Hiebe der Eigentlichkeit

Anläßlich einer abgebrochenen Autofahrt unter Regie des Rittmeisters von Eulenfeld, die an einem sonnig heißen Wiener Septembernachmittag der frühen 1920er Jahre eigentlich in den niederösterreichischen Badeort Kritzendorf hat führen sollen, beginnt der gewesene Major Melzer eigenständig zu denken. Auf dem Rücksitz eines roten Viersitzers, neben Frau Schlinger, einer anziehenden Blondine, plaziert, wird Melzer durch die rasante Fahrweise in den engen Gassen Wiens hin- und hergeworfen. Darüber, ebenso wie über sein bisheriges Leben sinnierend, geht Melzer auf, daß er sich stets in »irgendeine Gefangenschaft« habe hineinrufen lassen, in eine »Unselbständigkeit, in ein Weitergegeben-Werden von Umstand zu Umstand«. Melzer erkennt, sein Leben lang »mitgenommen worden« zu sein, »genau wie heute nachmittags im Automobil. Das alles erschreckte den Major gar sehr. Und so mußte er denn jene Augenblicke leiden, die niemandem erspart bleiben, der eigentlich gelebt hat: die tiefe Angst nämlich, nicht eigentlich gelebt zu haben. Man könnte sagen, daß damit immerhin ein bedeutender und neuer Schritt ins Leben getan sei.«

Anläß­lich einer abge­bro­che­nen Auto­fahrt unter Regie des Ritt­meis­ters von Eulen­feld, die an einem son­nig hei­ßen Wie­ner Sep­tem­ber­nach­mit­tag der frü­hen 1920er Jah­re eigent­lich in den nie­der­ös­ter­rei­chi­schen Bade­ort Krit­zen­dorf hat füh­ren sol­len, beginnt der gewe­se­ne Major Mel­zer eigen­stän­dig zu den­ken. Auf dem Rück­sitz eines roten Vier­sit­zers, neben Frau Schlin­ger, einer anzie­hen­den Blon­di­ne, pla­ziert, wird Mel­zer durch die rasan­te Fahr­wei­se in den engen Gas­sen Wiens hin- und her­ge­wor­fen. Dar­über, eben­so wie über sein bis­he­ri­ges Leben sin­nie­rend, geht Mel­zer auf, daß er sich stets in »irgend­ei­ne Gefan­gen­schaft« habe hin­ein­ru­fen las­sen, in eine »Unselb­stän­dig­keit, in ein Wei­ter­ge­ge­ben-Wer­den von Umstand zu Umstand«. Mel­zer erkennt, sein Leben lang »mit­ge­nom­men wor­den« zu sein, »genau wie heu­te nach­mit­tags im Auto­mo­bil. Das alles erschreck­te den Major gar sehr. Und so muß­te er denn jene Augen­bli­cke lei­den, die nie­man­dem erspart blei­ben, der eigent­lich gelebt hat: die tie­fe Angst näm­lich, nicht eigent­lich gelebt zu haben. Man könn­te sagen, daß damit immer­hin ein bedeu­ten­der und neu­er Schritt ins Leben getan sei.«

Hei­mi­to von Dode­rer (1896–1966), dem wir die Erzäh­lung über die Meta­mor­pho­se Mel­zers ver­dan­ken, hat mit die­ser Sze­ne eine Urer­fah­rung der Moder­ne beschrie­ben: Die Benut­zung des Auto­mo­bils als Meta­pher der Aus­lie­fe­rung an die Ver­hält­nis­se, das unfrei­wil­li­ge Gedrückt-Wer­den des Bei­fah­rers in die (wei­chen) Pols­ter, aber auch: die Bequem­lich­keit gefah­ren zu wer­den, das ange­neh­me Gefühl, nicht selbst am Steu­er sit­zen zu müs­sen oder gar zu lau­fen, die Rasanz und Ener­gie des Motors, die Auf­ga­be der Kon­trol­le zuguns­ten der Teil­ha­be an der Tech­nik. Dem die­sen Nach­mit­tag als Exem­pel sei­nes Daseins emp­fin­den­den Mel­zer genü­gen jedoch die Ver­lo­ckun­gen und Ver­spre­chun­gen des Fort­schritts nicht, nein, die­se schei­nen als Teil jener tota­len Maschi­ne, die ihn von sich selbst ent­fernt und ent­frem­det. Hat­te er zunächst das Mili­tär als Instanz des Gelebt-Wer­dens durch die Umstän­de iden­ti­fi­ziert, zeigt sich ihm nun­mehr die Tech­nik als Erwei­te­rung, in ihrer Sub­ti­li­tät und Dis­kre­ti­on letzt­lich ungleich wirkmächtiger.

