Tabubruch eines Etablierten

Armin Nassehi ist, gemessen am Zustand des akademischen Establishments in der BRD, ein mutiger, ein freier Mann. Der in München lehrende Soziologe legt uns ein zwar im üblichen Slang geschriebenes, aber lesenswertes Buch vor. Es geht ihm um die Frage, wie sich die krisenhafte Gesellschaft der Gegenwart in ihrer Komplexität angemessen erfassen läßt, damit über politische »Lösungsansätze« überhaupt nachgedacht werden kann. Mutig ist Nassehi, weil er dabei ein Tabu bricht: Er publiziert im Anhang seines Textes eine Korrespondenz, die er mit Götz Kubitschek geführt hat. Daß hier ein professoraler Vertreter der guten Gesellschaft den hiesigen totalitären Konsens aufkündigt und so sachlich wie fair mit dem profiliertesten Vertreter der »Neuen Rechten« spricht, hat angesichts der Distanzierungsorgien einer als Alternative angetretenen neuen Partei seinen besonderen Gout.

Wie kühn sich der Soziologe selbst weiß, erkennt man daran, daß sein ganzes Buch durchzogen ist von Absicherungs- und Rechtfertigungsformeln, die zugleich eine typische Reaktion etablierter Eliten auf krisenhafte Erfahrungen verraten. Die »empirischen« Befunde Kubitscheks zur Lage nämlich teilt Nassehi offensichtlich, muß darüber aber um so mehr die Differenz zwischen seiner Position und jener der Rechten betonen: Er kennt die einschlägigen Ausschlußmechanismen seiner Leute und benennt sie im Buch. Daß sich Nassehi dennoch auf einen solchen Dialog einläßt, könnte man daher auch systemisch-funktional deuten – seiner sympathischen Gesprächsbereitschaft auf intellektuellem Feld entspricht die (un)verschämte Fühlungnahme Sigmar Gabriels, des Pop-Beauftragten der SPD, kürzlich mit der Dresdner PEGIDA. In der »Anschlußfähigkeit« (Nassehi) der rechten Lagebeurteilung wittert man offenbar nämlich dort eine reale Gefahr, wo ein Marxist in seiner vermeintlich überholten Beschreibungsweise von einer herrschenden Klasse spräche – dieser wird allmählich die Fragilität ihrer Stellung bewußt.

Nassehis Buch ist jenseits des Symptomatischen auch substantiell lesenswert, da all jene seit Ende des 19. Jahrhunderts virulenten und diagnostizierten Probleme moderner Gesellschaften durch die wissenschaftliche, technologische und kapitalwirtschaftliche Entwicklung vielfach potenziert wurden. Der klassische linke Zugriff auf diese Herausforderungen ist Nassehi zufolge sträflich »unterkomplex«: Die Idee, Gesellschaften sozialtechnisch nach Plan »umzubauen«, verkenne die reale Komplexität der Verhältnisse. Linke Politik besitze daher »am Ende doch eine autoritäre Grundstruktur«, um ihre Visionen gegen die komplexe Wirklichkeit durchzusetzen. Nassehi gesteht sich sogar ein, daß der »Nationalsozialismus eher eine linke Bewegung« gewesen sei, insofern er »die revolutionäre Herstellung des Neuen Menschen wollte«.

Einem konservativen Zugriff, der in der Krise auf die Einsichtsfähigkeit der Persönlichkeit baut, bescheinigt der Soziologe wiederum eine im Grunde idealistische Verkennung der Tatsache, daß Eigen- und Kollektivinteressen meist weit auseinanderklafften. Einer »rechten« Position schließlich unterstellt er die Tendenz zur rabiaten Komplexitätsreduktion in ebenso rabiaten Homogenisierungsphantasien: Man »transzendiere« dort das Volk zur unhintergehbaren Orientierungsinstanz, die alles richten solle und dabei jede Abweichung, alles »Fremde« auszumerzen drohe. Daß es Sekten gibt, die Utopien ethnischer oder rassischer Reinheit pflegten und pflegen, sei unbestritten – wo solches aber einer Rechten generell unterstellt wird, zeigt dies nur, wie man sich selbst von einem Phantasma zum Narren halten läßt. Daß solche Vorbehalte Nassehis auch aus einer biographischen Wurzel genährt werden, tritt in der Korrespondenz zutage: Es ist die Sorge, als Sohn eines Persers und einer Schwäbin nicht »rein« genug für eine imaginierte »Volksgemeinschaft« zu sein. Daran erweist sich die Macht der Diskursordnung, die vom mediopolitischen Komplex hierzulande, und nicht nur dort, exekutiert wird. Ein echter Dialog hätte hier erst zu beginnen, denn es gäbe für beide Seiten viel voneinander zu lernen: die komplexe Denktradition der Rechten für die einen und ernstzunehmende Diagnosen einer zeitgemäßen Soziologie für die anderen. Es wird sich indes zeigen müssen, ob Nassehi nicht nur mutig, sondern auch tapfer ist und weiter offen bleibt, wenn die Diskursgesellschaft in ihrer »repressiven Toleranz« (Gerd Bergfleth) das Feuer auf ihn eröffnet.

