Mitteleuropa als Option

Der Ukraine-Konflikt rückt die schlichte Tatsache ins Bewußtsein, daß die Interessen Europas und der USA nicht deckungsgleich sind. Die Differenzen haben unterschiedliche Facetten und Wertigkeiten. Zwingende Unterschiede ergeben sich aus der geographischen Lage, sie sind geopolitischer Natur. Die Diskussion um amerikanische Waffenlieferungen an Kiew und die damit verbundene Aussicht auf eine militärische Eskalation haben Kanzlerin Merkel und Präsident Hollande im Februar zur einer panisch anmutenden Parforcediplomatie veranlaßt, die auch dem amerikanischen Säbelrasseln entgegenwirken sollte. Denn ein offener Krieg zwischen Rußland und einer von der NATO hochgerüsteten Ukraine könnte sich zum Flächenbrand entwickeln. Die Risiken wären dies- und jenseits des Atlantiks ungleich verteilt.

Die Interessen-Differenz ist führenden deutschen und europäischen Politikern durchaus bewußt. Allerdings wird sie beschwiegen und bleibt unreflektiert. Nach offiziöser Lesart drückt sich im Ukraine-Konflikt der Gegensatz zwischen Demokratie und Autoritarismus, zwischen den westlichen Hütern des Völkerrechts und seinen imperialistischen Verächtern im Kreml aus, die mit der Krim-Annexion und der Unterstützung der Separatisten das Demokratie- und Freiheitsbegehren der Ukrainer dementieren wollen. Es genügt ein Blick auf die militärischen Interventionen, die der Westen in den letzten Jahren unternommen hat, um zu sehen, daß diese Deutung nur eine Frage der Definitionshoheit ist.

Als Sowjetherrscher Nikita Chruschtschow 1954 per Ukas die Krim in die Ukraine eingliederte, ging er davon aus, daß die Sowjetunion ewigen Bestand haben würde und es sich lediglich um einen verwaltungstechnischen Akt handelte. 1783 hatte Katharina die Große die Halbinsel als »für alle Zeiten russisch« deklariert, um der aufstrebenden Großmacht die Kontrolle über das Schwarze und den Zugang zum Mittelmeer zu sichern. Parallel zur Auflösung der Sowjetunion schlossen sich am 8. Dezember 1991 Rußland, Weißrußland und die Ukraine zur Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) zusammen, der später weitere Nachfolgestaaten der Sowjetunion beitraten. Rußland unterschied dabei zwischen den »inneren« Grenzen innerhalb der GUS und ihrer »äußeren Grenze« zum übrigen Ausland, die analog zum Großraumkonzept Carl Schmitts den Rahmen seiner Interessensphäre bildete.

Diese Geschäftsgrundlage wollten insbesondere die USA nicht akzeptieren. Sie betrachteten die Randstaaten Rußlands als ihren Operationsraum, den sie – etwa durch Förderung diverser Farb- und Blumenrevolutionen – aus dem russischen Einfluß zu lösen versuchten. Die Inkorporation der Ukraine in westliche Strukturen bildet den vorläufigen Höhepunkt der geopolitischen Auseinandersetzung.

Endgültig akut wurde der schwelende Streit mit dem Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU. Die Brüsseler Bürokraten hatten es nicht für nötig gehalten, Moskau die Überzeugung zu vermitteln, aus dem Abkommen ebenfalls für sich Vorteile ziehen zu können. Provokativ erklärte der damalige Kommissionspräsident José Manuel Barroso im Februar 2013, daß die Ukraine sich zwischen der EU und Rußland entscheiden müsse.

