren verschwundenen Deutschland, an dem sich Polen selbst in der Folge von »München« beteiligt hatte, mit sehr bescheidenen eigenen Opfern fortzusetzen.

Niemand weiß, wie die Weltgeschichte verlaufen wäre, wenn Polen dem zögerlich erteilten englischen Rat gefolgt wäre, die ganz »Weimarischen« Vorschläge Hitlers anzunehmen, aber nichts ist unwahrscheinlicher, als daß »der Führer« den von ihm so nachdrücklich erstrebten Ausgleich mit Großbritannien aufs Spiel gesetzt haben würde, um Norwegen, Frankreich und Jugoslawien zu »überfallen« und gegen die Angelsachsen eine »deutsche Weltherrschaft« durchzusetzen. Er wäre ja gegenüber Großbritannien und den USA in einer ganz ähnlichen Lage gewesen, wie er nach 1933 gegenüber den deutschen Konservativen und einem Großteil der eigenen Streitkräfte gewesen war, nämlich als der jüngere Vorkämpfer einer gemeinsamen Sache.

Ob er sein oberstes Ziel erreicht hätte, die etablierten Verbündeten oder Sympathisanten zur Duldung oder sogar zur Teilnahme an einem Entscheidungskrieg gegen den eigentlichen, den sowjetischen, den revolutionären Feind zu veranlassen, kann ebenfalls niemand wissen. So viel dürfte jedoch sicher sein, daß in der Frage des Verhältnisses zwischen Deutschland und Polen nicht ein exzessiver Weltherrschaftsanspruch dem Beharren auf anerkannten nationalen Grenzen gegenüberstand, sondern daß zwei Prinzipien sich als unvereinbar erwiesen: das neuere Prinzip der nationalen Selbstbestimmung auf der einen Seite und das ältere und seit längerer Zeit anerkannte Prinzip der inneren Macht und Lebensfähigkeit historisch gebildeter, sei es auch zeitweise an den Rand gedrängter oder gar verschwundener Realitäten, wie etwa Polens, das seit seiner dritten Teilung im Jahre 1795 keine staatliche Existenz mehr besessen hatte und das jetzt vor der Frage stand, ob es sich als ethnische Einheit oder in der Erinnerung an die großen Zeiten seiner Geschichte neu konstituieren sollte.

Wenn Hitlers »Revisionismus« als die deutsche Entsprechung gelten darf, dann wäre er eine ebenso umwälzende, aber begrenzte Änderung gewesen wie ein erfolgreicher ungarischer Revisionismus. In Wahrheit waren sein Anspruch und seine Bedeutung weit größer. Aber zunächst muß ein Vergleich angestellt werden, der in Deutschland aus leicht verständlichen Gründen als unzulässig, ja als unmöglich gilt.

Kein Anspruch (der »revisionistisch« genannt werden darf, aber kaum je so genannt wurde) war größer und mindestens für den »Nahen Osten« umwälzender als der Wille der »zionistischen« Bewegung, unter dem in der Welt zerstreuten und staatlosen Volk der Juden nach einem Zeitraum der Vertreibung von nahezu zwei Jahrtausenden in das palästinensische »Heimatland« zurückzukehren und dort, als unangefochtene Mehrheit, ein Leben zu führen, das von den Lasten und Schwierigkeiten der zerstreuten Existenz frei wäre.

Dieses Land war zugleich einer anderen Religion zugehörig, die mit der jüdischen Orthodoxie zwar verwandt, aber bei weitem nicht identisch war, nämlich dem »Islam«. Der zionistische Anspruch ließ sich mit der Idee der »Selbstbestimmung der Nationen« schlechterdings nicht vereinbaren, denn diese kann sich nur auf Verhältnisse der Gegenwart beziehen, und es schien unfaßbar zu sein, daß der Gedanke der potentiellen Fortexistenz vergangener geschichtlicher Realitäten nach der Leere von zweitausend Jahren noch würde Anwendung nden können.

