Autorenporträt Byung-Chul Han

Byung-Chul Han, 1959 in Seoul geboren, genießt in der deutschsprachigen Gegenwartsphilosophie fast schon eine Art Kultstatus. Das mag teils seinem Aussehen geschuldet sein (ein wenig wie Jackie Chan in Shang-High Noon), aber mehr noch an den von ihm bevorzugten Themen und seiner Art zu denken liegen. Han verbindet Betrachtungen zur digitalen Welt mit Kritik am Neoliberalismus und stellt mit seiner kritischen Analyse der Forderung nach immer mehr Transparenz das Goldene Kalb der Gegenwart schlechthin in Frage. Dennoch wäre es grundverkehrt, in Han einen wohlfeilen Mode- und Medienphilosophen zu sehen – dagegen spricht schon, daß der an der Universität der Künste in Berlin Philosophie und Kulturwissenschaft lehrende Han sich auf unbequeme und sperrige Denker bezieht. Neben Martin Heidegger, über den Han promoviert hat, taucht auch Carl Schmitt im Horizont seines Denkens auf.

Als wäre dies nicht schon bemerkenswert genug, hat Han vor seinem in Deutschland absolvierten Studium der Theologie und Philosophie in Südkorea Metallurgie studiert und war in jungen Jahren begeisterter Techniker und Bastler – bis ihm eines seiner Experimente gründlich mißlang und eine Explosion ihn fast zur Strecke gebracht hätte. Dem Basteln mit Lötkolben und Drähten habe er seither abgeschworen, so Han in einem Zeitungsinterview, nicht aber dem Basteln generell, denn auch Denken sei Basteln. Und auch das Denken könne wie das Basteln zu einer Explosion führen: »Denken ist die gefährlichste Tätigkeit, vielleicht gefährlicher als die Atombombe. Es kann die Welt verändern.«

Fast noch sympathischer wirken Hans Gedanken zur heute üblichen Vergötzung der Transparenz. Die Forderung nach allumfassender Sichtbar- und Wißbarkeit kennzeichnet unser Verhältnis zu den Dingen und ist zugleich das Herz der neoliberalen Weltordnung, die schlichtweg alles zur Information machen will, denn Information und Kommunikation steigern die Produktivität, die Beschleunigung und das Wachstum. In diesem Sinne ist es nachvollziehbar, wenn Han das Smartphone zur digitalen Devotionalie erklärt und als eine Art modernen Rosenkranz betrachtet – ein Gedanke, der durchaus naheliegt, beobachtet man, wie Nutzer von Smartphones voller Hingabe und innerer Sammlung permanent ihre Finger über das beinahe mit ihren Händen verwachsene Gerät gleiten lassen. Der ständigen Kommunikation stellt Han das Schweigen, das Geheimnis und die Stille gegenüber – all das entzieht sich der Verfügbarkeit und der geschäftsmäßigen Informationsverwertung. Wer sich eingehender mit Heidegger befaßt hat, wird sich spätestens hier an den Meßkircher Denker erinnert fühlen.

Heidegger hat der westlichen Philosophie die Erinnerung an das Dunkle, das Geheimnisvolle und Verborgene, das Denken des Seins nicht im Sinne steter Anwesenheit, sondern als Wechselspiel von An- und Abwesen, von Dunkelheit und Lichtung zurückgebracht – mehr als zweieinhalbtausend Jahre nach dem Verschwinden dieses Denkens in den Wirbeln der abendländischen Metaphysik. Dieses ursprüngliche Denken war vorsokratischen Denkern noch vertraut, bei Platon und Aristoteles vollzog sich jene Wende im Seinsdenken, die es der in der Tradition beider Philosophen stehenden christlichen Theologie möglich machte, den christlichen Gott als permanent anwesendes oberstes Seiendes zu denken. Ein so gedachter Gott konnte dann im Übergang zur Neuzeit quasi im Staatsstreich durch das denkende Subjekt ersetzt werden, dem auf diese Weise die ganze Welt zum Objekt eines entgrenzenden Handelns wurde. Mit Nietzsche schließlich erkannte eine verblüffte Welt, daß der solchermaßen zuerst ge- und dann ersetzte Gott längst gestorben – sprich: seiner universalen Wirkungsmacht enthoben worden war. An die Stelle Gottes setzte das sich selbst ermächtigende Subjekt eine in Gestalt der planetarischen Technik allmächtige Weltbeherrschungsmaschinerie: Die Welt wurde zum Verfügbarkeitsraum der Planung und Berechnung, der Ausbeutung und Zerstörung – beschrieben in Ernst Jüngers Arbeiter aus dem Jahr 1932. Dem nun setzte Heidegger (wohl auch als Folge seiner intensiven Auseinandersetzung mit dem Arbeiter) seine in den dreißiger Jahren sich vollziehende Wiederentdeckung des Geheimnisses entgegen. Der japanische Religionsphilosoph Keiji Nishitani, der sich Ende der dreißiger Jahre zu Studienzwecken bei Heidegger aufhielt, war vielleicht der erste fernöstliche Philosoph, dem eine Verwandtschaft des Heideggerschen Denkens mit ostasiatischen Denkmustern auffiel. Die zeitgenössische deutsche Philosophie hingegen fühlte sich in ihrer Rolle als dem Zeitgeist sekundierender Mitläufer der beginnenden Transparenzherrschaft wohler.