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Aus dem über dreißig Seiten langen Briefwechsel zwischen Armin Nassehi und Götz Kubitschek drucken wir im folgenden zwei Passagen ab, die repräsentativ sind für den Ton des Dialogs und den zentralen Diskussionsgegenstand.

Armin Nassehi an Götz Kubitschek, 4. April 2014

Ihren empirischen Beschreibungen vermag ich vollends zu folgen. Dort, wo das Handeln der Menschen unmittelbare Folgen für sie selbst hat beziehungsweise wo sie Unsicherheit erfahren, werden sie »konservativ« in dem Sinne, daß sie ziemlich deutlich zwischen dem »Eigenen« und dem »Fremden« unterscheiden – gemeint ist damit: zwischen dem, was als vertraut behandelt wird, und dem, was als unvertraut erlebt wird. Hier haben Sie ebenso Alltagsevidenz wie auch die sozialwissenschaftliche Forschung auf Ihrer Seite. Das wissen wir genau. Auch Ihrer Bewertung, wie einfach es sich diejenigen machen, die, wie Sie formulieren, ausweichen können, folge ich. Das ist in der Tat die offene Wunde derjenigen, von denen ich am Beginn unseres Gesprächs als denjenigen sprach, die links reden und rechts leben.

Interessant wäre ja das Gedankenexperiment, ob wir denn überhaupt Differenzen hätten, würden wir uns unsere Gesellschaft ganz ohne Migranten vorstellen, oder besser: ganz ohne solche, denen man so etwas wie Fremdheit zuschreiben würde – ganz abgesehen davon, daß ich selbst ein Abkömmling von Migration bin, allerdings mit einer sehr deutschen Sozialisation. Mein Vater kam 1954 aus Persien nach Deutschland zum Studieren und blieb, meine Mutter war Schwäbin, kam aus einer sehr konservativen katholischen Familie, was in den 1950er und 1960er Jahren nicht ganz einfach war. Aber zurück zum Gedankenexperiment: Gäbe es zwischen uns überhaupt Differenzen?

Ich meine: ja. Diese liegen darin, daß eine Position wie die Ihre letztlich auf so etwas wie die Idee stabiler Fremdheit angewiesen ist – und vielleicht ist es das, was eine »rechte« Position ausmacht, denn letztlich haben Sie ein Verständnis der Gesellschaft, als handle es sich bei ihr um ein Gruppenphänomen, als sei eine Gesellschaft eine soziale Gruppe, in der Lebensorientierungen, Lebensformen, sozialmoralische Werte usw. wirklich geteilt würden und von der sich so etwas wie Fremdgruppen tatsächlich abheben können.

Götz Kubitschek an Armin Nassehi, 8. April 2014

Ich komme zu den anderen Fragestellungen Ihres Briefs, sie hängen damit zusammen: Sehr wohl sehe ich, sehen wir das Desintegrative in unserer Gesellschaft, und es ist fast billig, zu sagen, daß auch uns manches guterzogene Migrantenkind sympathischer ist und nähersteht als jene anmaßenden, deutschen Rotzlöffel, denen noch nie eine äußere oder innere Not Beine machte. Dennoch sind diese Rotzlöffel Teil unseres Volkes, und wenn der seit Jahrzehnten abwesende Ernstfall im großen oder im kleinen den sozialen, staatlich finanzierten Reparaturbetrieb zum Erliegen bringt, wird sich jeder sofort daran erinnern, wer »Wir« ist und wer »Nicht Wir«. Die Fremdheit, die daraus resultiert, ist in der Tat ziemlich stabil, die Anverwandlung des Fremden in das Eigene ein langsamer Prozeß. Und: Die Abgrenzung des Ich und des Wir von etwas Fremdem ist schlicht eine Konstante. Ist es nicht so, daß nirgends die Ausgrenzungsmechanismen gnadenloser arbeiten als aus Gruppen heraus, die Gruppenexistenzen leugnen? Liegt dies nicht an ihrer grundsätzlichen Instabilität?

Die Gruppenexistenz des »Wir« im nationalen und damit auch ethnisch gebundenen Sinn ist unhintergehbar, davon bin ich überzeugt. Sie spielt derzeit vielleicht eine untergeordnete Rolle, im intellektuellen Milieu sowieso; die Zuschreibung, Deutscher zu sein, entfaltet aber sofort ihre Dynamik, wo der Ernstfall auch nur vorbeistreicht (Fußball, Auslandseinsätze, Exportüberschuß). Daß dies übrigens unter anderem eine Folge der extrem negativen und zum Teil von außen hereingetragenen Geschichtspolitik ist, haben die klügeren Linken und CDU-Konservativen irgendwann bemerkt und es eine Zeitlang mit Normalitätsappellen und vorsichtigen Schlußstrich-Parolen versucht – vergebens.

Von diesem Punkt aus kann ich nun Ihre Frage beantworten, ob es zwischen uns Differenzen gäbe, wenn dieses Land keine oder nur ganz wenige Migranten hätte. Wir hätten keine, wenn Sie mir zustimmten, daß das deutsche Volk ein sehr besonderes Volk ist und daß es das Ziel unserer Bemühungen sein muß, diese Besonderheiten zum Blühen zu bringen, immer wieder aufs neue.

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