Die folgenden Auseinandersetzungen in der ukrainischen Führung und die sogenannte Maidan-Revolution haben dazu geführt, daß proamerikanische Kräfte jetzt die Schlüsselpositionen in Staat und Wirtschaft besetzen: Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk gilt als Vertrauensmann der USA. Er gehörte 2007 zu den Begründern der Open Ukraine Foundation, die von amerikanischen, britischen und anderen internationalen Partnern – darunter der US-Ukraine-Foundation, dem US-Außenministerium und der NATO – gesponsert wurde, und forderte 2008 den Beitritt seines Landes zur NATO. Finanzministerin Natalija Jaresko ist eine amerikanische Investmentbankerin und war zuvor im US-Außenministerium und an der amerikanischen Botschaft in Kiew tätig. Erst im Dezember 2014 wurde sie im Eilverfahren eingebürgert. Der Sohn von US-Vizepräsident Joe Biden, Hunter Biden, trat im Mai 2014, kurz nach dem Sieg des »Maidan«, dem Verwaltungsrat des größten privaten Gasproduzenten in der Ukraine bei.

Damit sind die personellen und strukturellen Voraussetzungen geschaffen, um die am 19. Dezember 2008 zwischen den USA und der ukrainischen Regierung beschlossene »Charta über strategische Partnerschaft« zu verwirklichen, die unter anderem eine Kooperation bei der Erschließung und dem Transport der Energieressourcen vorsieht. Die Vereinbarung richtet sich direkt gegen Rußland, das ebenfalls am Leitungsnetz der Ukraine interessiert war, um sein Gas direkt nach Europa liefern zu können, und indirekt auch gegen Europa, dessen Gasversorgung unter strategische Kontrolle gestellt wird. Die fünf Milliarden Dollar, welche die USA nach den Worten Victoria Nulands, der für Europa und Eurasien zuständigen Abteilungsleiterin des US-Außenministeriums, für die »Unterstützung des Strebens des ukrainischen Volkes nach einer stärkeren, demokratischen Regierung« bereitgestellt hatten, waren eine lohnende Investition. Während die Amerikaner den politischen, strategischen und wirtschaftlichen Mehrwert einstreichen, tragen die Europäer die Hauptlast der Sanktionen.

»Europa« ist momentan nur ein Abstraktum oder eine Idealprojektion, die geographisch ungefähr die heutige EU umfaßt, sich von ihrem bürokratisch-administrativen Gebilde jedoch klar unterscheidet. Vor allem ist »Europa« eine Notwendigkeit, denn kein einziger europäischer Nationalstaat kann auf sich allein gestellt in der globalen Konkurrenz bestehen.

Diese Erkenntnis wurde vor genau 100 Jahren vom Liberalen Friedrich Naumann in der Schrift Mitteleuropa dargelegt. Naumann stand unter dem Eindruck der alliierten Übermacht und der globalen Dimension des Ersten Weltkriegs. Er erblickte darin eine allgemeine und unabänderliche Tendenz, aus der er den Schluß zog, daß sich fortan keine nationalen Wirtschaftsräume und politischen Einheiten mehr behaupten könnten. Nur noch wenige Mächte bzw. Machtblöcke würden die Geschicke der Staatenwelt bestimmen. Die Machtzentren würden sich auf jeden Fall in London, New York, Petersburg (Moskau) befinden, möglicherweise auch in Tokio und Peking. Deutschlands einzige Chance, dem Schicksal eines »Planetenstaates« und »Trabantenvolkes« zu entgehen, sah er darin, daß es sich im Zentrum eines mitteleuropäischen Staatenverbundes plazierte.

Naumanns Vision einer multipolaren Welt der Großräume ist – mit Abweichungen und Modifikationen – seit dem Ende der bipolaren Blockkonfrontation von bestechender Aktualität und eine deutsche und europäische Chance zur Selbstbehauptung. Die Presse fokussiert sich auf eine russische Intransigenz: Moskau versuche, die europäischen Länder auseinanderzudividieren. Das trifft wohl zu und entspricht dem Instinkt der benachbarten Großmacht, die eben noch eine Supermacht war. Doch das versuchen auch die viel stärkeren USA. Man denke nur an die Unterscheidung zwischen »altem« und »neuem« Europa, die der vormalige Verteidigungsminister Donald Rumsfeld im Januar 2003 mit der Absicht vornahm, die Osteuropäer gegen die Bundesrepublik und Frankreich auszuspielen, als diese sich gegen den Irak-Krieg sträubten. Wer die Annexion der Krim durch Rußland ausschließlich als politischen, moralischen und völkerrechtlichen Skandal anprangert, will den geopolitischen Hintergrund entweder verschleiern, oder er ist ihm nicht bewußt.

