Zu Gast ist die 19jährige Musikerin Anja Plaschg, welche mit ihrem ersten Album aus dem Stand einen internationalen Volltreffer erzielt hat. Sensationell ist, was sich hinter Lovetune For Vacuum verbirgt: kein postmoderner Pop-Mischmasch, sondern ersthafte, vielschichtige Musik, meistenteils am Klavier vorgetragen, mit Titeln wie »Thanatos« oder »Brother Of Sleep«. So ausgeprägt und intensiv wirkt Plaschgs Artistik, daß ein zweimaliges, pausenloses Durchhören des Albums unmöglich ist. Was hier künstlerisch geschieht, ist ungesund und beeindruckend zugleich.
Das Interview mit den beiden Schnupfnasen Christoph Grissemann und Dirk Stermann ist eine katastrophale Blamage. Nicht für den Gast Anja Plaschg, sondern für den ORF und das zeitgenössische, westliche Verständnis von Kultur. Der Kontrast zwischen einer mehrheitlich schweigenden oder verstört lächelnden 19jährigen und zwei abgebrühten Establishment-Blödelshowmastern ist so unerträglich peinlich, daß man ihn keine zwei Minuten aushält; ein Paradestück dafür, was man vom Kulturbetrieb zu erwarten hat und wie man zu sein hat, wenn man mitverdienen will. Plaschg hatte aus Unwissenheit, ja Weltfremdheit dem Sender vor dem Interview eine Liste zukommen lassen, die Fragen enthielt, welche nicht gestellt werden dürften – ein ebenso anachronistisches wie für die meisten unnachvollziehbar elitäres Unterfangen, vergleichbar etwa mit Gottfried Benns sagenhaften Rundfunkauftritten nach dem Krieg.
Anja Plaschg tat es ihm gleich und wurde zur Freude des SPÖ-Wähler-Publikums vorgeführt. Am 5. April 2015 feiert sie ihren 25. Geburtstag; derartige Geschichten hat sie weit hinter sich gelassen.
Mit Narrow erschien 2012 ebenfalls unter dem Pseudonym Soap & Skin ihr zweites Album, das in Österreich neun Wochen Platz eins der Album-Charts belegte. Haltet alle Uhren an, fordert Plaschg im ersten Lied (»Vater«) und trifft die ungesunde Sehnsucht nach Melancholie punktgenau und schmerzhaft – ein höchst wirkungsvoller Effekt. Weiter: Wo immer ich aufschlage find’ ich dich / Du fällst im Schatten der Tage / als Stille und Stich. Was ist passiert? Plaschgs geliebter Vater stirbt 2009 – im Jahr der Veröffentlichung ihres ersten Albums – aus heiterem Himmel. In eruptiven, selbstzerstörerischen Ausbrüchen arbeitet die Tochter mehrere Jahre an einem Lied zu seinen Ehren; erst nach drei Jahren erscheint es als Einleitung zu »Narrow«. Sie besingt, wie das lyrische Ich den Vater in Gestalt einer Made im Grabe besuchen kommt und seinem Zerfall beiwohnt: Der Sarg fällt zusammen / die Blumen fallen in die Wangen / Zuerst weiß, dann blau, dann grau, dann grün / dann Schaum, dann braun und Laub und Staub und kommt dann wieder zur Besinnung, indem es fragt und fleht: Bitte schlag dich aus meinem Kopf, meinem Haus / wie sonst halte ich den Graus aus? / Mit welchem Herz, mit welchem Körper / aus? Bedenkt man, daß Plaschgs künstlerische Prägung wesentlich durch Franz Schubert erfolgte und eine ihrer ersten Veröffentlichungen 2007 die Interpretation von dessen »Im Dorfe« war, wird nachvollziehbar, aus welcher Richtung sie kommt. Irrational melancholische Anklänge finden sich in ihren Zeilen, welche an ein weiteres Stück aus Schuberts Winterreise (1827) erinnern, den »Lindenbaum«: Da hab’ ich noch im Dunkel / Die Augen zugemacht.
Gottfried Benn schreibt in seinem epochalen Text über die »Probleme der Lyrik« (1951): »Lyrik muß entweder exorbitant sein, oder gar nicht. Das gehört zu ihrem Wesen« und ferner, zum Verständnis der inneren Logik des künstlerischen Auftrages: »Das Gedicht ist schon fertig, ehe es begonnen hat. [Der Dichter] weiß nur seinen Text noch nicht. Das Gedicht kann gar nicht anders lauten, als es eben lautet, wenn es fertig ist.« All dem folgt Plaschg bewußt oder unbewußt, schlafwandlerisch vielleicht, beweist doch die Qualität ihres frühvollendeten Werkes, daß sie es ohne jede Rücksicht ernst meint. Ein hochpersönliches Geschehen wie der Tod des Vaters strahlt vom Einzelnen auf die Gesamtheit der Adressaten.