Aber die größte unter den existierenden Weltmächten, die großbritannische, machte sich aus einer Fülle von teilweise ganz unterschiedlichen Motiven, auch philosemitischen und antisemitischen, die Konzeption von Theodor Herzl zu eigen, und man muß sagen, daß vermutlich sowohl in den Augen Wilsons wie Lenins kein rechtswidrigeres und geschichtsfeindlicheres Dokument vorstellbar war als die »Balfour-Deklaration« von 1917, mit der Großbritannien den Anspruch des Zionismus anerkannte und zu fördern versprach, freilich nur mit dem innerlich unwahren Vorbehalt, die Rechte der eingeborenen Bevölkerung dürften dadurch nicht tangiert werden.

Es war nicht verwunderlich, daß gegenüber dem »humanitären« Revisionismus Theodor Herzls, der von einer allseits wohltuenden Zusammenarbeit zwischen den palästinensischen Bewohnern und den jüdischen Einwanderern träumte, eine innerjüdische Opposition aufkam, die sich selbst ausdrücklich »Revisionismus« nannte, nämlich die Bewegung Zeev Jabotinskys, welche der Milde der Herzlschen Konzeption hinsichtlich des künftigen Zusammenlebens von Juden und Palästinensern die unerbittliche Härte der Vorstellung des Kampfes landloser und unterdrückter Völker gegen die Besitzer des erstrebten Landes entgegensetzte.

Einen größeren Umfang und breitere Bekanntheit erreichte der Begriff »Revisionismus« nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den USA, und zwar als Kritik an der »antisowjetischen Wende« der amerikanischen Politik unter dem neuen Präsidenten Harry S. Truman und gegen die Vorherrschaft der »etablierten Schule« in den fünfziger und frühen sechziger Jahren. 1961 erschien das Hauptwerk dieser sich selbst »Revisionismus« nennenden Tendenz, die an das Amerika der alliierten Kriegszeit und der positiven Beziehungen zwischen Roosevelt und Stalin anknüpfen wollte, das Buch von Denna F. Fleming The Cold War and Its Origins, das den Anfang der Spannungen zwischen den beiden Mächten in der ungerechtfertigten Intervention der USA gegen den jungen Sowjetstaat der Jahre von 1917 bis 1920 erblickte und das für die Gegenwart die amerikanische Nichtanerkennung der »aus Sicherheitsgründen notwendigen« sowjetischen Einflußsphäre in Osteuropa für die Hauptursache des Kalten Krieges erklärte.

Das bedeutete einen sehr spürbaren Gegenzug zu der bis dahin unbestrittenen Vorherrschaft der »orthodoxen Schule«, die den Aggressionscharakter der kommunistischen Ideologie und das unerwartete Hinausgreifen der Sowjetunion auf Polen und andere Teile Osteuropas für die entscheidende Ursache hielt. Hier wurde also die Fortsetzung der »alliierten« Politik der Kriegszeit verlangt und die neue Politik des »westlichen Bündnisses« gegen den vordringenden »Totalitarismus« abgelehnt.

Auf dem Spiel standen mithin die großen Linien der »westlichen« oder »angelsächsischen« Politik, die sich zwangsläufig ergeben mußten, wenn die Kennzeichnung, welche einige hochrangige Politiker der »Wahlrede« Stalins vom 9. Februar 1946 gaben, sie sei so viel wie eine »Kriegserklärung des Dritten Weltkriegs«, auch nur annähernd richtig war. Dagegen konnte von Historikern wie etwa David Horowitz eingewandt werden, daß die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg weit größere Verluste erlitten hatte als die USA und daß der Hauptcharakter ihrer Politik ein defensiver sei.

In einigen Extremfällen ging die Kritik so weit, daß die Selbstkritik bis zur Selbstverwerfung vorangetrieben und damit ein Kennzeichen des westlichen Systems erfüllt wurde, zu dem es auf der entgegengesetzten Seite keinerlei Analogie gab. Einen Vorrang gewann dieser Revisionismus indessen nie, und die »etablierte Schule« behielt den größeren Einfluß. Die Rede, die Churchill am 5. März 1946 in Anwesenheit des amerikanischen Präsidenten in Fulton, Missouri hielt, war offensichtlich eine Erklärung entschiedener Feindschaft.