Der Verlust der Ukraine mit der Hafenstadt Odessa, dem »unersetzlichen Tor für den Handel mit dem Mittelmeerraum und der Welt jenseits davon«, beraubt Rußland seiner »beherrschenden Position am Schwarzen Meer« und beschneidet drastisch »seine geopolitischen Optionen«. Er macht es ihm unmöglich, »die Führung eines selbstbewußten eurasischen Reiches anzustreben«. Der amerikanische Großstratege Zbigniew Brzezinski nahm in seinem Buch The Grand Chessboard (Die einzige Weltmacht) wahrlich kein Blatt vor den Mund. »Der Wegfall der Ukraine«, heißt es weiter, wirke als »geopolitischer Katalysator«. Das Ziel besteht darin, Rußland zu zwingen, sich in die US-dominierte westliche Gemeinschaft einzuordnen und seine äußeren und inneren Verhältnisse nach ihren Vorgaben zu regeln. Das heißt aber auch, daß es sich beim Krim-Anschluß aus russischer Sicht um eine Defensiv-Aktion handelt.

Brzezinski ist ein Spiritus rector der amerikanischen Rußlandpolitik, die dem Zweck folgt, die nach 1989 proklamierte »Neue Weltordnung« – die globale Dominanz der USA – zu sichern. Er folgt der sogenannten »Herzland«-Theorie, die 1904 vom britischen Geographen und Politiker Halford Mackinder formuliert wurde. Mackinders kontinentales, für die Seemächte uneinnehmbares »Herzland« umfaßte den europäischen Teil Rußlands und Westsibirien und reicht im Süden bis ans Kaspische und Schwarze Meer. Es sei von einem »inneren Halbmond« umgeben, dessen westliche Spitze Europa bildet und sich von dort über Nordafrika, den Nahen und Mittleren Osten bis nach Indien und China erstreckt. Die Verbindung des russischen Herzlandes mit dem wissenschaftlich, technisch und organisatorisch befähigten Deutschland sei in der Lage, sich die Herrschaft über die eurasische Landmasse zu sichern, die zusammen mit Afrika die »Weltinsel« bilde. Mackinder folgerte: »Wer Osteuropa beherrscht, beherrscht das Herzland; wer über das Herzland herrscht, beherrscht die Weltinsel; wer über die Weltinsel herrscht, beherrscht die Welt.«

Das »Herzland«-Modell wurde aus amerikanischer Perspektive vom Geopolitiker Nicholas Spykman modifiziert. Spykman sah die entscheidenden Machtpotenzen statt im Herzland in dessen Randregionen, dem »Rimland«, konzentriert, das ungefähr dem inneren Halbmond entspricht. »Wer das Rimland kontrolliert, beherrscht Eurasien, wer Eurasien kontrolliert, kontrolliert die Geschicke der Welt.« Sollte es einer Macht oder Mächtekoalition gelingen, das »Rimland« unter ihre Kontrolle zu bringen, gerieten auch die USA in diese Abhängigkeit. Deshalb war es für die USA im Zweiten Weltkrieg so wichtig, Deutschland und Japan zu zerschlagen. Um fremde Dominanz zu verhindern, mußten sie selber zur dominanten Weltmacht werden und das »Rimland« beherrschen.

Die geopolitische Einhegung Rußlands und die Kontrolle Europas sind zwei Seiten derselben Medaille. Gewiß beschwört Brzezinski das transatlantische Bündnis und die Wertegemeinschaft, doch Europa ist vor allem ein Mittel zum Zweck: nämlich ein »Eckpfeiler einer unter amerikanischer Schirmherrschaft stehenden größeren eurasischen Sicherheits- und Kooperationsstruktur« und »geopolitischer Brückenkopf«, ohne den »Amerikas Vormachtstellung in Eurasien schnell dahin« wäre. In diesem Fall könnte es sich sogar zu einem Konkurrenten entwickeln, denn es verfügt über genügend Potential, um »zwangsläufig eine Weltmacht zu werden«.