Es ist genau umgekehrt wie beim großen Bruch Ende der Sechziger Jahre: Während diese Kunst dekonstruierte, verallgemeinerte, den Tod der Väter, nebst ihrer Traditionen, das Kappen aller Verbindungen feierte, dreht Anja Plaschg den Spieß um und rekonstruiert den Tod des Vaters zum singulären, hochspezifischen Ereignis. Ihre Kunst ist exklusiv, sie schließt mehr Adressaten aus als ein. Dem Hörer tritt eine zur Kunst berufene Einzelne entgegen, die weiß, was sie soll, nicht, was sie bewirkt. Ein vergessener Begriff drängt hier an die Oberfläche, die Inspiration. Der Künstler als Medium, dem ein Geist eingehaucht wurde, der allein das eine Kunstwerk mit seinem Hirn, seiner Stimme, seiner Hand für die übrige Menschheit sichtbar macht. Ein Anhauch aus Sphären, an die der Wähler – dieses schreckliche Kind der Neuzeit (Peter Sloterdijk), welches in die totale Medienautokratie des 21. Jahrhunderts geworfen ist und mitschwimmt – nicht mehr anknüpfen kann. Nochmals Gottfried Benn in »Probleme der Lyrik« zur Funktionsweise der Inspiration: »Das lyrische Ich ist ein durchbrochenes Ich, ein Gitter-Ich, fluchterfahren, trauergeweiht. Immer wartet es auf seine Stunde, in der es sich für Augenblicke erwärmt, wartet auf seine südlichen Komplexe, mit ihrem Wallungswert – nämlich Rauschwert – in dem die Zusammenhangsdurchstoßung, das heißt, die Wirklichkeitszertrümmerung vollzogen werden kann«.
Womit man bei einem zweiten, in bezug auf Kunst heute – da jeder ein Künstler ist – verdrängten Begriff angelangt ist, dem Genie. Das Genie als schöpferisches Individuum hebt sich weit über die Masse. Das Genie lebt an der Grenze zum Abgrund, balanciert gezogen Werden und gestoßen Sein mit schöpferischem Erfolg. Zu dieser Wechselwirkung bedarf es zweierlei: der willentlichen Unterordnung des Adressaten unter die Schöpfung des Genies, folglich sein Anerkennen des genialen, meint eingegebenen, inspirierten Werkes als Setzung, und zweitens, von der anderen Seite betrachtet, der inneren Bereitschaft des Genies, diese mit Gnade und Bürde gleichermaßen verbundene Aufgabe, eine Lebensaufgabe zumeist, ohne Zögern, mit Mut und Entschlossenheit aufzunehmen und auszugestalten.
Anja Plaschg lebt an der Grenze zum Abgrund, gibt in jedes Lied etwas Wesentliches von sich hinein und verbraucht sich damit selbst. Plaschgs exklusive Bühnenauftritte verstören ebenso wie ihre Performances oder Videoclips. Sie betreibt alles ganz, oft ohne Rücksicht auf das Publikum; sie singt, schreit, tobt auf der Bühne, hält inne und ist vom eigenen Tun ergriffen, den Tränen nahe; sie steht nackt im Stall, in einer Herde von Mastschweinen auf dem Hof ihrer Eltern im österreichischen Gnas, läßt das filmen, unterlegt es mit Tonsequenzen. Sie ist der »Kunstträger« im besten Bennschen Sinne: »Der Kunstträger ist statistisch asozial, weiß kaum etwas von vor ihm oder nach ihm, lebt nur seinem inneren Material, für das sammelt er Eindrücke in sich hinein, d.h. zieht sie nach innen, so tief nach innen, bis es sein Material berührt, unruhig macht, zu Entladungen treibt. Er ist ganz uninteressiert an Verbreitung, Flächenwirkung, Aufnahmesteigerung, an Kultur.« Womit sich der Kreis zur Faszination schließt, einem weiteren Charakteristikum von Anja Plaschgs Werk. Kommen wir letztmalig auf das bislang maßgebendste Stück »Vater« zurück. Im Ausklang wird derwischhaft die Auferstehung des toten Vaters herbeibeschworen: Um alles in der Welt, das dich am Leben hält / zerschlag’ ich auch mein Himmelszelt / auf daß es unter dir zusammenfällt / und du dich neigst / und du dich endlich wieder zeigst. Kunst als magischer, sinn- und identitätsstiftender Religionsersatz in Zeiten des Bedeutungsloswerdens, der Aushöhlung aller Werte? Vielleicht. Plaschg holt zum Finale aus, die bisherige ausschließliche Klavierbegleitung wird erweitert um Trompeten und Posaunen, um Himmelsklänge. Alles steigt fulminant zu ihrem von einer Wolke vorgetragenen Gesang herauf, vereint sich dort und verglüht. Hier ist ein lauter Moment der Ruhe geschaffen, Benns Wallungs- und Rauschwert hat sein Maximum erreicht. Was bleibt? Nicht flimmernde, rauschende Verzückung der Synapsen wie bei Richard Wagner, sondern Erdung, Einsicht und – Katharsis.