Behaust im Zustand der Zivilisation

Vielleicht gehört dies zu den größten geistigen Herausforderungen: zu erfassen, was der jeweilige geschichtliche Zustand mit dem Menschen anstellt, wohinein er ihn versetzt, wie er ihn formt und lenkt. – Wer und wo sind wir, sobald wir im Zustand der »Zivilisation« ankommen und uns dort beherbergen? Was haben wir verloren, was gewonnen?

Wo eine siegende, gewaltig heraufziehende Tendenz entsteht, reißt sie alles an sich: das Bisherige erfährt eine völlige Umdeutung; es wird den veränderten Bedingungen »angepaßt«. Und irgendwann ist der Punkt erreicht, da gibt es kein »Dazwischen« mehr: Entweder man gehört der neuen Macht an, hat ihre Ethik verinnerlicht, das heißt, man spricht aus ihr wie sie aus einem selber spricht, ist also ununterscheidbar geworden mit dem Denken und Wollen der Tendenz. Oder eben nicht, was wiederum bedeutet, man bleibt ihrer Ethik fern, übernimmt die neuen Befehle nicht, sondern steht verdutzt bis verzweifelt neben der Macht und begreift einfach nicht, was sich da eigentlich mit den Dingen vollzieht, und warum heute schwarz sein soll, was die letzten Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende weiß war. Beide »Wahrheiten«, die alte, aus den Tiefen der Geschichte geboren, und die neue, einer modernen Ideologie entsprungen, stehen einander unversöhnlich gegenüber. Es kommt zu Konflikten, die eigentlich keine sind, da der Sieger von vornherein feststeht. – Wenn alle Institutionen, alle staatlichen Organe Teil der Tendenz geworden sind, die Tendenzzugehörigkeit also die alte Staatsparteienzugehörigkeit ersetzt hat, ist faktisch jene Totalität erreicht, die kein »Dazwischen« mehr duldet, sondern nach einem Ja oder Nein verlangt. Das Denken und Wollen der Tendenz entspricht dann dem einer allmächtigen »Partei«, die ihre Anhänger privilegiert und ihre Gegner ausgrenzt. Denn das ist das Wesen aller Totalitäten; daß sie zur Positionierung zwingen. Und meine Position zeigt sich darin, ob ich noch in der Lage bin, das Verhängnisvolle, womöglich sogar Verbrecherische der Tendenz zu erkennen, und wenn ja, ob ich dann den Mut und die Kraft aufbringe, mich gegen ihre Macht zu stellen, oder ob ich längst selber Teil des Verhängnisvollen bin.

Homo Viator, Homo Creator und Homo Absolutus fordern dazu auf, einen Blick hinter die sozial- oder kulturpsychologischen Kulissen zu werfen, welche die Menschen in Jahrtausenden um sich herum aufgebaut haben und die seitdem unsere »Wirklichkeit« als unsere »geistige Heimat« bilden. – Was aber, wenn diese Kulissen, obwohl als solche längst durchschaut, immer noch dazu dienen müssen, die Welt zu dekorieren und mit Inhalten zu füllen, weil der Mensch mit diesen Kulissen nahezu identisch geworden ist und ihm die Welt dahinter deshalb solange verschlossen bleiben muß, wie er nicht bereit ist, aus diesen »gemachten« Wirklichkeiten auszubrechen und eine »existentielle Wanderschaft« anzutreten? Weil jedoch eine solche Wanderschaft zunächst einmal notwendig durch die dunklen, unwirtlichen, lebensfeindlichen Schluchten der Einsamkeit führt, löst schon der Gedanke daran Schrecken und Abwehrreflexe aus. Der Homo Viator, der nach der Macht der Tendenzen fragt, wagte allerdings diesen Aufbruch; heraus aus dem Potemkinschen Dorf und global village heutiger Wirklichkeiten, da ihm weder die abgestandene Luft eines altväterlichen Refugiums noch die neue Welt des technisch-moralisch dressierten Einheitsmenschen eine echte Heimat bieten konnten. Was blieb, war die Suche nach der Selbständigkeit des schaffenden Menschen. Also wurde Homo Viator zum Homo Creator, worin die »existentielle Wanderschaft« ihren Höhepunkt erreichte. Es folgte, nach dieser langen Strecke, auf der sich die Wanderer bereits sehr weit vom »Allgemeinmenschlichen« entfernt hatten, das Resümee in Gestalt des Homo Absolutus: der Versuch einer totalen Loslösung als notwendige Antwort auf das prinzipiell entbindende Leben nach den Kulturen.