Es sind also »historische« und »politische« Revisionismen zu unterscheiden, von denen die ersten, zu denen auch das Werk von Stefan Scheil gehört, tendenziell mit »kritischer Wissenschaft« identisch sind, während die zweiten nach Reichweite und Intention voneinander sehr verschieden sind, so daß sich ein »punktueller« und ein »ausgedehnter« politischer Revisionismus unterscheiden lassen. Der politische Revisionismus der Franzosen nach 1870/71 würde auf der einen Seite zu lokalisieren sein und der aus mehrtausendjähriger geschichtlicher Entfernung und für den Nahen Osten umwälzende Revisionismus Israels auf der anderen.

Aber die Kämpfe um Herrschaft und Besitz in Mitteleuropa und im nahöstlichen Bezirk des ehemaligen »Fruchtbaren Halbmonds« hätten unabhängig voneinander verlaufen können, wenn es nicht jenes weltgeschichtliche Ereignis gegeben hätte, das höchstens am Rande mit der Konzeption des Revisionismus in Beziehung gesetzt werden kann, nämlich die bolschewistische Revolution in ihren Anfängen der Jahre 1917–1920 in Rußland.

Diese Revolution wollte in der umfassendsten aller Bedeutungen »revisionistisch« sein, ohne den Terminus jemals zu verwenden, indem sie eine schwere Anklage gegen die gesamte bisherige Geschichte richtete, welche die positiven Verhältnisse der Urzeit – die Durchsichtigkeit der gesellschaftlichen Realitäten, die teilnehmenden Beziehungen der Individuen untereinander, die Harmonie der gesellschaftlichen Verhältnisse – durch den Einbruch von Egoismus und Besitzgier in eine gegenteilige und unsittliche Wirklichkeit umgewandelt habe.

Den Zustand der wechselseitigen Entfremdung der Individuen, des Hasses der Kollektivitäten untereinander gelte es zu überwinden und dadurch einen Zustand wiederherzustellen, für den bald der Terminus »Sozialismus« aufkam, der aber längst zuvor von Philosophen und Historikern als der vorgeschichtliche Zustand einer »Gottes-« oder einer »Natur«welt beschrieben worden war, die vor der immer noch und nun erst recht ungerechten, ja sündhaften historischen Realität bestanden habe, deren Gegenteil »u-topisch«, d.h. nirgendwo aufzufinden und offenbar gerade deshalb mit allen Kräften zu erstreben sei.

Aber von allen Ideologien, die sich diese einfachen Gedanken zu eigen machten, war der Marxismus diejenige, die nicht schlicht geschichtsfeindlich und »primitivistisch« war, sondern die der hassenswerten Realität, die sie unter dem Namen »Kapitalismus« ebenso entschieden bekämpfte wie alle verwandten Ideologien, nicht nur ein Existenzrecht, sondern geradezu eine »Existenzpflicht« zuschrieb, denn der Kapitalismus müsse die grundlegende Voraussetzung des Sozialismus sein, und jeder unmittelbare Rückweg zur Sittlichkeit und Harmonie dieser noch nicht »entwickelten« Urzeit sei aussichtslos und führe allenfalls zu in sich widersprüchlichen und paradoxen Zuständen.

Hier lag die Hauptschwierigkeit gerade für die überzeugtesten und aufrechtesten Vorkämpfer der Russischen Revolution, denn Rußland galt allgemein als die zurückgebliebenste, noch tief im Analphabetismus einer Mehrheit der Bevölkerung steckende europäische Großmacht. Vermutlich konnte nur das Zusammenfließen von zwei chiliastischen Grundvorstellungen zu der erforderlichen Energieentfaltung führen, und Lenin stimmte mit Gorki in dem Glauben überein, lediglich das Zusammentreffen des russischen und des »fremdvölkischen«, hauptsächlich jüdischen »Messianismus« könne das noch nie Dagewesene verwirklichen, die entfremdungslose und sittliche Gesellschaft ohne Besitzgier und ohne wechselseitigen Haß der Gruppen und Individuen.

Doch vorläufig konnte es sich nur darum handeln, die »ganze alte Welt« auszurotten und in erster Linie jene Kraft, die sich noch immer für »fortschrittlich« hielt und die nach marxistischer Überzeugung einmal tatsächlich fortschrittlich gewesen war: »die Bourgeoisie«!