Wer in den 1990er Jah­ren ein öster­rei­chi­sches Gym­na­si­um besuch­te, kennt Dode­rers Roman, zumin­dest dem Titel nach. Zur sel­ben Zeit stand auch ein ande­rer Roman auf dem Lehr­plan, der, ungleich bös­ar­ti­ger und zugleich simp­ler, das Gelebt-Wer­den durch die staats­tra­gen­den Insti­tu­tio­nen beschreibt: Der Unter­tan von Hein­rich Mann, erschie­nen ab 1914, in Buch­form 1918, also etwa vier­zig Jah­re vor der Strudl­hof­stie­ge. Der häß­li­che Deut­sche, avant le lett­re, erhebt hier sein Haupt als Kari­ka­tur, grob gezeich­net, unfä­hig zur Selbst­re­fle­xi­on, auf der Suche nach dem per­sön­li­chen Platz an der Son­ne. Der holz­schnitt­ar­ti­ge Ent­wurf der Figur, mei­len­weit ent­fernt von Dode­rers sub­til-lie­be­vol­ler Her­me­neu­tik, erschien (und erscheint) den Päd­ago­gen des jus­te milieu als her­vor­ra­gend geeig­net, die Kon­ti­nui­tät eines Typs vom Kai­ser­reich bis nach Hoyers­wer­da zu bewei­sen, womit eine der wich­tigs­ten didak­ti­schen Vor­aus­set­zun­gen zeit­ge­nös­si­scher Erzie­hung erfüllt ist.

Wäh­rend die Ent­wick­lung Mel­zers zum Men­schen das eigent­li­che The­ma des mul­ti­per­spek­ti­vi­schen Bil­dungs­ro­mans Dode­rers ist, besteht Manns ein­di­men­sio­na­ler Anti­bil­dungs­ro­man auf der Dar­stel­lung der aus­schließ­lich um sich selbst krei­sen­den Exis­tenz Diede­rich Heß­lings. Wäh­rend es bei Mel­zer um ein Erwa­chen aus der Unei­gent­lich­keit der Insti­tu­tio­nen geht, erfüllt sich Heß­lings Dämo­nie im Auf­ge­hen in der All-Gemeinheit.

Ent­schei­den­de Sta­ti­on auf dem Weg zum natio­na­lis­ti­schen Spie­ßer wer­den für Diede­rich die Ber­li­ner »Neu­teu­to­nen«, eine schla­gen­de Stu­den­ten­ver­bin­dung, deren Com­ment wie geschaf­fen erscheint für den rudi­men­tär ange­leg­te Cha­rak­ter Heß­lings. Dort kann er sei­ne kol­lek­ti­vis­ti­schen Nei­gun­gen (»Nicht Stolz oder Eigen­lie­be lei­te­ten Diede­rich: ein­zig sein hoher Begriff von der Ehre der Kor­po­ra­ti­on. Er selbst war nur ein Mensch, also nichts; jedes Recht, sein gan­zes Anse­hen und Gewicht kamen von ihr.«) befrie­di­gen, eben­so wie sado­ma­so­chis­ti­sche Macht­spie­le, zunächst als Leib­fuchs und dann als Fuchs­ma­jor, genießen.