Byung-Chul Han befremdet mit seiner Kritik der Transparenz, gilt Transparenz heute doch als universaler Prüfstein politischer und jeder sonstigen Redlichkeit – wenn man das Anfang Januar 2014 auf 3sat gesendete Interview mit Han gesehen hat, begreift man schnell, daß dieser Philosoph der Welt mehr zu bieten hat als jene Sorte professoralen Geschwätzes, die jungen, motivierten Geistern den längeren Aufenthalt an Universitäten unerträglich machen kann. Um die Kluft zwischen totaler Transparenz und dem im Beschweigen bewahrten Geheimnis zu veranschaulichen, verweist Han auf den Gegensatz von Pornographie und Erotik – der Eros, das Geheimnis, stirbt im Gebot »Du sollst alles enthüllen!« der Pornographie. Der Transparenzwahn im Reich des Sexus beginnt bei der Schamhaartotalrasur und führt über die solchermaßen barrierefrei gemachte Visualisierung des Geschlechtsaktes in Full HD bis zur molekularbiologischen Entzifferung des Lebens selbst – nacktes Zahlen- und Formelwerk als eigentliche Obszönität. Der von Han in der Denktradition Heideggers ins Spiel gebrachte Gegenentwurf zu dieser Pornographisierung der Welt – das Geheimnis, die Stille, das Beschweigen – hat durchaus mehr als nur die Sprengkraft einer mit Drähten und Lötkolben hervorgebrachten Bastelarbeit. Es ist gefährliches Denken – gefährlich für die neoliberale Ordnung, denn wo das Schweigen herrscht, trocknet der Informationsfluß rasch aus. Tiefes Schweigen, Verweigerung, Rückzug aus dem öffentlichen Getriebe, weitgehender Verzicht auf Konsum und »Kommunikation« – darin liegen durchaus widerständige Potentiale. Die Nutzung dieser Potentiale würde allerdings jeden einzelnen fordern und die Bereitschaft voraussetzen, persönliche Unbequemlichkeiten in Kauf zu nehmen, um für das System unbequem zu werden.

An eine Revolution gegen die neoliberale Transparenzherrschaft glaubt Han nicht – das System verführt, verlockt und macht jedermann zum Unternehmer in eigener Sache. Besagter Jedermann ist stets bemüht, das System mit immer neuen Selbstentblößungen am Leben zu erhalten und dafür kleine Belohnungen in Form digitaler Hochdaumen zu bekommen: »Die digitalen Lehnsherren wie Facebook geben uns Land, sagen: Beackert es, ihr bekommt es kostenlos. Am Ende kommen die Lehnsherren und holen die Beute. Das ist eine Ausbeutung der Kommunikation. Wir kommunizieren miteinander, und wir fühlen uns frei. Die Lehnsherren schlagen Kapital aus dieser Kommunikation. Und Geheimdienste überwachen sie. Dieses System ist extrem effizient. Es gibt keinen Protest dagegen, weil wir in einem System leben, das die Freiheit ausbeutet.« Damit betreten wir nun endgültig das Reich der Machtfragen.

