Zu den seltsamen Widersprüchen der Gegenwart gehört es, daß ausgerechnet eine ins Ich verliebte, atomistische Gesellschaft ständig das Wort »wir« im Munde führt. In der ersten Person Plural, regelmäßig verwoben mit dem besitzanzeigenden »unser« und häufig garniert mit so schönen Worten wie »gemeinsam«, »vereint« oder »zusammen«, intoniert man die vermeintlichen Wirwerte, nach deren Pfeife die vielen Ichs zu tanzen haben. Man spricht von »unserem Toleranzverständnis«, beklagt einen »Angriff auf unsere Demokratie« und definiert »unser Verhältnis« zu Rußland, zu den USA oder zum Islam. Mittels eines allen und jeden umarmenden pluralis majestatis wird von der elektronischen Kanzel verkündet, »wir« müßten das begrüßen und jenes ablehnen, »wir« müßten diesen Anfängen wehren und für jene Ziele aufstehen, usw. usf.
Diese stillschweigende Vereinnahmung des Bürgers für Positionen, die er häufig noch nicht einmal richtig kennt, geschweige denn befürwortet, kann als außerordentlich erfolgreiche Politikstrategie bewertet werden. Sie nutzt die Gefühlswelt einer Massengesellschaft aus, die – nicht nur auf ökonomischem Gebiet – immer mehr von den egomanischen Fliehkräften der Moderne gekennzeichnet ist, sich aber in ihren seelischen Tiefenschichten noch nicht von gemeinschaftsorientierten Strukturen verabschiedet hat. Das in der Öffentlichkeit suggestiv inszenierte Wir verdankt seine Durchschlagskraft also letztlich einer Art kollektiven Phantomschmerzes: Menschen, die keine Lieder mehr zusammen singen, aber noch zu spüren scheinen, daß ihnen die materialistische Ichwelt von heute eine wesentlichen Facette ihres Menschseins vorenthält, neigen zu politischen und kulturellen Inhalten, die in einem solchen gemeinschafts(t)imulierenden Design präsentiert werden.
Dabei scheut das »Gezücht unserer konsensitiv geschlossenen Öffentlichkeit« (Botho Strauß) auch nicht davor zurück, unterschwellig an den – horribile dictu – verfemten Geist der Volksgemeinschaft zu appellieren, wenn es beim Transport liberalistischer Lebenslügen eng zu werden droht. Nicht anders kann die bemerkenswerte Hartnäckigkeit erklärt werden, mit der beispielsweise in den unsäglichen Talkshows Interessengleichheit im (Wahl-)Volk unterstellt wird, wo keine (mehr) besteht. Es ist jedenfalls schlicht lächerlich, in bezug auf die Lebensentwürfe zum Beispiel eines altmodisch-heterosexuellen Ehepaars, das seine deutschen Kinder auf dem Lande großzieht, einerseits und einer kinderlos-modernen, homosexuellen Einzelexistenz in der Multikulti-Großstadt andererseits von einer identischen oder auch nur ähnlichen Erwartungshaltung an das, was ein Staat leisten kann oder soll, auszugehen. Das ficht aber die Matadore der medialen Sinnvermittlung nicht an. Nach dem Motto »Souverän ist, wer den Sachverhalt definiert« (Helmut Schelsky) werden aggressive Minderheitspositionen gegen eine schweigende Mehrheit in Stellung gebracht. Und wer schweigt, scheint zuzustimmen. Dieser Satz aus dem römischen Recht (Qui tacet consentire videtur) gilt auch und gerade in der »Zivilgesellschaft«, deren Erfolgsgeheimnis nicht zuletzt darin besteht, daß sie die Arena des öffentlich inszenierten, in der Regel abgekarteten Meinungskampfes als Sieger verläßt.
Diese Triumphe vermögen aber nicht darüber hinwegzutäuschen, daß es sich bei der Vorspiegelung einer Wir-Orientierung ich-zentrierter Interessen um eine strukturelle Lüge, einen gigantischen politischen Betrug handelt. Denn jede Gemeinschaftsausrichtung setzt ein Minimum an Homogenität im Volk voraus. Und genau diese Gleichartigkeit oder zumindest Ähnlichkeit der Herkunft, der Lebensverhältnisse, der Gesittung und der kulturellen Daseinsform – früher sprach man von einem Kanon – ist in den liberalistischen Stahlgewittern des vergangenen Halbjahrhunderts nach und nach verloren gegangen. Entstanden ist ein fragmentiertes Nichtgemeinwesen, eine entseelte Billardkugelwelt, in der sich die Menschen nur noch berühren, um sich sogleich wieder abzustoßen. Entstanden ist eine Gesellschaft, deren verkopfte Individuen vergessen haben, was in der deutschen Philosophie von Herder bis Rudolf Steiner, aber auch im Werke Goethes oder Stifters noch als selbstverständlich vorausgesetzt wurde: das Aufeinanderbezogensein von Ich und Wir, die durch keinen Mißgriff in die sozialwissenschaftliche Mottenkiste zu leugnende Tatsache, daß die Freiheit des Einzelnen als denkender und handelnder Mensch gerade nicht eingeschränkt wird, wenn sie auf ein organisches Ganzes bezogen ist.