Mit die­ser Milieuein­schät­zung hat Hein­rich Mann bereits im Jahr 1914 die sich bis heu­te nicht wesent­lich ver­än­der­te Kri­tik am stu­den­ti­schen Ver­bin­dungs­we­sen ent­wi­ckelt und vor­ge­ge­ben. Zahl­lo­se, meist wenig inspi­rier­te, dafür aber kennt­nis­ar­me Arti­kel oder (pseudo)wissenschaftliche Publi­ka­tio­nen sind seit­her zum The­ma Bur­schen­schaft (als pars pro toto) erschie­nen, letzt­lich als blo­ße Repro­duk­tio­nen der Bil­der Manns. Vor die­sem Hin­ter­grund wäre, neben­bei bemerkt, eine frucht­ba­re Pla­gi­ats­de­bat­te zu füh­ren, in wel­cher sich der Urtext in der ima­gi­na­tio eines Schrift­stel­lers fin­den ließe.

Daß die Lin­ke nicht seit jeher ein Pro­blem mit den exklu­si­ven Ritua­len deut­scher Stu­den­ten hat­te, zeigt die Mit­glied­schaft vie­ler Akteu­re der Sozi­al­de­mo­kra­tie in schla­gen­den Ver­bin­dun­gen; Tat­sa­che ist jedoch, daß die seit 1968 an den Uni­ver­si­tä­ten, in den Medi­en und der Poli­tik obsie­gen­de Klas­se nichts unver­sucht ließ und läßt, die waf­fen­stu­den­ti­sche Tra­di­ti­on zu dele­gi­ti­mie­ren. Trotz die­ser fun­da­men­ta­len, sich nun­mehr bereits über Jahr­zehn­te erstre­cken­den Kri­tik ist der Exitus in die­sem Fall nicht ein­ge­tre­ten, das Erbe erweist sich als zäh und dau­ernd – ein Ende des Wider­stan­des gegen die hege­mo­nia­le Lin­ke oder gar deren Sieg ist bis auf wei­te­res nicht in Sicht. Dies ist inso­fern bemer­kens­wert, als es sich bei der Men­sur um eine der letz­ten Tech­ni­ken deut­scher Eigen­art han­deln dürf­te, die einer glo­ba­li­sier­ten, west­lich-hedo­nis­ti­schen Ethik ent­ge­gen­steht und die sich aus Aspek­ten der Nütz­lich­keit oder Oppor­tu­ni­tät wohl kaum valid begrün­den ließe.

Anders als in den so oft repro­du­zier­ten Kli­schees set­zen sich jene wehr­haf­ten Bün­de in der Majo­ri­tät nicht aus den Söh­nen Ehe­ma­li­ger zusam­men: Auch Stu­den­ten ohne fami­liä­re Prä­gun­gen oder sons­ti­ge spe­zi­fi­sche Vor­kennt­nis­se begeis­tern sich für das Ritu­al. Wie groß die Krän­kung der Lin­ken über die­se Kon­ti­nui­tä­ten mitt­ler­wei­le sein muß, kann bei den jähr­li­chen Pro­tes­ten gegen den Wie­ner Aka­de­mi­ker­ball eben­so ver­folgt wer­den wie beim Ver­such, jedes kor­po­ra­ti­ve Auf­tre­ten in der Öffent­lich­keit zu ver­hin­dern. Offen muß hier blei­ben, ob die­ser mit Ver­ve unter­nom­me­ne Ver­such einer gewalt­sa­men Ver­drän­gung des Geg­ners aus dem öffent­li­chen Raum psy­cho­ana­ly­tisch, etwa im Sin­ne von Angst­be­wäl­ti­gung, deut­bar wäre; daß dies nicht aus­ge­schlos­sen wer­den kann, zei­gen leicht iden­ti­fi­zier­ba­re, regres­si­ve Ver­hal­tens­wei­sen wie etwa Trotz­re­ak­tio­nen oder Wei­ner­lich­keit (»Trau­er und Wut«) bei vie­len Protestierenden.

