Soap & Skin

von Benjamin Zschocke -- Am 15. Oktober 2009 strahlt der Sender ORF 1 eine Folge der Late-Night-Show »Willkommen Österreich« aus.

Zu Gast ist die 19jährige Musi­ke­rin Anja Plaschg, wel­che mit ihrem ers­ten Album aus dem Stand einen inter­na­tio­na­len Voll­tref­fer erzielt hat. Sen­sa­tio­nell ist, was sich hin­ter Lov­e­tu­ne For Vacu­um ver­birgt: kein post­mo­der­ner Pop-Misch­masch, son­dern erst­haf­te, viel­schich­ti­ge Musik, meis­ten­teils am Kla­vier vor­ge­tra­gen, mit Titeln wie »Tha­na­tos« oder »Brot­her Of Sleep«. So aus­ge­prägt und inten­siv wirkt Plaschgs Artis­tik, daß ein zwei­ma­li­ges, pau­sen­lo­ses Durch­hö­ren des Albums unmög­lich ist. Was hier künst­le­risch geschieht, ist unge­sund und beein­dru­ckend zugleich.

Das Inter­view mit den bei­den Schnupf­na­sen Chris­toph Gris­se­mann und Dirk Ster­mann ist eine kata­stro­pha­le Bla­ma­ge. Nicht für den Gast Anja Plaschg, son­dern für den ORF und das zeit­ge­nös­si­sche, west­li­che Ver­ständ­nis von Kul­tur. Der Kon­trast zwi­schen einer mehr­heit­lich schwei­gen­den oder ver­stört lächeln­den 19jährigen und zwei abge­brüh­ten Estab­lish­ment-Blö­del­show­mas­tern ist so uner­träg­lich pein­lich, daß man ihn kei­ne zwei Minu­ten aus­hält; ein Para­de­stück dafür, was man vom Kul­tur­be­trieb zu erwar­ten hat und wie man zu sein hat, wenn man mit­ver­die­nen will. Plaschg hat­te aus Unwis­sen­heit, ja Welt­fremd­heit dem Sen­der vor dem Inter­view eine Lis­te zukom­men las­sen, die Fra­gen ent­hielt, wel­che nicht gestellt wer­den dürf­ten – ein eben­so ana­chro­nis­ti­sches wie für die meis­ten unnach­voll­zieh­bar eli­tä­res Unter­fan­gen, ver­gleich­bar etwa mit Gott­fried Ben­ns sagen­haf­ten Rund­funk­auf­trit­ten nach dem Krieg.

Anja Plaschg tat es ihm gleich und wur­de zur Freu­de des SPÖ-Wäh­ler-Publi­kums vor­ge­führt. Am 5. April 2015 fei­ert sie ihren 25. Geburts­tag; der­ar­ti­ge Geschich­ten hat sie weit hin­ter sich gelassen.

Mit Nar­row erschien 2012 eben­falls unter dem Pseud­onym Soap & Skin ihr zwei­tes Album, das in Öster­reich neun Wochen Platz eins der Album-Charts beleg­te. Hal­tet alle Uhren an, for­dert Plaschg im ers­ten Lied (»Vater«) und trifft die unge­sun­de Sehn­sucht nach Melan­cho­lie punkt­ge­nau und schmerz­haft – ein höchst wir­kungs­vol­ler Effekt. Wei­ter: Wo immer ich auf­schla­ge find’ ich dich / Du fällst im Schat­ten der Tage / als Stil­le und Stich. Was ist pas­siert? Plaschgs gelieb­ter Vater stirbt 2009 – im Jahr der Ver­öf­fent­li­chung ihres ers­ten Albums – aus hei­te­rem Him­mel. In erup­ti­ven, selbst­zer­stö­re­ri­schen Aus­brü­chen arbei­tet die Toch­ter meh­re­re Jah­re an einem Lied zu sei­nen Ehren; erst nach drei Jah­ren erscheint es als Ein­lei­tung zu »Nar­row«. Sie besingt, wie das lyri­sche Ich den Vater in Gestalt einer Made im Gra­be besu­chen kommt und sei­nem Zer­fall bei­wohnt: Der Sarg fällt zusam­men / die Blu­men fal­len in die Wan­gen / Zuerst weiß, dann blau, dann grau, dann grün / dann Schaum, dann braun und Laub und Staub und kommt dann wie­der zur Besin­nung, indem es fragt und fleht: Bit­te schlag dich aus mei­nem Kopf, mei­nem Haus / wie sonst hal­te ich den Graus aus? / Mit wel­chem Herz, mit wel­chem Kör­per / aus? Bedenkt man, daß Plaschgs künst­le­ri­sche Prä­gung wesent­lich durch Franz Schu­bert erfolg­te und eine ihrer ers­ten Ver­öf­fent­li­chun­gen 2007 die Inter­pre­ta­ti­on von des­sen »Im Dor­fe« war, wird nach­voll­zieh­bar, aus wel­cher Rich­tung sie kommt. Irra­tio­nal melan­cho­li­sche Anklän­ge fin­den sich in ihren Zei­len, wel­che an ein wei­te­res Stück aus Schu­berts Win­ter­rei­se (1827) erin­nern, den »Lin­den­baum«: Da hab’ ich noch im Dun­kel / Die Augen zugemacht.