Wo es um Machtfragen geht, ist Carl Schmitt nicht weit. Die neoliberale Transparenzgesellschaft ist zwar keine Macht im herkömmlichen Sinne. An die Stelle der Machthaber alten Stils und der konventionellen Ausbeutungsmechanismen ist ein System der Selbstausbeutung getreten, in dem das Digitale die entscheidende Rolle spielt. Zwar hat Carl Schmitt die digitale Welt nicht mehr erlebt, doch denkt Han ihn hier konsequent weiter: »Es ist bekannt, daß Schmitt zeitlebens Angst vor Wellen hatte. Shitstorms sind auch eine Art Wellen, die jeder Kontrolle entgleiten. Aus Angst vor Wellen soll der alte Schmitt auch Radio und Fernseher aus seinem Haus entfernt haben. Er sah sich sogar dazu veranlaßt, angesichts der elektromagnetischen Wellen seinen berühmten Satz der Souveränität umzuschreiben: ›Nach dem Ersten Weltkrieg habe ich gesagt: Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Nach dem Zweiten Weltkrieg, angesichts meines Todes, sage ich jetzt: Souverän ist, wer über die Wellen des Raumes verfügt.‹ Nach der digitalen Revolution werden wir Schmitts Satz der Souveränität nochmals umschreiben müssen: Souverän ist, wer über die Shitstorms des Netzes verfügt.«

Schmitt sei, so Han, ein Denker der terranen Ordnung, der Festigkeit, der klaren Abgrenzungen und der Unterscheidungen – eine Welt des festen Charakters, der dem Homo digitalis gänzlich abgehe. Das digitale Medium hingegen gleiche jenem Meer, in das sich keine festen Linien eingraben lassen. Dennoch wird der Cyberspace wie das Meer zum Raum für Eroberung – einer Eroberung freilich ohne Mauern und Grenzziehungen. Kategorien wie Geist, Denken, Wahrheit und Handeln gehören zur terranen Ordnung, im digitalen Zeitalter werden sie ersetzt: An die Stelle des Handelns tritt die weitgehend automatisch ablaufende Operation, die ohne jede Empathie und damit ohne jede echte Entscheidung allein der Effizienz dient. Das Denken weiche, so Han, dem gegen Überraschungen, Brüche oder Ereignisse abgesicherten Rechnen, die Wahrheit der Transparenz. Transparenz mache zwar durchsichtig, sei aber im Unterschied zur Wahrheit (die stets zusammen mit dem Falschen gedacht werden müsse, so wie Heidegger Wahrheit als Unverborgenheit aus dem Verborgenen bestimmt) nicht erhellend. Diese den Dingen und Verhältnissen innewohnende natürliche Negativität vermißt man auch bei Facebook, die Unterscheidungen von Freund und Feind sowie von Nähe und Ferne sind in der digitalen Welt gegenstandslos geworden. Was aber, wenn wir uns die Nähe und Ferne, das Lieben und Hassen, den unversöhnlichen Gegensatz von Freund und Feind, das Negative und mit ihm die Freiheit zurückholen würden? Han gibt keine Handlungsanweisungen. Aber er regt an.

Lohnt sich also die Beschäftigung mit Han? Geht man künftig öfter zum Koreaner, um den intellektuellen Hunger zu stillen? Was Han so interessant macht, ist die Unbefangenheit und Offenheit, mit der er sich seinen Themen nähert. Eingangs wurde das Basteln als Ausgangspunkt der Entwicklung des jungen Han zum Philosophen erwähnt. Wir nähern uns dem Ende mit einem weiteren Selbstzeugnis: »Denken besteht darin, Ähn- lichkeiten wahrzunehmen. Ich mache oft die Erfahrung, daß ich plötzlich Ähnlichkeiten zwischen Ereignissen wahrnehme, zwischen einem gegenwärtigen Ereignis und einem früheren Ereignis. Oder zwischen den Dingen, die gleichzeitig stattfinden. Ich gehe diesen Beziehungen nach.« – Hier, in dieser Suche nach fast schon magischen Entsprechungen und Korrespondenzen, tritt Hans metallurgische Vergangenheit offen zutage. Me- tallurgie aber sei, so Han, moderne Alchemie. Auch sein Denken, dieses »Ich gehe diesen Beziehungen nach« könnte man als alchemistisches bezeichnen. Je nachdem, welche Ähnlichkeiten es wahrnimmt, welchen Beziehungen es nachgeht, wird es zum potentiell brandgefährlichen Denken. Und genau das macht diesen Denker anziehend.

Lutz Meyer

Lutz Meyer kommt aus der linksanarchistischen Szene, seine Themen findet er auf der Straße.

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Lutz Meyer kommt aus der linksanarchistischen Szene, seine Themen findet er auf der Straße.

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