Umso aus­le­gungs­be­dürf­ti­ger scheint vor die­sem Hin­ter­grund jedoch das Aus­blei­ben des gro­ßen Bruchs mit der Über­lie­fe­rung: War­um fließt auf den Pauk­bö­den deut­scher Uni­ver­si­täts­städ­te von Greifs­wald bis Kla­gen­furt, von Aachen bis Wien wei­ter­hin Blut? War­um wer­den die Prä­gun­gen hin zu einer gewalt­frei­en Erzie­hung kon­se­quent revi­diert? Für das per­sön­li­che Fort­kom­men ist die ver­rä­te­ri­sche Zeich­nung des Gesichts doch eher hin­der­lich: Man macht sich zumin­dest ver­däch­tig, außer­halb eines ver­ord­ne­ten gesell­schaft­li­chen Kon­sen­ses zu ste­hen und das Fak­ti­sche nicht als nor­ma­tiv oder gar alter­na­tiv­los hin­zu­neh­men. Dazu kommt, daß die kör­per­li­che Unver­sehrt­heit nicht das Ziel der Men­sur ist – eine Umkeh­rung aller Absi­che­rungs­kon­di­tio­nie­run­gen west­li­cher Gesell­schaf­ten. Denn man geht nicht fehl, wenn man ver­mu­tet, daß man die Wan­gen, die Nase, die Ohren nicht ohne Unbe­ha­gen den Hie­ben der Kon­tra­hen­ten aus­setzt. Der in spä­te­ren Jah­ren als Mus­so­li­ni-Befrei­er bekannt gewor­de­ne Otto Skor­ze­ny hat das sehr ehr­lich notiert, ins­ge­samt aber zwölf Par­tien gefoch­ten. Nun ist, neben­bei bemerkt, das Befrei­en ita­lie­ni­scher Dik­ta­to­ren kei­ne zwangs­läu­fi­ge Fol­ge stu­den­ti­schen Fech­tens wie etwa die Bio­gra­phie des revo­lu­tio­nä­ren Sozia­lis­ten, Mit­glieds der kom­mu­nis­ti­schen Par­tei und rasen­den Repor­ters Egon Erwin Kisch zeigt. Die­ser, einer tra­di­ti­ons­rei­chen jüdi­schen Bürg­erfa­mi­lie in Prag ent­stam­mend, war Bur­schen­schaf­ter wie sein Bru­der und berich­te­te in lau­ni­gen Tex­ten etwa von im Patri­zi­er­haus der Fami­lie in der Melan­trich­gas­se abge­hal­te­nen Men­su­ren mit aller­lei abge­haue­nen Nasen­spit­zen und Ohren.

War­um also neh­men jun­ge Män­ner, die es doch ein­mal bes­ser haben wol­len, noch heu­te all dies auf sich? Kar­rie­re­drill und Umer­zie­hung, Hedo­nis­mus und Her­den­trieb, gute Aus­re­den und schlech­te Pres­se – trotz alle­dem fin­den sich noch immer genü­gend Typen, die wie Tyler Dur­den in David Fin­chers 1999 erschie­ne­nem Fight Club (nach dem gleich­na­mi­gen Roman von Chuck Palah­n­i­uk) beken­nen: »Ich will nicht ohne Nar­ben ster­ben.« Und die Angst des moder­nen Men­schen, »nicht eigent­lich gelebt zu haben«, hat dar­an einen ent­schei­den­den Anteil. Die­se Angst schwebt als schwar­ze Wol­ke im immer­blau­en, kali­for­ni­schen Him­mel, der sich über den Teil­neh­mern des Dis­kur­ses unse­rer west­li­chen Gesell­schaf­ten glück­ver­hei­ßend aus­ge­brei­tet hat und der gegen­über den ihm ein­ge­bo­re­nen digi­tal nati­ves das Ver­spre­chen einer zwei­ten, bes­se­ren, vir­tu­el­len Natur abge­ge­ben hat.

