Von Heidegger zu Derrida

von Siegfried Gerlich ---

PDF der Druckfassung aus Sezession 64 / Februar 2015

War Mar­tin Heid­eg­ger mit Sein und Zeit (1927) nicht zuletzt als Schöp­fer einer eigen­wil­li­gen, schwer zugäng­li­chen Phi­lo­so­phen­spra­che her­vor­ge­tre­ten, so soll­te er in der frü­hen Nach­kriegs­zeit auch ein­gän­gi­ge­re Wor­te mit der schlich­ten Kraft des Zuspruchs fin­den. In Auf­sät­zen wie Bau­en Woh­nen Den­ken (1951) oder Der Feld­weg (1953) medi­tier­te er in so behut­sa­men und erbau­li­chen Wen­dun­gen über jenes ver­trau­te und wohl­ver­or­te­te Eige­ne, wel­ches den geschla­ge­nen Deut­schen abhan­den gekom­men war, daß der aus dem Exil zurück­ge­kehr­te Theo­dor W. Ador­no arg­wöhn­te, hin­ter Heid­eg­gers restau­ra­ti­ver Boden­stän­dig­keit laue­re noch immer die alte faschis­ti­sche Bluts­ge­bun­den­heit. Über Ador­nos wirk­mäch­ti­gen Pole­mik gegen die­sen Jar­gon der Eigent­lich­keit (1964), wie ihn zumal das geis­ti­ge Jus­te Milieu der Ade­nau­er­zeit zu pfle­gen schien, geriet all­mäh­lich in Ver­ges­sen­heit, daß der Denk­weg Heid­eg­gers »eigent­lich« vom Ort­lo­sen und Abgrün­di­gen sei­nen Aus­gang genom­men und ihn wäh­rend des Drit­ten Rei­ches in ein inne­res Exil geführt hatte.

Gewiß hat­te Heid­eg­ger schon vor sei­ner auf­trump­fen­den Rek­to­rats­re­de (1933) die »Boden­stän­dig­keit« als Vor­aus­set­zung für das Wesen der Wahr­heit (1930) betrach­tet, sofern die­se sich stets »auf dem Boden der Hei­mat« offen­ba­re. Als­bald aber fand sich der uner­müd­li­che Wahr­heits­su­cher auf Holz­we­gen (1935–46) wie­der, aus deren unheim­li­chem Denk­di­ckicht es kein Zurück mehr gab. Immer­zu Unter­wegs zur Spra­che (1950–1959), sah Heid­eg­ger im Weg selbst das Ziel und ernann­te die Spra­che zum »Haus des Seins«, denn das stäh­ler­ne Gehäu­se des »Gestells« bot kei­ne Hei­mat mehr, und das die Welt umgrei­fen­de »Geviert« lag noch in wei­ter Fer­ne. So wirk­te in der dop­pel­ten Grund­be­we­gung die­ses Den­kens, längst unbe­wohn­bar gewor­de­ne Orte zu ver­las­sen, um eine Neu­ver­or­tung erst wie­der in dem hoch­ge­le­ge­nen »Gebir­ge des Seyns« zu wagen, immer auch eine entor­ten­de, auf­lö­sen­de Kraft, die sich zu ver­selb­stän­di­gen droh­te, als das »Seyn« in einem rein geschicht­li­chen »Ereig­nis« auf­zu­ge­hen schien.