Bisher deutet wenig auf den entsprechenden Ehrgeiz Europas hin. Tatsächlich würde das zu einer tektonischen Verschiebung in den innen- wie außenpolitischen Verhältnissen führen, die voller Risiken sind, zumal man mit massivem Widerstand aus Washington rechnen müßte. Vordergründig sind die Europäer mit dem unipolaren Anspruch der USA nicht schlecht gefahren. Im Windschatten des militärischen US-Schirms konnten sie den Wohlstandsstaat auf- und ausbauen. Doch jetzt treten immer mehr die Nachteile in den Vordergrund. Die Flüchtlingswellen, die an die europäischen Küsten branden, sind zum großen Teil eine Folge von US-Interventionen in der »Rimland«-Zone. Europa dient als Überlaufbecken der Kollateralschäden. Die Menschenrechtsrhetorik sorgt dafür, daß es sich dieser Aufgabe nicht entziehen kann. Man muß sie daher als Teil einer politisch-ideologischen Grammatik begreifen, in der sich amerikanische »Soft Power« ausdrückt und die für Europa zum Gefängnis wird. Die Politik der USA läuft auf die Zerstörung der europäischen Nationalstaaten und Lebensformen sowie auf die weltweite Durchsetzung des American Way of Life hinaus. Die »Neue Weltordnung« generiert den Neuen Menschen. Die Europäische Union mit ihrem bürokratischen Wasserkopf in Brüssel ist eine Filiale internationaler Lobbyisten und unfähig, eine Politik im Interesse Europas zu konzipieren und zu betreiben.

Normalerweise fiele Deutschland angesichts der Kräfteverhältnisse die Funktion der kontinentalen Führungsmacht zu. Es müßte den Nachbarn seine Fähigkeit beweisen, ihre Interessen mit den eigenen zu bündeln und sie auf der Weltbühne erfolgreich zu vertreten. Dem vormaligen Kanzler Gerhard Schröder mag eine solche Politik vorgeschwebt haben, als er 2002 gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Chirac eine europäische Front gegen den Irak-Krieg zu schmieden versuchte, den die USA organisierten. Doch die Art seines Auftritts – undiplomatisch, unbedarft, ohne strategisches Konzept – bestätigte alle antideutschen Stereotype und zeugte vom Fehlen einer außenpolitischen Tradition. Vor allem ließ Schröder die traumatischen Erfahrungen außer acht, die die Osteuropäer mit der Sowjetunion gemacht haben und sie heute veranlassen, die USA als ihre Schutzmacht zu hofieren.

Eine Wiederholung des Versuchs müßte daher neben Frankreich, das über mehr Willen zur Macht verfügt, idealerweise auch Polen, das größte EU-Land aus dem früheren Ostblock, als Partner mit einschließen. Zentrales Moment wäre ein gutes Verhältnis zu Rußland, das keine Supermacht mehr, doch eine souveräne Großmacht ist. Seine Souveränität bietet Europa eine der wenigen Chancen, die amerikanische Übermacht auszubalancieren. Ziel dürfte nicht die Konstituierung eines eurasischen Blocks sein, der, wie es dem geopolitischen Vordenker Alexander Dugin vorschwebt, unter russische Führung geriete, sondern die Erringung einer neuen Option als Mittel der Außenpolitik. Ganz praktisch geht es auch um die Ressourcen Sibiriens, die sich nicht auf die Bodenschätze beschränken. Sein riesiger Raum stellte für den Schriftsteller Heiner Müller die letzte Ausweichreserve für Europa dar. Parallel dazu hätte man sich weiter um bestmögliche Beziehungen zu den USA, dem mächtigsten Land der Erde, zu bemühen und sich nur davon zu verabschieden, sie als ein gottgegebenes Über-Ich zu betrachten.

Allerdings erforderte das eine schwindelerregende Höhe der Staatskunst.

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