»Nach den Kulturen« heißt also, frei von allen metaphysischen Verpflichtungen und kulturellen Elementen zu leben; nicht, weil es diese Elemente nicht mehr gäbe, sondern weil von ihnen kein allgemein Verbindliches mehr ausgeht, sondern nur noch Beliebiges. Die Elementarkräfte des Lebens, die sich in der »Kultur« noch dauernd im Streit miteinander befanden, haben nach den Kulturen dieses Potential eingebüßt, da der Streit entschieden scheint und von nun an wieder nichts mehr zur Wahl steht, gleich dem Zustand vor den Kulturen, dem der »Natur«. Auf diesen Zustand hat der abendländische Mensch seit gut fünfhundert Jahren hingearbeitet. Fast die gesamte Geschichte, einschließlich der Katastrophen des 20. Jahrhunderts, legt Zeugnis davon ab. Es war ein mühseliger, aufreibender Prozeß, und er dauert noch an. Sein Ende scheint jedoch absehbar, und manche haben es längst erreicht und stehen nun vor einer Zukunft, wie es noch keine gegeben hat. Der Homo Absolutus, der losgelöste Mensch, durch keine nicht selber ausgesuchte Tradition mehr gehalten, hat alle Freiheit, sich und der Welt einen (neuen) Sinn zu geben. Auf sich alleine gestellt wie noch kein Mensch zuvor, ist er genötigt, diese Leere aufzufüllen und mit etwas Eigenem zu gestalten, sich als einzelner einzubringen in eine Welt, die von sich aus kein »Gemeinsames«, keinen kulturellen Kanon, keine metaphysische oder soziale Geborgenheit mehr bietet. Die Frage der Zugehörigkeit ist von da an mit der Geburt des einzelnen nicht beantwortet, sondern erst aufgeworfen. Er muß Zugehörigkeit selber herstellen, sie ist ihm nicht mehr automatisch gegeben, und die Qualität seines Lebens wird davon abhängen, inwieweit ihm das gelingt. Ortlos und frei von sozialen Zwängen steht ihm theoretisch alles offen. Begreift er diese Chance nicht nur als Möglichkeit materieller Versorgung und privater Eigengestaltung, sondern auch und vielmehr als Aufforderung, seine Stellung in der Welt »absolut« auszuleben, dann wird er ins Leben treten wie ein Spieler ins Kasino: es kommt allein auf ihn an, nur auf ihn und auf die Macht des Zufalls, des »Schicksals«, dem er alles verdankt.

Dem absoluten Menschen vorangegangen ist der Schöpfer seiner selbst, der Homo Creator. Dieser beschreibt den Menschen, der sich die Welt nach seinem Bilde geschaffen hat und dadurch in strengen Gegensatz zur übrigen Natur geriet. Denn die Natur außerhalb derjenigen des Menschen will und ist etwas anderes als jene, von welcher der Mensch glaubt, sie sei um seinetwillen da. Tatsächlich aber geht die Natur, das heißt das Sein der Dinge jenseits des Menschen, diesen nichts an. Denn beide Welten »verstehen« einander nicht, sind im technischen Sinne inkompatibel. Das Universum »weiß« nichts vom Menschen, während er aber etwas über das Universum zu wissen meint. Diese Asymmetrie innerhalb des Daseins konnte nur deshalb zustande kommen, weil der Mensch im Laufe seiner Evolution von einer Technik der Natur selber zum Techniker von Natur ge- worden ist. Praktisch vollzog sich jene Entwicklung über die drei Zustände oder Lebensformen "Natur", "Kultur", "Zivilisation", deren jeweilige »Wesen« Hauptgegenstand der Homines sind.