Auch in diesem realen oder »schmutzigen« Teil des Veränderungswillens der bolschewistischen Partei standen neben den Russen die Fremdvölker, insbesondere die Juden und die Letten, in Tscheka oder NKWD oder GPU in der vordersten Reihe, und nie zuvor hatten in einem neuzeitlichen Staat die Anklagen gegen ganze Klassen und die Forderung der – sei es sozialen, sei es physischen – Vernichtung so sehr eine zentrale Bedeutung wie in dem zur Sowjetunion gewordenen Rußland. Es war nicht nur verstehbar, sondern verständlich, wenn in den frühen zwanziger Jahren der Begriff des »jüdischen Bolschewismus« weithin in Gebrauch kam, obwohl sogar der Begriff »russischer Bolschewismus« inadäquat war, weil es sich in Wahrheit um das Phänomen einer Urtatsache im Menschen handelte, um die »ewige Linke«, ohne deren Existenz die innere Ordnung der Menschheit von einer Festigkeit wäre wie bei den Termiten.

Wenn nur die handgreiflichen Realitäten gesehen und ernstgenommen wurden, aber nicht die »im Hintergrund« lebendigen Ideen und Vorstellungen, dann war die Situation in den Jahren 1917 und den folgenden so zu beschreiben: Zum ersten Mal in der Geschichte des neuzeitlichen Europa hatte eine ideologisch bestimmte Partei die alleinige Macht ergriffen, die einen Grundwesenszug der bisherigen Geschichte verneinte und zu vernichten strebte, nämlich die geschichtete und nach Nationen und Imperien gegliederte Gesellschaft, die sie »Klassengesellschaft« und deren führende Gruppierung sie »Bourgeoisie« nannte. Richtiger hätte diese als »Liberales System« bezeichnet werden müssen, das sich in einem langen und singulären Prozeß aus dem mittelalterlichen und »feudalen«, aber schon durch Merkmale einer Machtteilung zwischen der christlichen oder katholischen Kirche und den aufkommenden »Staaten« gekennzeichneten Zustand entwickelt hatte.

Wenn von »Fortschritt« geredet werden durfte, dann war er mit diesem System verbunden, das in der Tat seit dem achtzehnten Jahrhundert ein Ausmaß und eine Bedeutung der durch die Technik bestimmten materiellen Produktion aufwies, die man als »Kapital« bezeichnen mochte. Seine Entstehung und Fortentwicklung waren durch schwere innere Kämpfe und Auseinandersetzungen geprägt, unter denen der große »Maschinensturm« der Ludditen im England des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts hervorragte.

Diese Entwicklung vollzog sich nicht unter der Leitung eines Zentralorgans, und sie wurde von vielen der Betroffenen als »unnatürlich« und bekämpfenswert betrachtet. Aber sie war das weltgeschichtlich Neue, und in Ansätzen erfüllte sie eine ihrer großen Versprechungen: die Anhebung des Lebensstandards der breiten Massen, die doch unter ihrem Druck zu großen Teilen ächzten und protestierten. Die bolschewistische und schon die marxistische Bewegung war also in ihren Ursprüngen nichts anderes als eine selbständig gewordene und weitverbreitete Selbstkritik des »kapitalistischen Systems«. Aber da sie sich in dem räumlich größten und politisch tendenziell wichtigsten aller Staaten der Welt vollzog, der allgemein als »despotisch« oder altertümlich erschien, mußte sie sich als ein von außen kommendes und todgefährliches Phänomen darstellen, das allen »Fortschritt« in Frage stellte und mit Vernichtung bedrohte.

Diese Vernichtung war der Idee nach die Zurückführung der führenden Schichten zu der Gleichheit einer allgemeinen Handarbeiter- oder Arbeitsexistenz. Aber in dem von Deutschland besiegten Rußland vollzog sie sich schon am Ende des Ersten Weltkriegs 1917/18 durch die brutale – soziale und physische – Ausrottung der führenden Schichten, und wenn »Intellektualisierung« und immer allgemeinere Arbeitsteilung ein Hauptmerkmal der modernen Entwicklung waren, dann war diese »Sozialisierung« antifortschrittlich. Dann wurde der revolutionäre Vorgang als »Attentat gegen die Kultur« begreiflich, und es lag nahe, der lebensgefährlichen Angriffskraft eine ebensostarke Kraft der Abwehr entgegenzusetzen.