Aller­dings waren die Wei­chen für eine Ver­zeit­li­chung der Seins­fra­ge bereits in Sein und Zeit gestellt wor­den. Um über die im tech­ni­schen Zeit­al­ter sich voll­enden­de Ver­räum­li­chung des meta­phy­si­schen Seins­ver­ständ­nis­ses hin­aus­zu­ge­lan­gen, setz­te Heid­eg­ger in sei­nem frag­men­ta­ri­schen Haupt­werk zu dem küh­nen Ver­such an, das unver­bor­ge­ne »Sein« als »Zeit« aus­zu­le­gen. Was er hier nur fun­da­men­tal­on­to­lo­gisch vor­zeich­nen konn­te, mal­te er in spä­te­ren Wer­ken dann seins­ge­schicht­lich aus: wie das Sei­en­de in der grie­chi­schen Anti­ke noch als gelas­se­ne »Anwe­sen­heit« einer behar­ren­den Sub­stanz erfah­ren wur­de, in der euro­päi­schen Neu­zeit bereits als »Vor­stel­lung« eines zeit­lo­sen Sub­jekts auf­trat und im pla­ne­ta­ri­schen Zeit­al­ter der Tech­nik schließ­lich als ver­füg­ba­rer »Bestand« in Stel­lung gebracht wur­de. Um so ent­schlos­se­ner such­te Heid­eg­ger den Nach­weis zu erbrin­gen, daß die­se an ihrem End­punkt ange­kom­me­ne Seins­ver­ges­sen­heit vom Dasein her über­wun­den wer­den kön­ne, denn das »Sein« die­ses »Da« war kein ding­lich »Vor­han­de­nes« oder zeug­haft »Zuhan­de­nes«, son­dern eine grund- und ort­lo­se, sich selbst zei­ti­gen­de »Exis­tenz«. Vor die­sem Hin­ter­grund konn­te Heid­eg­ger in sei­nen gro­ßen Vor­le­sun­gen zur Meta­phy­sik (1929/30) und zu Pla­ton (1931/32) hero­isch ver­mel­den, das nach­me­ta­phy­si­sche Den­ken wer­de »das Gegen­teil aller Beru­hi­gung und Ver­si­che­rung« bie­ten, näm­lich alle phi­lo­so­phi­schen und lebens­welt­li­chen Gewiß­hei­ten »ver­flüs­si­gen« und im »Wir­bel der Fra­gen« auf­lö­sen, um die epo­cha­le »Erfah­rung des Unzu­hau­se« zu vertiefen.

Ein wah­res Erwe­ckungs­er­leb­nis war die­ses exis­ten­ti­el­le Phi­lo­so­phie­ren für Jean-Paul Sart­re, des­sen frü­hes Haupt­werk, Das Sein und das Nichts (1943), Heid­eg­ger zunächst »von einem so unmit­tel­ba­ren Ver­ste­hen mei­ner Phi­lo­so­phie beherrscht (fand), wie es mir noch nir­gends begeg­net ist.« Wenn er gleich­wohl in sei­nem spä­te­ren Brief über den »Huma­nis­mus« (1949) Sar­tres »Exis­ten­tia­lis­mus« schroff zurück­wei­sen soll­te, so nicht nur, weil die­ser in Paris als enga­gier­te Résis­tance-Phi­lo­so­phie in Mode gekom­men war, son­dern vor allem des­halb, weil Heid­eg­ger sich mitt­ler­wei­le auch von sei­nem eige­nen »exis­ten­zia­len Solip­sis­mus«, durch den er vor­mals zu sei­nem natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Enga­ge­ment ver­lei­tet wor­den war, als einer Spät­form des meta­phy­si­schen Sub­jek­ti­vis­mus abge­kehrt hat­te. Zur Iro­nie der fran­zö­si­schen Wir­kungs­ge­schich­te Heid­eg­gers gehört jedoch auch, daß er einer jün­ge­ren Phi­lo­so­phen­ge­ne­ra­ti­on, die sich von der über­mäch­ti­gen Auto­ri­tät Sar­tres zu befrei­en such­te, gera­de als Den­ker der »Keh­re« höchst will­kom­men war. Jac­ques Lacan, Michel Fou­cault, Gil­les Deleu­ze und Fran­çois Lyo­tard grif­fen mit zuwei­len fri­vo­ler Leicht­fer­tig­keit Heid­eg­gers Kri­tik des Huma­nis­mus und Sub­jek­ti­vis­mus auf, um ihren post­struk­tu­ra­lis­tisch-post­mo­der­nen Kon­zep­tio­nen eine phi­lo­so­phi­sche Serio­si­täts­be­glau­bi­gung zu verschaffen.