Im Creator geht es nun um ebenjene Techniken, die der Mensch ausbildete, um in einer Welt überleben zu können, die ihn aus ihren natürlichen Schutzräumen entlassen und damit »zu sich selbst« freigegeben hatte. Dadurch wurde der Mensch innerhalb der universellen Evolution das vielleicht einzige »heimatlose« Wesen, dessen ganzes Streben folglich darauf gerichtet ist, selber herzustellen, also künstlich zu erschaffen, was die Natur ihm vorenthält. Alles, was der Mensch betreibt, ist Ausdruck seiner Fähigkeit zur Technik. Und eben darüber hat er den Blick für das Technische seiner Techniken verloren, die er schließlich für »gegeben« hielt, obwohl sie von ihm selber »gemacht« worden waren. Zugleich lag darin aber auch die Funktion der Technik, nämlich über das Gemachte hinwegzutäuschen, um sich gewissermaßen von hinten wieder in die Natur einzuschleichen. Seitdem führt der Mensch ein »falsches« oder »verdecktes« Leben, da er sich innerhalb der natürlichen Welt für etwas gibt, das er gar nicht ist, aber gerne sein will: ein in der Welt aufgehobenes Wesen.

Im Unterschied zur »echten« Natur bedeutet »Zivilisation« daher den Zustand des Als-ob; jeder kann seine Präferenz für sich selber leben und so tun, als ob er damit noch einem Zustand angehörte, aus dem er längst entlassen worden ist: man kann in die Kirche gehen, so als ob es einen Gott gäbe; man kann Allah, Jahwe, Shiva oder Erdgeister anbeten, so als ob noch eine »Kultur« dahinter stünde. Man kann Monarchist sein, Aristokrat, Nationalist oder Romantiker, so als ob man damit einem wirkmächtigen Prinzip anhinge, das seinen historischen Auftritt noch nicht gehabt hat, weil es von seinen Anhängern zum absoluten Prinzip erklärt wurde, das sich jederzeit wiedererrichten lasse, unabhängig vom Lauf der Weltgeschichte und der Entwicklung der Dinge.

Es kommt also darauf an, die Tendenzen, von denen unser Denken abhängt, als jene Techniken zu erkennen, mit deren Hilfe der Mensch sich immer wieder neue Vorwände erschafft, das »Leben« nicht sich selbst zu überlassen, sondern permanent davon abzulenken. Daher ist die »Zivilisation« auch nur über die Techniken zu verstehen, die ihr zugrunde liegen und die im Wesen des allgemeinen Menschen bereits präformiert sind.

Denn im Laufe der Kultur hat der Mensch sein Besonderes und Eigenartigstes eingebüßt, das ihn auf eine spezifische Weise »frei« sein läßt, nämlich seine Freiheit zur Weltüberlegenheit, die eine Ahnung enthält vom Wesen der Dinge hinter dem, was der Mensch qua seiner religiösen, sozialen, politischen Eigenschaften aus der Welt zu machen veranlagt ist. Ihm kamen seine Grundzweifel abhanden, die ihn über die Welt der dargereichten Dinge heben, sein Dubito ergo cogito ergo sum, das ihn immer wieder mit seinem heimlichen Wissen um die eigene Fremdheit in der Welt konfrontierte sowie mit dem Verdacht, einem traumschweren Wahn aufzusitzen, sobald er die Welt für das nimmt, was wir uns aufgrund unserer eingespielten Funktionsweisen von ihr als das Wirkliche gegenseitig anzunehmen empfehlen. An die Stelle des Staunens oder Denkens über die Dinge trat die Gewohnheit und das Bedürfnis nach sicherer Bindung an irgend etwas. Dadurch ist der Mensch im Laufe seiner kulturellen Entwicklung mehr und mehr zu einer Kopiermaschine derjenigen Eigenschaften geworden, die ihn am sichersten im jeweiligen Hier und Jetzt beherbergen. Er wurde zum Reflektor seiner eigens dafür geschaffenen Systeme, Programme, Kulissen, die uns seitdem überall umgeben. Denn für jedes Lebewesen ist die Welt Abbild und Konstruktion der eigenen Seinsweise. So hat der Mensch die Welt zu einer Spiegelung seiner Ängste und Bedürfnisse gemacht, wodurch ihr »Eigentliches« für ihn unsichtbar wurde. Das, was die Welt für uns heute darstellt, ist nichts als das Psychogramm derjenigen Spezies, die sich wie ein Schimmelpilz über die ganze Erde verbreitet und dadurch alles Echte und Erhabene des Lebens, ja, das Wesentliche beinahe aller Dinge vernichtet hat. – Warum das so gekommen ist und die wenigen menschlichen Widersetzungen in Form philosophischen Scharfsinns immer nur kurz aufleuchteten, ohne den Trend oder die Technik zur Tendenz je ernsthaft gefährden zu können, versuchen die drei Homines zu ergründen.