Aber das war indessen nicht das Verfahren, welches das nun schon oft »westlich« genannte System einer Gefahr, die in Umrissen bereits früher aufgetaucht war, entgegengestellt hatte. Es war vielmehr schon in der englischen und der französischen Revolution der radikalen Partei, die sich als Verkörperung des egalitären Vernichtungswillens verstand, zwar mit entschiedenem Abwehrwillen entgegengetreten, aber es hatte eine bloße Verneinung vermieden, indem es Tendenzen vorwärtstrieb, die dem Todfeind einen »rationalen Kern« zuerkannten und einen Teil dieser Partei in das veränderte Ganze herüberzog. Die Entwicklung der sozialdemokratischen Parteien in Deutschland und Frankreich waren Musterbeispiele, und deshalb wurde ein Sieg der radikalsten und zeitweise sehr populären Partei nicht zur Realität.

Die nationalsozialistische Partei des 1919 noch völlig unbekannten Adolf Hitler suchte schon durch ihre Selbstbezeichnung einen historischen Platz zu besetzen, der vor 1914 erst kaum vorhanden war, und Hitler war dadurch von allen anderen Politikern seiner Zeit verschieden, daß er die Postulate der linksradikalen Partei, der Kommunisten, ganz ernst nahm und die einzige Möglichkeit des Sieges und der Selbstbehauptung darin sah, dem Todfeind einen ebenso radikalen Sieges- und Vernichtungswillen entgegenzustellen. Das war nicht von vornherein eine verfehlte Möglichkeit der Antwort auf die zentrale Frage der Epoche, denn nichts dürfte »natürlicher« sein, als einem radikalen Vernichtungswillen einen ebenso radikalen Willen zur Gegenvernichtung entgegenzusetzen. Er war sogar nicht ohne weiteres deshalb verfehlt, weil Hitler, wenn er auf die gleiche Ebene wie der Bolschewismus gelangen wollte, einen ebenso internationalen Hauptfeind vor sich haben mußte, wie ihn der Bolschewismus im »Kapitalismus« und in der individuellen und kollektiven »Besitzgier« besaß.

Nicht einmal die Tatsache, daß er diesen »Hauptfeind im Hintergrund« in »den Juden« identizieren zu können glaubte, machte seinen Ansatz von vornherein verfehlt, denn für ihn war das Judentum nicht, wie für große Teile der Alliierten und der deutschen Bevölkerung, eine kleine und hilflose Minderheit, sondern als das geschichtlich älteste Volk der Welt, als wichtigster Ursprung des Monotheismus und im unverbrüchlichen Festhalten an der Einzigartigkeit seines Daseins als das »Auserwählte Volk« eine weltgeschichtliche Größe, zu der wegen ihrer unvergleichlichen Solidarität auch die geringsten Mitglieder gehörten und vielleicht sogar die zahlreichen Assimilierten, die »aus dem Judentum ausgetreten« waren.

Letzten Endes zählte das Judentum als solches, trotz des scheinbaren oder wirklichen Widerspruchs gegen den Begriff des »auserwählten Volkes«, zu den Hauptkräften des »Internationalismus«, den Hitler als Vertreter des »Nationalismus« aus der Welt bringen wollte, soweit er die alleinige und zur Synthese unfähige Hauptkraft sein wollte.

Aber Hitlers Wille zur Gegenvernichtung mußte gegenüber dem ursprünglicheren Vernichtungswillen der von einer Utopie geleiteten Ideologie des Kommunismus nicht nur eine Nachahmung und damit innere Abhängigkeit bedeuten, sondern auch den Überschritt aus dem sozialen in das biologische Gebiet. Was der Tendenz nach eine Verteidigung gegen einen universalen Angriff war, mußte sich daher als Wiederaufnahme des gewöhnlichsten aller Vernichtungsvorgänge darstellen: als die physische Vernichtung eines Volkes durch ein anderes, als die Ausrottung eines Stammes durch einen anderen Stamm.

