Diesem zufolge wäre Empathie Emotion sharing, das Sichhineinversetzen in die Gefühle anderer, zumeist von Opfern und Leidenden, mit denen man sich „identifiziert“. Mitfühlen wird geradezu als Urinstinkt gehandelt, dem nicht nachzugehen soziale Devianz darstellt.
„Empathielosigkeit“ angesichts von „Flüchtlingen“ oder „Ausländern“ oder allgemein Minderheiten, gehört in diesem Paradigma zur Psychopathologie der Rechten. Linke sind empathisch bis hin zur allgemeinen Menschenliebe und wünschen sich in Ehe, Familie, Schule, Religion, ja gesamtgesellschaftlich mehr Achtsamkeit, „eine Kultur des Hinschauens“, Sich-Öffnen und pädagogisch angeleitetes Erlernen von „Empathiefähigkeit“.
Breithaupt ist nicht von soziopolitischem Erkenntnisinteresse gesteuert. So wie ich ihn kenne, ist ihm einfach ein Dominanzbegriff suspekt geworden, und die Frage entstand (schon in seinem ersten Buch zum Thema, Kulturen der Empathie, 2009): Was steckt dahinter? Wie funktioniert Empathie wirklich? Und wie jeder aufklärerisch erzogene Wissenschaftler will natürlich auch er einen Common sense infragestellen.
Seine zahllos eingestreuten Beteuerungen, wie wichtig Empathie im menschlichen Zusammenleben sei und wie zerstörerisch „falsche Empathie“ sein kann, bis hin zu den sadistischen und vampiristischen dunklen Seiten (wer jemanden leiden machen will, muß dessen Daumenschrauben genau kennen), lassen erkennen, daß es ihm weder darum zu tun ist, Empathielosigkeit zur neuen Tugend zu erheben, noch einen besseren Empathiebegriff zur Förderung des Allgemeinwohls bereitzustellen.
Was, wenn nun Empathie überhaupt kein genuines Gefühl ist? Niklas Luhmanns Diktum, Motive seien keine Gefühle, sondern externe Zuschreibungen von Handlungsgründen, ist nicht direkt Breithaupts Ausgangspunkt, ähnlich wie dieser geht er aber auch von einem primären Akt des Beobachtens aus. Beobachten paßt nicht zum Gefühlehaben – dieses Paradox ist für ihn zentral.
Der empathische Beobachter habe „einen ästhetischen Vorteil“, insofern man die Situation des anderen ästhetisieren und damit klären könne. „Ästhetisch“ definiert er mit Alexander Gottlieb Baumgarten als Klarheit sinnlicher Wahrnehmung.
Er kommt zu diesem – gemessen am Common-sense-Empathieverständnis – kalten Blick auf den anderen mit niemand geringerem als Friedrich Nietzsche. Breithaupt ist Literaturwissenschaftler und schert sich nicht darum, ob in psychologicis Nietzsche eine anerkannte Quelle ist, er nimmt ihn einfach her, und mit ihm einen folgenschweren produktiven Dualismus.
Mit Nietzsche können Menschen entweder wahrnehmend, objektiv und empathiefähig sein, oder expressiv, kräftig und charakterstark.
Der distanzierte und schwache Habitus der Empathen zeichnet diese als Beta-Tiere aus, als eben die typischen nietzscheschen Unterlinge mit ihrer „Sklavenmoral“, die weder hassen noch lieben noch herrschen können. Wer empathisch beobachtet, hat kein eigenes starkes Ich, sondern muß dieses erst im anderen auffinden – notwendig wird dadurch der andere der Starke. So erklärt sich das extreme Projektionsbedürfnis im Akt der Empathie: der Sklave erfindet das starke Individuum, aber um es zu vernichten.
Wenn es den Sklaven gelingt, den Herren das Sehen beizubringen, das Beobachten, so sehen diese das Leiden der Schwächlinge und damit ihren eigenen Anteil an ebendiesem. Wenn die Herren Mitleid entwickeln, werden sie dadurch gebunden, unfrei, selbstlos. […] Der empathische Mensch hat keine eigenen Gefühle, zumindest keine starken Gefühle voller Leidenschaft. Stattdessen lebt er die Gefühle anderer Menschen nach.
Diese steile These übernimmt Fritz Breithaupt souverän von Nietzsche und kommt damit zu einer weiteren Neuausrichtung von Empathie:
Es ist überhaupt nicht das „Opfer“, mit dem man sich identifiziert, sondern die Projektion richtet sich auf die Rolle des Helfers. „Der Empathiker steckt in einer Bewunderungsfalle“. Er stellt sich nicht bloß das Leiden des Opfers vor, sondern identifiziert sich mit einer kompletten sozialen Szene: Beobachter, Helfer, Opfer. Darin imaginiert er sich selber als heroischen potentiellen Helfer.
Um überhaupt Empathie empfinden zu können sei es mithin hilfreich, eine Helferfigur zu erfinden. Die Moral dieser Empathie, so Breithaupt, ist schwach und sitzt einer narrativen Szene auf. Der Weg zum veritablen Narzißmus ist gar nicht so weit, gibt er zu bedenken.
Empirische Studien geben Breithaupt (der sich in seinem Buch ebenfalls über weite Strecken auf kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse bezieht) und Nietzsche hier wohl recht: Das Gefühl moralischer Empörung, von dem man immer glaubte, es diene der sozialen Gerechtigkeit, also dritten Personen, dient in Wirklichkeit oft der Rückversicherung eigener Moralität. Eigene Schuldgefühle spielen die viel größere Rolle als der objektive Zustand des Opfers, dem die herausgekehrte Empörung gilt.