Gott­fried Benn schreibt in sei­nem epo­cha­len Text über die »Pro­ble­me der Lyrik« (1951): »Lyrik muß ent­we­der exor­bi­tant sein, oder gar nicht. Das gehört zu ihrem Wesen« und fer­ner, zum Ver­ständ­nis der inne­ren Logik des künst­le­ri­schen Auf­tra­ges: »Das Gedicht ist schon fer­tig, ehe es begon­nen hat. [Der Dich­ter] weiß nur sei­nen Text noch nicht. Das Gedicht kann gar nicht anders lau­ten, als es eben lau­tet, wenn es fer­tig ist.« All dem folgt Plaschg bewußt oder unbe­wußt, schlaf­wand­le­risch viel­leicht, beweist doch die Qua­li­tät ihres früh­voll­ende­ten Wer­kes, daß sie es ohne jede Rück­sicht ernst meint. Ein hoch­per­sön­li­ches Gesche­hen wie der Tod des Vaters strahlt vom Ein­zel­nen auf die Gesamt­heit der Adressaten.

Es ist genau umge­kehrt wie beim gro­ßen Bruch Ende der Sech­zi­ger Jah­re: Wäh­rend die­se Kunst dekon­stru­ier­te, ver­all­ge­mei­ner­te, den Tod der Väter, nebst ihrer Tra­di­tio­nen, das Kap­pen aller Ver­bin­dun­gen fei­er­te, dreht Anja Plaschg den Spieß um und rekon­stru­iert den Tod des Vaters zum sin­gu­lä­ren, hoch­spe­zi­fi­schen Ereig­nis. Ihre Kunst ist exklu­siv, sie schließt mehr Adres­sa­ten aus als ein. Dem Hörer tritt eine zur Kunst beru­fe­ne Ein­zel­ne ent­ge­gen, die weiß, was sie soll, nicht, was sie bewirkt. Ein ver­ges­se­ner Begriff drängt hier an die Ober­flä­che, die Inspi­ra­ti­on. Der Künst­ler als Medi­um, dem ein Geist ein­ge­haucht wur­de, der allein das eine Kunst­werk mit sei­nem Hirn, sei­ner Stim­me, sei­ner Hand für die übri­ge Mensch­heit sicht­bar macht. Ein Anhauch aus Sphä­ren, an die der Wäh­ler – die­ses schreck­li­che Kind der Neu­zeit (Peter Slo­ter­di­jk), wel­ches in die tota­le Medi­en­au­to­kra­tie des 21. Jahr­hun­derts gewor­fen ist und mit­schwimmt – nicht mehr anknüp­fen kann. Noch­mals Gott­fried Benn in »Pro­ble­me der Lyrik« zur Funk­ti­ons­wei­se der Inspi­ra­ti­on: »Das lyri­sche Ich ist ein durch­bro­che­nes Ich, ein Git­ter-Ich, flucht­er­fah­ren, trau­er­ge­weiht. Immer war­tet es auf sei­ne Stun­de, in der es sich für Augen­bli­cke erwärmt, war­tet auf sei­ne süd­li­chen Kom­ple­xe, mit ihrem Wal­lungs­wert – näm­lich Rauschwert – in dem die Zusam­men­hangs­durch­sto­ßung, das heißt, die Wirk­lich­keits­zer­trüm­me­rung voll­zo­gen wer­den kann«.