Die Rol­le des wür­di­gen Schü­lers durf­te allein Jac­ques Der­ri­da für sich rekla­mie­ren, der mit gro­ßem Ernst dort wei­ter­dach­te, wo des Meis­ters Den­ken zu meta­phy­si­schem Still­stand gekom­men schien. Immer­hin stell­te Der­ri­das »decon­s­truc­tion« zunächst nur eine fran­zö­si­sche Über­set­zung jener deut­schen »Destruk­ti­on« dar, wel­cher Heid­eg­ger die Geschich­te der Onto­lo­gie aus­set­zen woll­te. Als heim­li­cher Vor­den­ker einer zeit­ge­mä­ßen Schrift­phi­lo­so­phie aber muß­te ihm Heid­eg­ger spä­tes­tens nach sei­ner Wen­de zur Spra­che impo­nie­ren, die er selbst­re­fe­ren­ti­ell nur noch sich selbst spre­chen und dabei unver­nehm­ba­re Schrift­spu­ren auf­schei­nen ließ, in denen sich eine nach­me­ta­phy­si­sche Lek­tü­re der Ver­nunft ankün­dig­te. In sei­nem Auf­satz Logos (1951) nahm Heid­eg­ger pro­gram­ma­tisch Abstand von einer Meta­phy­sik, wel­che die Spra­che von Anbe­ginn »von der Ver­laut­ba­rung her« vor­ge­stellt hat­te, eben »als Laut und Stim­me, pho­ne­tisch«. In der Tat hat­te schon Pla­ton gelehrt, die Wahr­heit las­se sich nicht im geschrie­be­nen Wort, son­dern nur in gespro­che­ner Rede ver­mit­teln, und auch Pau­lus woll­te den »toten Buch­sta­ben« des jüdi­schen Geset­zes durch den »leben­di­gen Geist« des jesu­a­ni­schen Wor­tes wie­der­erwe­cken. So ging aus dem Zusam­men­spiel von Pla­to­ni­scher Onto­lo­gie und Pau­li­ni­scher Theo­lo­gie jene abend­län­di­sche »Onto-Theo-Logie« her­vor, wel­che auf der Ent­wer­tung der Schrift zu einer bloß nach­träg­li­chen, mate­ri­el­len Reprä­sen­ta­ti­on der ideel­len Prä­senz der Stim­me beruh­te. Die­ser meta­phy­si­schen Hege­mo­nie einer von ihrer Sinn­fül­le und Seins­nä­he durch­drun­ge­nen »pho­né« stell­te sich Heid­eg­ger ent­ge­gen, indem er das »im legein als lesen wesen­de Spre­chen der Spra­che weder von der Ver­laut­ba­rung, noch vom Bedeu­ten her« bestimmt wis­sen woll­te – ursprüng­lich sei der »Logos« die »legen­de Lese und nur dieses«.