Dabei fordert der Homo Creator vielleicht die meiste Aufmerksamkeit und Bereitschaft zum Wagnis fremder Perspektiven, denn er steigt noch einmal eine Stufe tiefer oder höher – je nachdem – als seine beiden Verwandten; ungeachtet der Gefahr, daß ihm dorthin, wo er schonungslos an den Kern der Dinge zu gelangen versucht, niemand mehr zu folgen bereit ist, weil dies eine Verletzung eingeübter Verhaltensnormen bedeutete.

Im Zustand der »Zivilisation« ist jedoch die Zeit der großen Abschiede gekommen. Es gilt, eine Welt zu verlieren – und mehr als eine Welt; nämlich all jene Vorstellungen, die als Surrogate, Ersatzhandlungen und allzu durchsichtige Selbstbetrügereien das Denken blockieren und uns stumpfsinnig gemacht haben für den Blick auf das ganz »Andere«; diese besondere menschliche Qualität, der eigenen Natur in die Quere zu kommen, ihr zu widersprechen. – Der Natur zu widersprechen bedeutet, der herrschenden Welt den Fehdehandschuh hinzuwerfen, weil man sich von dem, was das Allgemeinmenschliche aus ihr gemacht hat, schlechterdings beleidigt fühlt.

Denn seine sozial-biologischen Funktionsweisen zwingen dem Menschen gewisse Verhaltensweisen auch dann noch auf, wenn sich die ursprünglichen Bedingungen dieser Funktionen längst geändert haben oder ein Erkenntnisgrad erreicht worden ist, der andere Herangehensweisen erfordert. So verhalten sich die allermeisten Menschen wie Hunde, die noch überall ihre Markierungen setzen, obwohl das in dem von Menschen beherrschten und domestizierten Habitat sinnlos geworden ist, aber als Gewohnheitsrudiment den Hund in seiner Hundewelt weiterhin steuert. Das Tier markiert, so als ob es tatsächlich noch ein Revier abzugrenzen hätte. Ein ähnlicher Instinkt lebt im Menschen fort, wenn er etwa auf seine ältesten metaphysischen Illusionen zurückgreift. – Käme nun ein einzelner Hund daher und wiese auf die Sinnlosigkeit des Markierens hin und erklärte zudem, daß die Funktionsweisen des Hundes nur für Hunde gälten und außerhalb ihrer Welt bedeutungslos seien, also nicht für allgemeine Wahrheiten gehalten werden dürften, ginge ein Aufschrei durch die Hundewelt und alle würden rufen: hinfort mit ihm, der sich anmaßend über unsere Art stellt! Daher ist es beinahe unmöglich, sinnvoll über die eigenen Arteigenschaften hinausdenken zu wollen, um die Natur des Menschen oder die Welt darüber hinweg zu verstehen. Einige Philosophen haben das seit jeher versucht – und alle einen hohen Preis dafür bezahlt.

Denn die Furcht des Menschen, womöglich grundlegender Irrtümer, die das Leben lebenswert erhalten, überführt zu werden, verhindert, über die jeweilige Entwicklungsstufe derjenigen Sozietät hinauszudenken, der man entstammt. Weil Menschen naturgemäß ihren artspezifischen Bedürfnissen gehorchen, wird jeder als Schädling aus der Gruppe verstoßen, der es wagt, diese Bedürfnisse selber zum Gegenstand seines Denkens
zu machen und sie als jene Funktionalitäten zu benennen, die dem »objektiven Erkennen« einer Sache stets im Wege stehen. – Hier beginnt die Einsamkeit des Philosophen, die eben auch die Einsamkeit der drei Homines ist.

So bilden diese drei Bücher gewissermaßen den Auftakt oder die Einleitung für ein Denken, das anders und gründlicher fragen lernen will, als dies unter den Bedingungen der »Zivilisation« üblich geworden ist. Sich auf die »existentielle Wanderschaft« der drei Homines einzulassen, bedeutet daher auch und vor allem, seine sozialen, politischen und religiösen Gewohnheiten zu hintergehen, sich als Mensch auf ebendiese Weise »untreu« zu werden und dadurch, fern der alten »Heimat«, seinen Blick für das Wesen dieser Heimat zu schärfen – um, möglicherweise, gereift und verwandelt in sie zurückzukehren.

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