Noch aber scheint, zumin­dest für man­che, die Seins­ver­ges­sen­heit unter den hedo­nis­tisch-kon­su­mis­ti­schen Vor­zei­chen unse­rer Tage (die mit den von Mar­tin Heid­eg­ger ein­ge­führ­ten Ter­mi­ni des »Man« und der »Unei­gent­lich­keit« prä­zi­se beschrie­ben ist) nicht das Ende der Geschich­te zu sein. Denn, mehr als je zuvor, gilt: »Wir genie­ßen und ver­gnü­gen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urtei­len über Lite­ra­tur und Kunst, wie man urteilt; wir zie­hen uns aber auch vom ›gro­ßen Hau­fen‹ zurück, wie man sich zurück­zieht; wir fin­den empö­rend, was man empö­rend findet.«

Als das Gegen­teil die­ser unei­gent­li­chen (Fremd)Bestimmung ent­warf Heid­eg­ger bekann­ter­ma­ßen das eigent­li­che Selbst­sein, das sich zum »Sein als sei­ner eigens­ten Mög­lich­keit« ver­hält, »sich gewon­nen haben kann es nur, sofern es sei­nem Wesen nach mög­li­ches eigent­li­ches, das heißt sich selbst zuei­gen ist.« Eigent­lich, sei­ner selbst ein­ge­denk, kann Sein frei­lich nur dann sein, wenn es sich sei­ner End­lich­keit, als wesent­li­cher Bedin­gung, bewußt ist.

Eine spe­zi­fisch deut­sche Kul­tur­tech­nik, sich sei­ner selbst bewußt zu wer­den und damit Eigent­lich­keit zu erfah­ren, liegt in der stu­den­ti­schen Tra­di­ti­on der Men­sur. Nach­dem die­se durch die gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se unter fun­da­men­ta­len Recht­fer­ti­gungs­zwang gera­ten ist, tref­fen die von Hein­rich Mann ent­wor­fe­nen und seit­her unge­zähl­te Male repro­du­zier­ten Bil­der der Seins­ver­ges­sen­heit, der Unei­gent­lich­keit Diede­rich Heß­lings nicht mehr zu: Viel­mehr fal­len heu­te alle äuße­ren Grün­de weg, den »schar­fen Gang, der selbst gewählt« auf sich zu neh­men. Es bleibt allein der inne­re Antrieb, dem Geg­ner, der nicht der Feind ist, ins Auge zu bli­cken und sich bewußt der Angst aus­zu­set­zen. Es bleibt eine Ursze­ne von Eigent­lich­keit; der Pau­kant erfährt, viel­leicht zum ers­ten Mal in sei­nem Leben, ein ago­na­les Aus­ge­setzt-Sein. In der Selbst­aus­lie­fe­rung der Men­sur­si­tua­ti­on wird erfahr­bar, daß das Leben immer ein ris­kier­tes ist, eines, das ein­mal been­det sein wird. In der Selbst­aus­set­zung ist der Pau­kant sei­ner Ver­letz­bar­keit als Mensch und – unbe­wußt – auch sei­nes Todes ein­ge­denk und ver­steht, daß das Indi­vi­du­um nicht über alles frei dis­po­nie­ren kann, son­dern daß in der Kör­per­lich­keit die Erfah­rung von Begren­zung liegt, aber auch: daß man sei­nes Glü­ckes Schmied sein kann und daß zu einem guten Teil von einem selbst abhängt, ob sich der Erfolg ein­stellt oder nicht. Die Erfah­rung der Men­sur als instink­ti­ve Todes­nä­he, also als Ver­ein­ze­lung, wird jedoch von einer ande­ren eigent­li­chen, gegen­läu­fi­gen Erfah­rung kon­ter­ka­riert: Der Erfah­rung einer Gemein­schaft der Eigent­lich­keit. Der Ein­zel­ne setzt sich zwar unmit­tel­bar und unver­tret­bar aus; aber das haben die, die hin­ter und neben ihm ste­hen, auch getan und sie wis­sen, was das Hin­aus­ge­hal­ten-Sein bedeutet.