Frag­los hat­te Heid­eg­ger mit die­ser ety­mo­lo­gi­sie­ren­den Les­art des abend­län­di­schen Logos Der­ri­das Dia­gno­se des »Logo­zen­tris­mus« als eines »Pho­no­zen­tris­mus« im Kern bereits vor­weg­ge­nom­men. In sei­nem grund­le­gen­den Werk Gram­ma­to­lo­gie (1967) zog Der­ri­da indes­sen auch sprach­wis­sen­schaft­li­che Stu­di­en über hie­ro­gly­phi­sche und ideo­gra­phi­sche Schrift­sys­te­me her­an, die es ihm erlaub­ten, die meta­phy­si­sche Potenz der pho­ne­ti­schen Schrift noch deut­li­cher her­aus­zu­ar­bei­ten: Nur hier wer­de beim laut­lo­sen Lesen eine »inne­re Stim­me« stets mit­ge­hört, wel­che – mehr noch als das »Sich-spre­chen-Hören« der ver­lau­ten­den Rede – das Phan­tas­ma einer raum­grei­fend-zei­tent­ho­be­nen Selbst­ge­gen­wart des Logos aus sich her­vor­brin­ge. Der­ri­das Abkehr von die­ser wort­ge­wal­ti­gen, aber stim­men­hö­ren­den Meta­phy­sik in Rich­tung auf eine schrift­kun­di­ge und lese­freu­di­ge Gram­ma­to­lo­gie war jedoch vor allem durch die struk­tu­ra­lis­ti­sche Lin­gu­is­tik Fer­di­nand de Sauss­u­res ange­regt wor­den, der die Bedeu­tung sprach­li­cher Zei­chen weder aus dem Sprech­akt (»paro­le«) noch aus einer außer­sprach­li­chen »Sache selbst«, son­dern aus­schließ­lich aus ihrer dif­fe­ren­ti­el­len Abgren­zung von­ein­an­der inner­halb eines Sprach­sys­tems (»lan­gue«) erklär­te. Nach sol­chen wis­sen­schaft­li­chen Vor­ar­bei­ten fand Der­ri­da fol­ge­rich­tig zu Heid­eg­ger, wel­cher sei­ner­seits der phi­lo­so­phi­schen Fra­ge nach dem »Sinn von Sein« die seman­ti­sche Fra­ge nach dem Sinn des Wor­tes »Sein« vor­an­ge­stellt hat­te, um sodann durch die gra­phi­sche Ver­frem­dung auch ande­rer zen­tra­ler Begrif­fe deren seman­ti­sche Iden­ti­tät zu ent­stel­len und die Buch­sta­ben in ihrer poly­se­mi­schen Dif­fe­ren­tia­li­tät auf eige­ne Rech­nung arbei­ten zu las­sen. So wei­te­te sich die »Exis­tenz« als Daseins­voll­zug zur »Ek-sis­tenz« als Ste­hen in der Seins­lich­tung; das eigent­li­che »Sein« wan­del­te sich zum Ereig­nis des »Seyns«; und jene kreuz­wei­se Durch­strei­chung des Seins, die von dem meta­phy­sisch gesät­tig­ten Grund­be­griff der Onto­lo­gie nur eine nich­ti­ge Spur übri­gließ, nötig­te Heid­eg­ger sogar zur Zurück­nah­me der »onto­lo­gi­schen Dif­fe­renz« in jenes »Spiel« von Iden­ti­tät und Dif­fe­renz (1954), wel­ches Der­ri­da als »Sprach­spiel« einer sich ent­zie­hen­den »Urschrift« lesen sollte.

Der Gram­ma­to­lo­ge zog nur die letz­ten Kon­se­quen­zen aus jener von Heid­eg­ger im Huma­nis­mus-Brief in Angriff genom­me­nen »Befrei­ung der Spra­che aus der Gram­ma­tik«, als er das Zei­chen »Sein« nicht mehr als sinn­erfüll­tes »Signi­fi­kat« her­aus­stell­te, son­dern als sinn­lee­ren »Signi­fi­kan­ten« in das dif­fe­ren­ti­el­le Ver- und Ent­ber­gungs­spiel der Heid­eg­ger­schen Tex­tur zurück­nahm, die schon von sich her durch ihren lite­ra­ri­schen Reso­nanz­bo­den aus Kon­no­ta­tio­nen und Asso­zia­tio­nen die phi­lo­so­phi­sche Seins­fra­ge unter­lief und jede sub­stan­ti­el­le Ant­wort zu einem meta­pho­ri­schen Schein ver­flüch­tig­te. Mit sei­nem berüch­tig­ten Kunst­aus­druck der »dif­fé­rance« ver­wies Der­ri­da auf die­se semio­lo­gisch-onto­lo­gi­sche Dop­pel­sin­nig­keit eines tex­tu­el­len Aus­dif­fe­ren­zie­rungs­pro­zes­ses, wel­cher mit der »Unter­schei­dung« von Zei­chen auch den »Auf­schub« des Seins bewirkt. Indem er sich in Die Schrift und die Dif­fe­renz (1967) und wei­te­ren Rand­gän­gen der Phi­lo­so­phie (1972) als schein­bar nihi­lis­ti­scher Dekon­struk­ti­vist zu der unhin­ter­geh­ba­ren Viel­deu­tig­keit und Zer­streut­heit einer »Urschrift« bekann­te, deren frei flot­tie­ren­de Zei­chen von kei­nem Sein mehr zeug­ten und zuwei­len nur höhe­ren Unsinn erzeug­ten, setz­te sich Der­ri­da bewußt in Wider­spruch zu nai­ven Her­me­neu­ti­kern, deren meta­phy­si­sches Seku­ri­täts­be­dürf­nis sie wei­ter­hin nach sta­bi­len Sinn­ge­hal­ten und Seins­be­zü­gen von Tex­ten fahn­den ließ.