Vor diesem Hintergrund ist ein zentrales Kapitel des Buches, überschrieben mit „Deutschland, Weltmeister der Empathie. Angela Merkel und die Flüchtlinge“, nur folgerichtig weitergedachter Nietzsche. Die Szene vom Anfang des Jahres 2015, in der Merkel das Flüchtlingsmädchen namens Reem vor laufender Kamera erst zum Weinen bringt mit der Aussage, Deutschland könne eben nicht alle aufnehmen, und sie dann mütterlich dafür lobt, hier so tapfer gesprochen zu haben, ist als Epic fail der Empathie zu begreifen.
Nichts löst mehr Empathie der Schwachen aus als markierte Empathiefehler. Merkels „falsche Empathie“ ist zu einem kollektiven Phänomen in Deutschland geworden, das darin gründet, Empathiefehler als Schuld zu begreifen und zu überkompensieren. Endlich kommt mit dem Migrantenansturm die erlösende Gelegenheit, all unsere Empathiefehler (vom Holocaust bis zur Dritten Welt bis zu familären Verfehlungen) auf einen Streich wiedergutzumachen, und Angela Merkel eilt dem reuigen Kollektiv voran.
Daß Empathie für Breithaupt ein psychohygienisches Funktionsprinzip und kein moralischer Positivwert ist, zeigt sich am Schluß des Buches daran, wie er Trumps Wahlsieg interpretiert. Trump habe es wie noch niemand zuvor verstanden, im Wahlkampf Empathie auszulösen, selbst bei ihm, dem liberalen Trumpgegner.
Wer sich in die Situation von Donald Trump versetzt oder versetzt findet, steht plötzlich unter dem Druck, reagieren zu müssen. Der Moment der Beschuldigung ist wie kaum ein anderer einer, der zur Einnahme einer Perspektive führt. Doch was sagt man in der Situation des Beschuldigten? Wer ist dem Druck des Angriffs gewachsen? […] Trump wird zur Figur der Empathie nicht als Mensch, sondern als Abwender von Angriffen. Je stärker der Angriff, desto ‘besser’ wird er.
Hier zeigt sich, daß Empathie eben nicht Mitleid mit dem Opfer ist, sondern einen „Ich-Effekt“ (Breithaupt) zeitigt. Ich will nicht länger ein Unterling sein, der sich auf den Gegenüber hin entwerfen muß, der sich verlieren muß, sondern ich will einer sein, der stark ist, lieben, hassen und herrschen kann. Ob ich es will oder nicht (er „findet“ sich in ihn versetzt), muß ich die passivierende Haltung des „objektiven Menschen“ im Akt der Empathie verlassen.
Daß dies nun schwerlich als „dunkle Seite“ der Empathie noch zu verstehen ist, ist Breithaupts vielleicht ungewollte Konsequenz aus seinem befreienden Nietzscheanismus. Wer sich aus den Fängen des Social-justice-Empathiebegriffs befreit, hat die „dunkle Seite“ mitbefreit, die nun „prachtvoll nach Beute und Sieg lüstern“ umherschweift.
Auch wenn der Autor als Schlußsatz seines Buches über seinen Trumpempathieanfall schreibt: „Davon bin ich nun befreit“, müßte man sich ihn nach Durchgang durch diesen Icherzeugungsmechanismus als einen anderen Menschen vorstellen. Das hat er nun davon.
Tassilo von Baiern
Der Deutsche ist in seinem Volkscharakter immer schon höchst moralisch gewesen (im Sinne der jeweils herrschenden Ideologie). Dies ist Teil der streberhaften, deutschen Hauswartsmentalität.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass in Streitgesprächen mit den größen Gutmenschen und Ethnomasochisten, die beste Waffe, genau dieser Ansatz ist. Sie lassen sich nicht durch Fakten überzeugen! Ihre Triebfeder ist ein wohlig warmes Gefühl der vermeintlichen, moralischen Überlegenheit. Dagegen hat das rationalste und einleuchtendste Argument keine Chance.
Man muss viel mehr, den noch viel größeren Moralapostel geben. Ich versuche immer freundlich zu bleiben und auch Verständnis zu zeigen. Ein Standpunkt sitzt gleich nicht mehr so bombenfest, wenn das Ego gepinselt wird. Dann kann man (in moralinsaurem Ton versteht sich) darauf aufmerksam machen, dass es höchst unmoralisch ist, ein ganzes Volk auszutauschen, ja ein Verbrechen gegenüber der Zukunft unserer Kinder! Wenn ich nach diesem Muster argumentiert habe, war die Reaktion meist nachdenkliches Schweigen. Teilweise war in Ansätzen sogar unterdrückte Zustimmung erkennbar.
Und im Gegensatz zu den Linken hat unsere moralische Entrüstung ja auch eine faktische Grundlage. Wir müssen endlich von dem Gedanken wegkommen unseren Gegener überzeugen zu wollen. Es ist viel mehr eine Verführung. Dem Gutmenschen darf nicht sein moralisches Hochgefühl genommen werden. Es muss nur anders ausgerichtet -programmiert- werden.
Ich wollte diesen Kommentar eigentlich schon unter Ihren letzten Artikel posten. War dann aber zu spät dran. Denke aber nicht, dass er jetzt völlig themenfremd ist.