Ob dieses Ganze nun familiärer, ethnischer oder religiöser Natur ist, ist zunächst zweitrangig. Wesentlich ist, daß die – im Libertärismus unserer Tage fröhliche Urständ feiernde – Idee von allein auf sich gestellten, frei schwebenden Individuen, welche mit anderen nur zeitlich begrenzte Kosten-Nutzen-Verbindungen eingehen, die menschliche Natur und die Sehnsucht des Einzelnen nach einer Rückverbundenheit mit der Gemeinschaft verkennt. Die Vorstellung, menschliche Beziehungen alleine nach dem Schema eines juristischen Privatvertrages ordnen zu wollen, ist eine klassische Wohlstandsidee. Sie gründet in dem Irrtum, daß ein höherer ökonomischer Lebensstandard dank des allgegenwärtigen Schmierstoffes Geld in der Lage sei, gewachsene soziale Systeme zu ersetzen. Den Libertären, deren geistige Köpfe – von Hoppe bis Hayek – man selten ohne Gewinn liest, muß man der Fairneß halber zugute halten, daß es ihnen um einen politischen Gegenentwurf zu den in der Tat abschreckenden und den Gemeinschaftsgedanken pervertierenden Sozialismen aller Couleur geht. Diese antithetische, im Lichte des 20. Jahrhunderts leicht nachvollziehbare Position bleibt indes auf halber Strecke stecken: Denn der Befreiung des Individuums aus den kollektivierenden und die schöpferische Kraft des Einzelnen unterdrückenden Zwangssystemen (»Freiheit wovon«) muß ein Ziel folgen, das sich das Individuum setzt (»Freiheit wozu«) – über die ökonomischen Hausaufgaben hinaus und jenseits der in der Regel für sich und andere wenig bekömmlichen Alleinfixierung auf die eigene Ichwelt.
Es gehört zu den originären geistigen Leistungen der deutschen Romantik, daß sie der in der Aufklärung entstandenen und durch die Französische Revolution verschärften Vertragstheorie ihren Geltungsanspruch beim Zustandekommen und dem Erhalt organischer menschlicher Beziehungen bestritt. Naturhaft entstandene Sozialbeziehungen wie Ehe, Familie, Stamm, Volk seien nicht allein über die Vernunft und noch weniger über gewillkürte juristische Konstruktionen in ihrem Bedeutungsgehalt zu erfassen. Der maßgeblich von Rousseau kreierte Begriffsgegensatz von Individuum und Gesellschaft müsse überwunden werden zugunsten eines fruchtbaren Spannungsverhältnisses von Persönlichkeit und Gemeinschaft. Bestärkt durch dieses Renouveau der Gemeinschaft erwuchs im Kampf gegen Napoleon, in den Befreiungskriegen, die Idee der Nation als einer konkreten, durch dieselbe Sprache und Kultur im Laufe der Geschichte organisch gewachsenen Gemeinschaft. Ein Jahrhundert später befestigte Walter Flex, geprägt von dem großen Zusammenhalt der Deutschen im Ersten Weltkrieg, sein Bekenntnis, »daß die Menschheitsentwicklung ihre für das Individuum und seine innere Entwicklung vollkommenste Form im Volk erreicht, und daß der Menschheitspatriotismus eine Auflösung bedeutet, die den in der Volksliebe gebundenen persönlichen Egoismus wieder frei macht und auf seine nackteste Form zurückschraubt.«
Kurz darauf definierte Oswald Spengler Nationen als »Völker im Stil einer Kultur«, die durch »ein starkes Gefühl des ›Wir‹« zusammengeschlossen seien. Othmar Spann schließlich, der in der Auflösung aller natürlichen Gemeinschaftsstrukturen die Tragödie der Moderne sah, umschrieb mit seinem Gegenbegriff einer schöpferischen »Gezweiung«, daß sich das Leben des Individuums nur in bezug auf andere entfalten könne. Beobachtet man die über zweihundertjährige Zeitspanne der Industrialisierung, deren Räderwerk – neben der Herstellung weniger sinnvoller und vieler unnützer Dinge – den Staub der Individuen, den Sandhaufen der Masse erzeugt hat, wird deutlich, worin die Gründe für den ahistorischen, nach einem »Ende der Geschichte« lechzenden Geist unserer Zeit zu suchen sind: in einer Zerbröselung jeglicher naturwüchsigen Sozialsysteme zugunsten des vereinzelten, seiner Bezüge zu überindividuellen Ordnungen beraubten Konsummenschen der Moderne.