Womit man bei einem zwei­ten, in bezug auf Kunst heu­te – da jeder ein Künst­ler ist – ver­dräng­ten Begriff ange­langt ist, dem Genie. Das Genie als schöp­fe­ri­sches Indi­vi­du­um hebt sich weit über die Mas­se. Das Genie lebt an der Gren­ze zum Abgrund, balan­ciert gezo­gen Wer­den und gesto­ßen Sein mit schöp­fe­ri­schem Erfolg. Zu die­ser Wech­sel­wir­kung bedarf es zwei­er­lei: der wil­lent­li­chen Unter­ord­nung des Adres­sa­ten unter die Schöp­fung des Genies, folg­lich sein Aner­ken­nen des genia­len, meint ein­ge­ge­be­nen, inspi­rier­ten Wer­kes als Set­zung, und zwei­tens, von der ande­ren Sei­te betrach­tet, der inne­ren Bereit­schaft des Genies, die­se mit Gna­de und Bür­de glei­cher­ma­ßen ver­bun­de­ne Auf­ga­be, eine Lebens­auf­ga­be zumeist, ohne Zögern, mit Mut und Ent­schlos­sen­heit auf­zu­neh­men und auszugestalten.

Anja Plaschg lebt an der Gren­ze zum Abgrund, gibt in jedes Lied etwas Wesent­li­ches von sich hin­ein und ver­braucht sich damit selbst. Plaschgs exklu­si­ve Büh­nen­auf­trit­te ver­stö­ren eben­so wie ihre Per­for­man­ces oder Video­clips. Sie betreibt alles ganz, oft ohne Rück­sicht auf das Publi­kum; sie singt, schreit, tobt auf der Büh­ne, hält inne und ist vom eige­nen Tun ergrif­fen, den Trä­nen nahe; sie steht nackt im Stall, in einer Her­de von Mast­schwei­nen auf dem Hof ihrer Eltern im öster­rei­chi­schen Gnas, läßt das fil­men, unter­legt es mit Ton­se­quen­zen. Sie ist der »Kunst­trä­ger« im bes­ten Ben­n­schen Sin­ne: »Der Kunst­trä­ger ist sta­tis­tisch aso­zi­al, weiß kaum etwas von vor ihm oder nach ihm, lebt nur sei­nem inne­ren Mate­ri­al, für das sam­melt er Ein­drü­cke in sich hin­ein, d.h. zieht sie nach innen, so tief nach innen, bis es sein Mate­ri­al berührt, unru­hig macht, zu Ent­la­dun­gen treibt. Er ist ganz unin­ter­es­siert an Ver­brei­tung, Flä­chen­wir­kung, Auf­nah­me­stei­ge­rung, an Kul­tur.« Womit sich der Kreis zur Fas­zi­na­ti­on schließt, einem wei­te­ren Cha­rak­te­ris­ti­kum von Anja Plaschgs Werk. Kom­men wir letzt­ma­lig auf das bis­lang maß­ge­bends­te Stück »Vater« zurück. Im Aus­klang wird der­wisch­haft die Auf­er­ste­hung des toten Vaters her­bei­be­schwo­ren: Um alles in der Welt, das dich am Leben hält / zer­schlag’ ich auch mein Him­mels­zelt / auf daß es unter dir zusam­men­fällt / und du dich neigst / und du dich end­lich wie­der zeigst. Kunst als magi­scher, sinn- und iden­ti­täts­stif­ten­der Reli­gi­ons­er­satz in Zei­ten des Bedeu­tungs­los­wer­dens, der Aus­höh­lung aller Wer­te? Viel­leicht. Plaschg holt zum Fina­le aus, die bis­he­ri­ge aus­schließ­li­che Kla­vier­be­glei­tung wird erwei­tert um Trom­pe­ten und Posau­nen, um Him­mels­klän­ge. Alles steigt ful­mi­nant zu ihrem von einer Wol­ke vor­ge­tra­ge­nen Gesang her­auf, ver­eint sich dort und ver­glüht. Hier ist ein lau­ter Moment der Ruhe geschaf­fen, Ben­ns Wal­lungs- und Rauschwert hat sein Maxi­mum erreicht. Was bleibt? Nicht flim­mern­de, rau­schen­de Ver­zü­ckung der Syn­ap­sen wie bei Richard Wag­ner, son­dern Erdung, Ein­sicht und – Katharsis.

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