Die Bewäl­ti­gung die­ser Situa­ti­on, die bewuß­te Annah­me einer Gefahr, vor der man nicht flie­hen darf, ist die eigent­li­che Exis­tenz in nuce. Die­se Exis­tenz ist eben nicht aus­schließ­lich oder haupt­säch­lich von den libi­di­nö­sen Bedürf­nis­sen eines jun­gen Man­nes bestimmt, son­dern von »sei­nem Stolz, sei­nem Mut, sei­ner Beherzt­heit, sei­nem Gel­tungs­drang (…) sei­nem Gefühl für Wür­de und Ehre, sei­ner Indi­gna­ti­on und sei­nen kämp­fe­risch-räche­ri­schen Ener­gien.« Gera­de die­se Wesens­zü­ge, die von der her­kömm­li­chen freu­dia­ni­schen Deu­tung völ­lig ver­nach­läs­sigt und als Ersatz­hand­lun­gen unbe­frie­dig­ter Sexua­li­tät abge­tan wur­den, ver­wirk­li­chen sich im Wunsch nach der Wah­rung des kon­ser­va­ti­ven Prin­zips, wel­ches zum Fech­ten von Bestim­mungs­men­su­ren und zum Anneh­men von For­de­run­gen ver­pflich­tet. Peter Slo­ter­di­jk hat in sei­ner Wür­di­gung der thy­mo­ti­schen Ener­gien auf die­ses Miß­ver­hält­nis in der Deu­tung der con­di­tio huma­na hin­ge­wie­sen, die das Ero­ti­sche allein als Moti­va­ti­on beschreibt und das Ago­na­le pathologisiert.

In Dode­rers Roman beginnt der Ein­tritt des Prot­ago­nis­ten in die Eigent­lich­keit mit der Fra­ge nach den Grund­la­gen des bis­he­ri­gen Lebens­wegs, wor­in »ein bedeu­ten­der und neu­er Schritt ins Leben getan sei«. Die­ser Schritt voll­endet sich für Mel­zer in der Bewäh­rung in einer Aus­nah­me­si­tua­ti­on, der äußerst blu­ti­gen Ret­tung des Lebens von Mary K., und end­gül­tig in der erwi­der­ten Lie­be der Thea Rokit­zer. Den die­ser Pro­be vor­aus­ge­gan­ge­nen Ernst­fall, das Ster­ben sei­nes Vor­ge­set­zen, des Major Las­ka auf dem Schlacht­feld, erfuhr Mel­zer noch wie durch einen Schlei­er, macht­los, in einem nicht selbst geleb­ten Leben. In der Ret­tung Mary K.s aller­dings tritt uns ein ande­rer, akti­ver Cha­rak­ter ent­ge­gen, der kei­ne Sekun­de zögert und das Not­wen­di­ge tut. So fin­det Mel­zer zu einem eigent­li­chen Leben und über­win­det die Institution.

Frei­lich ist die Men­sur, die hier als eine Kul­tur­tech­nik der Eigent­lich­keit skiz­ziert ist, kei­ne Seins­ver­si­che­rung gegen das »Man«, denn selbst die­ses Erle­ben ist nicht davor gefeit, in sei­ner kras­sen Unzeit­ge­mäß­heit unter­zu­ge­hen oder – recht­fer­ti­gend – als mehr oder weni­ger pit­to­res­ke Epi­so­de post­pu­ber­tä­rer Fin­dungs­pro­zes­se abge­tan zu wer­den. Gera­de in letz­te­rer Bewäl­ti­gungs­kom­mu­ni­ka­ti­on zeigt sich jedoch das Frem­de, Archai­sche die­ses Ritu­als; um wie­der Mit­glied der Her­de sein zu kön­nen, steht ein psy­cho­ana­ly­tisch-anti­fa­schis­ti­scher Sprach­kon­sens bereit, der geeig­net ist, der­lei Lich­tun­gen als Extra­va­gan­zen abzu­tun und zu kate­go­ri­sie­ren: Man könn­te gar von einem »Jar­gon der Unei­gent­lich­keit« sprechen.

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