Im geis­tes­ge­schicht­li­chen Urteil bedeu­tet dies, daß etwa Hans-Georg Gada­mer mit sei­ner her­me­neu­ti­schen Onto­lo­gie in eine christ­lich-pla­to­ni­sche Deu­tung Heid­eg­gers zurück­fiel, wäh­rend Der­ri­da eine jüdi­sche Aus­le­gungs­tra­di­ti­on fort­schrieb, der zufol­ge die ver­schlüs­sel­te Tho­ra sich erst durch die prag­ma­ti­schen Kom­men­ta­re des Tal­mud oder die mys­ti­schen Spe­ku­la­tio­nen der Kab­ba­la erschließt. Jür­gen Haber­mas jeden­falls woll­te Der­ri­da einen »Platz in der jüdi­schen Apo­loge­tik« anwei­sen, als er in der »dif­fé­rance« den ton­lo­sen hebräi­schen Buch­sta­ben »Aleph« wie­der­erkann­te, in des­sen seman­ti­scher Unbe­stimmt­heit die gan­ze gött­li­che Ver­hei­ßung beschlos­sen liegt. Ein hal­bes Jahr­hun­dert zuvor hat­te frei­lich der natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Phi­lo­soph Erich Jaensch schon Heid­eg­ger »jüdisch-tal­mu­di­sche Rabu­lis­tik« vor­ge­hal­ten und ihn als »Füh­rer einer jüdi­schen Cli­que« gebrand­markt. Anders aber als Heid­eg­gers unmit­tel­ba­rer jüdi­scher Schü­ler­kreis, der in sei­nem geis­ti­gen Habi­tus durch­weg deutsch blieb, soll­te Der­ri­da in sei­ner Schrift Vom Geist (1987) gera­de den jüdi­schen Zug in Heid­eg­gers Den­ken als mil­dern­den Umstand her­vor­he­ben. Heid­eg­gers anfäng­li­che Begeis­te­rung für den Natio­nal­so­zia­lis­mus zeu­ge weni­ger von einer Anfäl­lig­keit für völ­ki­sches Den­ken als von einem Rück­fall in eine meta­phy­si­sche Denk­wei­se: Hat­te er den Impe­ra­tiv der »Ras­se« zwar stets ver­wor­fen, so such­te er nach 1933 doch die vor­mals gleich­falls ver­wor­fe­ne Auto­ri­tät des »Geis­tes« durch die Ent­fer­nung der Anfüh­rungs­zei­chen wie­der­her­zu­stel­len. Durch die­se Ver­geis­ti­gung des Natio­nal­so­zia­lis­mus, die indi­rekt des­sen Ras­sis­mus nobi­li­tier­te, habe Heid­eg­ger die von ihm selbst »in Gang gesetz­te« dekon­stru­ie­ren­de Bewe­gung wie­der »gedros­selt«.

In die­ser gleich­sam »jüdi­schen Ver­schär­fung« der auf Ver­zei­ti­gung und Ver­flüs­si­gung zie­len­den Meta­phy­sik­kri­tik Heid­eg­gers kün­dig­te sich bereits Der­ri­das ethi­sche Wen­de an, die schließ­lich durch sei­ne skep­tisch-säku­la­re Cir­con­fes­si­on (1991) zum »Jude­s­ein« besie­gelt wur­de. Nach Maß­ga­be einer Poli­tik der Freund­schaft (1994) wand­te sich Der­ri­da zuneh­mend Emma­nu­el Levi­n­as zu, des­sen theo­lo­gi­sche Ethik des »Ande­ren« die phi­lo­so­phi­sche Onto­lo­ge des »Eige­nen« über­win­den woll­te, aber auch Wal­ter Ben­ja­min, von des­sen mar­xis­tisch gewen­de­ter jüdi­scher Mys­tik er einen »Mes­sia­nis­mus ohne Mes­si­as« zurück­be­hielt. Heid­eg­ger wie­der­um zeig­te sich seit sei­nen Bei­trä­gen zur Phi­lo­so­phie (1936–38) sicht­lich um eine nach­christ­li­che Wie­der­be­le­bung der deut­schen Mys­tik bemüht. Erhoff­te er den »Vor­bei­gang des letz­ten Got­tes« anfangs noch als ein geschicht­li­ches »Ereig­nis«, so näher­te er sich mit dem »Geviert« aus »Erde und Him­mel, Gött­li­chen und Sterb­li­chen« end­lich wie­der einer »Ort­schaft« an, in der sich als »Nach­bar des Seins« woh­nen ließ.