Ein solchermaßen auf das eigene Ich zurückgeworfenes Einzelwesen existiert ganz jenseits von Geschichte und Zukunft, es lebt gnadenlos in der Gegenwart; es grast das Leben nach seinen Ego-kompatiblen Genußchancen ab und wähnt, hierdurch dem Gipfel des Glücks näher gekommen zu sein. An Versuchen, aus dieser Weltanschauung à la Jeremy Benthams Topos von der greatest happiness of the greatest number politische Funktionssysteme zu zimmern, hat es in der Vergangenheit nicht gefehlt. Gleichwohl hat die innere Leere des neuzeitlichen homo oeconomicus beständig zugenommen. Das immer schneller rotierende Hamsterrad der Konsumgesellschaft kann indes die seelische Wüste, die im Innern des materialistisch ausgerichteten Menschen immer weitere Bereiche erobert, nicht verdecken. Hinter der Fassade der Äußerlichkeit kann man bei vielen Zeitgenossen nicht nur eine beispiellose Hohlheit, sondern auch still ertragene Schmerzsymptome über den Zerfall einer gewachsenen Ordnung erkennen.
Wenn es gelingen sollte, diesen heute nicht mehr nur drohenden, sondern wesentliche Lebensbereiche beherrschenden Nihilismus zu überwinden, ist dies ohne eine Renaissance der Gemeinschaft kaum denkbar. Entgegen der Einfalt systemerhaltenwollender Verdächtigungsmechanismen geht es dabei nicht darum, den ideologieanfälligen Einzelnen der Kälte der Moderne zu entziehen und am sozialromantischen Feuer zu erwärmen, um ihn anschließend einer neuen, vorzugsweise »gefährlichen« Zwangskollektivierung zuzuführen. Ziel muß es vielmehr sein, überhaupt erst einmal wieder ein Bewußtsein dafür zu schaffen, daß es im Leben noch anderes und schöneres gibt als die Befriedigung von Interessen versprengter Individuen. Daß »die stärksten und dauerndsten menschlichen Vergemeinschaftungen … nicht auf organisatorischer, zweckbewusster Interessenverbindung (beruhen), sondern … einen organischen, naturhaften Kern (haben)« (Hermann Heller); daß die Eingebundenheit des Menschen in ein Ganzes seinem eigenen Wesen jene Erfüllung und Entfaltungsmöglichkeit eröffnet, die ihm der Ichkult und »das vernutzte Leben des Westens« (Hans-Jürgen Syberberg) vorenthalten; daß Menschen, deren Leben von Pflicht und Verantwortung geprägt ist, wesentlich angenehmere Zeitgenossen zu sein pflegen als jene Figuren, die – vor Ansprüchen, Rechten und Genußsüchten nur so triefend – im Gefängnis des Narzißmus ihre Tage fristen; daß Selbstverlorenheit und Dienst am anderen glücklicher machen können als die Leerung einer Flasche Château Pichon-Lalande-Comtesse; daß die vielen rätsel- und zauberhaften Geheimnisse des Lebens gipfeln in jenem »wunderbaren Geheimnis, in dem die Menschen auf einander bezogen sind« (Hugo von Hofmannsthal); daß das Talent zur Berechnung, zur Bestimmung des rechten Maßes zwischen Leistung und Gegenleistung überall dort vonnöten ist, wo es um Handel und Wandel geht, wo der spitze Bleistift gefragt ist, daß aber organisch gewachsene Beziehungen, beispielsweise die Generationenreihe Großeltern-Eltern-Kinder, zerbrächen, würden sie von einer Koofmich-Gesinnung bestimmt. Daß der freie Geist überall hinweht, nur nicht in die übelriechenden »Mir-geht-nichts-über-mich«-Winkel des Anarcho-Liberalismus.
Es kann als besonders trauriges Beispiel der deutschen Seinsvergessenheit in der späten Bundesrepublik gelten, daß es heute ausgerechnet die Deutschen »mit ihrer grauenhaften Anpassungsfähigkeit« (Ernst Kantorowicz) sind, die auf dem langen westlichen Irrweg in die atomistische Sackgasse, auf der abschüssigen Bahn zum »narzisstisch gewordenen Allerwelts-Mensch der Gegenwart« (Michael Klonovsky), alle anderen Nationen zu übertrumpfen scheinen. Wenn eine solch anorganisch-zentrifugale Teilchengesellschaft wie die BRD dann noch von einem harmonisch-sympathischen Wir-Kostüm ummäntelt werden soll, ist der Gipfel politischer Desinformation erreicht. Dann sollte besonders aufmerksam hingeschaut und der Vereinnahmungsmaschinerie in die Speichen gegriffen werden. Vielleicht ist der Merksatz »Wer ›wir‹ sagt, will betrügen« etwas zu holzschnittartig, auf dem perfiden Medienterrain stimmt er aber fast immer; vor allem schärft er den Blick für das, worauf es bei der Wiedererlangung politischer Handlungsfähigkeit in besonderem Maße ankommt: auf die Entlarvung und Bekämpfung asozialer Minderheitsinteressen und die politische Transformation von der schweigenden zur handelnden Mehrheit, von einer stillen und bevormundeten Vielzahl von Einzelindividuen zu einer freien und sich selbst bestimmenden Nation, von einem falschen zu einem echten Wir.