So ging alles verloren, was im ursprünglichen Ansatz an »historischem Recht« enthalten war, und auch dasjenige verschwand, was in Hitlers »Revisionismus« an Positivem und potentiell Vorausdeutendem vorhanden gewesen war, nämlich die erfolgreiche Verteidigung nationaler und sozialer Selbstbehauptung. Wenn das große Volk der Deutschen berechtigt war, sich selbst inmitten der universalisierenden Tendenzen der Weltentwicklung zu behaupten, dann mußte dieses Recht auch kleinen Völkern wie den Tschechen zugestanden werden, und eben das hatte Hitler mit jenem »Griff nach Prag« nicht getan.

Nach der katastrophalen Niederlage des Hitlerschen Reiches von 1945 gegen »die ganze Welt« lag nichts näher, als den vom Nationalsozialismus im Hinblick auf das Judentum gebrauchten Begriff des »absoluten Bösen« auf den Hitlerschen Nationalsozialismus anzuwenden und sich damit zugleich die »Perspektive der Sieger« zu eigen zu machen.

Aber wenn man vom Recht und Unrecht unterschiedlicher »Revisionismen« ausgeht, unter denen der deutsche hervorstach, so wird man dem deutschen »Radikalfaschismus« dennoch ein gewisses Maß an historischem Recht zugestehen müssen, zumal wenn man die eigenartigste aller Verkehrungen nicht aus opportunistischen Gründen aus den Augen verliert, nämlich die Tatsache, daß gegen den sieg- und erfolgreichen Staat Israel von den riesigen Massen der arabischen Welt aus guten Gründen ganz ähnliche Vorwürfe erhoben werden konnten, wie sie einst von den Massen der alliierten Mächte gegen das nationalsozialistische Deutschland gerichtet worden waren: ein Eroberungs-, Vertreibungs- und Unterdrückungsstaat zu sein, der vermutlich nicht viel anders handeln würde als der nationalsozialistische Staat, wenn er jemals in die eigentlich zwangsläufige Situation geriete, sich gegen die Übermacht einer materiell weit überlegenen arabischen Welt in einem Kampf auf Leben und Tod verteidigen zu müssen. Eben dies sagte in den Anfangszeiten des jüdischen Staates der Außenminister Abba Eban, als er die Anwesenheit der verbliebenen Palästinenser im Staate Israel eine »tödliche Gefahr« nannte, sobald der Angriff »der Araber« gegen Israel stattfinden werde.

Die Deutschen der Gegenwart sind im historischen Unrecht, wenn sie einander zufrieden auf die Schultern klopfen und ihre »Vergangenheitsbewältigung« als vorbildlich rühmen, hinter der andere große Staaten, die sich einer vergleichbaren Geschichte stellen müßten, wie etwa Rußland, China oder sogar die USA, weit zurückgeblieben seien.

Der reale Geschichtsverlauf beruht auf sehr unterschiedlichen Mischungen von »Gutem« und »Bösem«, und auch der Hitlersche Nationalsozialismus hatte mindestens in seinen Anfängen einige gute Züge aufzuweisen, wie etwa das richtige Empfinden für das Außerordentliche des Bolschewismus. Der Begriff des »absoluten Bösen« gehört wie derjenige des »absoluten Guten« nicht zur menschlichen Geschichte, sondern er ist, anders als der des »Revisionismus«, ein metaphysischer oder religiöser Begriff.

Die drängendste und am meisten tabuisierte Frage ist damit indessen noch nicht aufgeworfen. Daß zahlreiche Menschen in Deutschland und anderswo schon den Worten »Revision« und »Revisionismus« mit tiefer Abneigung begegnen, liegt daran, daß sie ausschließlich denjenigen Revisionismus im Auge haben, der die Präzedentien und die Ausmaße des »Holocaust« zum Thema macht und diesen insofern zu »leugnen« scheint. Bloße Behauptungen zu politisch durchsichtigen Zwecken kann und sollte man in der Tat mit einer bloßen Handbewegung abtun.

Aber argumentativ vorgebrachte und nach dem üblichen wissenschaftlichen Verfahren dargelegte Zweifel an bisher kaum bestrittenen Tatsachen dürfen in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft nicht als »Verbrechen« angesehen und bestraft werden. Wer derartiges intendiert und betreibt, ist – ohne es vermutlich zu wissen oder zu wollen – ein Gegner der Freiheit der Wissenschaft und insofern ein Verfassungsfeind.

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