Die­ser deutsch-jüdi­sche Gegen­satz zwi­schen Heid­eg­ger und Der­ri­da, wie er am Ende ihrer Denk­we­ge zuta­ge trat, zeig­te sich dage­gen in ihren Lebens­we­gen von Anbe­ginn: hier der im länd­lich-katho­li­schen Süd­deutsch­land auf­ge­wach­se­ne Ale­man­ne, der auch spä­ter gern in der Pro­vinz blieb und sich nur in sei­ner Hüt­te von Todt­nau­berg hei­misch fühl­te – dort der in Alge­ri­en gebo­re­ne fran­zö­si­sche Jude, der die »Ver­wir­rung der Iden­ti­tät« zu sei­nen prä­gen­den Urer­leb­nis­sen zähl­te, und des­sen rast­lo­ses Schrei­ben, Leh­ren und Rei­sen ihn ein­ge­stan­de­ner­ma­ßen zu einem »jüdi­schen Noma­den« wer­den lie­ßen. Aller­dings teil­ten bei­de Den­ker das Schick­sal, zu Leb­zei­ten in ihren Hei­mat­län­dern umstrit­ten geblie­ben und vor­nehm­lich im Aus­land gefei­ert wor­den zu sein. Was für Heid­eg­ger Frank­reich war, wur­den für Der­ri­da die Ver­ei­nig­ten Staa­ten, wo Paul de Man die dekon­struk­ti­ve Metho­de im Lite­ra­ry Cri­ti­cism durch­setz­te, bevor sie dort all­mäh­lich zu einer lite­ra­ri­schen Manier erstarr­te. Gewiß hat­te schon Der­ri­da selbst durch das noto­ri­sche Set­zen von distan­zie­ren­den Anfüh­rungs­zei­chen über pro­ble­ma­ti­sche Begrif­fe einen »Jar­gon der Unei­gent­lich­keit« geschaf­fen, wie er sich in den zeit­ge­nös­si­schen Kul­tur­wis­sen­schaf­ten entro­pisch aus­brei­ten soll­te. Doch erst jene der alt­eu­ro­päi­schen Geis­tes­tra­di­ti­on voll­ends ent­frem­de­ten, nur noch durch Cul­tu­ral, Post­co­lo­ni­al und Gen­der Stu­dies kon­di­tio­nier­ten Dekon­struk­ti­ons­po­pu­lis­ten unse­rer Tage haben Der­ri­das letzt­lich apo­li­ti­sche Sub­ver­si­on zu einer unfrei­wil­li­gen Selbst­par­odie der Poli­ti­cal Cor­rect­ness ver­kom­men lassen.

Einer ide­al­ty­pi­schen Unter­schei­dung zufol­ge hebt das jüdi­sche Den­ken auf »Entor­tung« ab und steht somit buch­stäb­lich im Zei­chen der »U‑topie«, wohin­ge­gen der deut­sche Geist stets an den rech­ten »Ort« gebun­den bleibt. Daß sich die­ser »Topos« für Heid­eg­ger jedoch zumeist als blo­ßer »Gemein­platz« her­aus­stell­te, könn­te die Radi­ka­li­tät erklä­ren, mit der er die gesam­te Topo­lo­gie der abend­län­di­schen Geis­tes­welt abräum­te, bis sei­ne Tem­po­ra­li­sie­rung der Seins­fra­ge selbst in den dekon­struk­ti­ven Beschleu­ni­gungs­wir­bel unse­rer »Jetzt­zeit« hin­ein­ge­riet. Immer­hin barg schon Heid­eg­gers pas­to­ra­les Bild vom Men­schen als »Hir­ten des Seins« einen meta­phy­si­schen Nomaden.

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