Der Krieg setzt für manchen, der ihn ausficht, der Banalität und Langeweile der Friedensexistenz ein Ende: Es geht plötzlich um etwas, man schweift aus, spürt das Blut auf andere Weise kreisen und kommt zu jenen kleinen Portionen an Macht und Ansehen, die im Zivilen keine Bedeutung haben und zu denen es im bürgerlichen Leben nicht reichte. Derlei Daseinssteigerung zu ahnen und auf sie zu hoffen: das war 1914 neben nationaler Begeisterung, Pflichtbewußtsein und Gruppenzwang ein Aspekt für etliche Freiwilligenmeldungen. Für den Dichter Georg Trakl war diese existentielle Komponente sogar der einzige Grund – oder eher Abgrund: fort an die Front, um sich selbst zu entkommen oder sich seiner selbst sogar zu entledigen. Das Freiwillige ist: das Erlösende einer Entscheidung.
Georg Trakl wurde 1887 in Salzburg geboren. In der Schule scheiterte er und begann eine Lehre als Apotheker, auf die ein Pharmaziestudium in Wien folgte. Er legte 1910 sein Examen ab und trat als Einjährig-Freiwilliger in die k.u.k. Sanitätsabteilung Nr. 2 ein. Nach dem Ende der Dienstzeit gelang es Trakl aufgrund seiner seelisch-psychischen Disposition nicht, beruflich Fuß zu fassen. Statt dessen lebte er an der Seite seiner Schwester, einer hochbegabten Pianistin, das Leben eines Bohemiens mit lyrischem Genie. Die Nähe zu Margarethe unterschritt bald jedes bürgerliche Maß, die inzestuöse Beziehung endete in einem Desaster.
Halt fand Trakl in dem vermögenden Verleger und Freund Ludwig von Ficker, bei dessen Familie er über Monate wohnte und der in seiner Literaturzeitschrift, dem Brenner, die meisten Gedichte Trakls veröffentlichte. Ihr Ton galt weit über den Freundeskreis hinaus als neu und genial, abgründig und erschreckend. Diese Verse sind aber vor allem eines: sie sind vom Lebensvollzug Trakls nicht zu trennen, sind nicht distanziert oder artistisch, sondern existentiell im Wortsinn und – wie stets in derlei seltenen Fällen – mit einem Siegel versehen durch das konsequente, nachgerade gesucht frühe Ende des Dichters.
Trakl meldete sich mit Kriegsbeginn 1914 freiwillig und rückte am 24. August ein. Seine in Galizien stationierte Einheit wurde in die Schlacht um Lemberg geworfen (6. bis 11. September), das an die Russen verlorengegangen war, nun zurückerobert werden und den Ausgangspunkt bilden sollte für einen raumgreifenden Vorstoß weit in die Ukraine hinein. Dieser Plan mißlang ganz und gar, die österreichische Armee erlitt eine verheerende Niederlage und taumelte in einen wirren, panikartigen Rückzug.
Trakl mußte als Sanitäter zwei lange Tage auf sich allein gestellt in einem provisorischen Lazarett das Sterben seiner gräßlich verwundeten Kameraden mit ansehen, ohne daß Hilfe oder wenigstens Linderung möglich gewesen wäre. Ein Selbstmordversuch Trakls wurde auf dem Rückzug verhindert, sein täglich geäußerter, rabiater Wunsch nach einem Fronteinsatz wurde abgelehnt. Im Krakauer Garnisonshospital, in das er zur Beobachtung seines Geisteszustands eingewiesen worden war, starrte er durch das vergitterte Fenster und setzte seinem Leben am 3. November mit einer Überdosis Kokain ein Ende. Fehlt noch der Nachtrag, daß Trakl über die schrecklichen Tage in Galizien ein Gedicht verfaßte, überschrieben mit dem Namen jenes Ortes, in dessen Nähe er in seiner Scheune, diesem improvisierten Lazarett, verzweifelte: »Grodek«. Nebenstehend ist es als Faksimile abgedruckt.
Gibt es einen schlapperen Freiwilligen als Trakl? Einen, der noch weniger verstanden hätte von jenem Völkerringen, in dessen Gemetzel er hineingeriet? Dem schon eine kurze Spanne in einer der »Todesgruben von Galizien« so zusetzte, daß er total ausfel, während seine Kameraden aus den Därmen geschlachteter Katzen jenes Material gewannen, das sie zum Vernähen der offenen Leiber benötigten? Der nicht aus noch ein wußte, weil vor der Lazarett-Scheune, in der er es nicht mehr aushielt, widerständische Ruthenen an den Bäumen aufgeknüpft baumelten? Dem es die Luft abschnürte, weil der letzte der Gehenkten – so berichtete es der entsetzte Trakl – sich die Schlinge selbst um den Hals gelegt hatte (»der Menschheit ganzer Jammer, hier habe er einen angefaßt«)? Der sich verkroch wie zuvor ein halbes dutzendmal im bürgerlichen Leben, als er Stellungen anstrebte, erhielt – und am nächsten Tag schon wieder kündigte, weil es ihm vielleicht unerträglich schien, im Verkaufsraum einer Apotheke auf Kundschaft zu warten? Der daraufhin im Puff verschwand und geliehenes Geld versoff? Der, weil um ihn herum alles geputzt, geölt, diszipliniert, »im Rahmen« ablief, »jedem Deutschen das Beil des Henkers« wünschte, der also ungerecht, unerträglich war, genial zwar, aber in einer geordneten Gesellschaft zu nichts zu gebrauchen, sondern einer, der sich und anderen nicht zu helfen wußte?
Was also, bitte schön, könnte uns »Grodek« geben, in unserer Erinnerungsbeflissenheit an diesen Großen Krieg Nummer eins? Das ist eine dumme Frage, und nicht viel besser ist die oben notierte Mitteilung, Trakl habe »über Grodek« ein Gedicht geschrieben. »Grodek« ist sowenig ein Gedicht über dieses galizische Kaff, wie Hölderlins »Heidelberg« eines über einen Studienort wäre. Trakls »Grodek« ist die Summe des ununterbrochenen Gedichts, an dem Trakl sein ganzes Leben lang schrieb und das wie ein Myzel unterhalb seiner Lebensäußerungen sich entlangzieht, um in konkreter Form hier und da, ab und an sich zu zeigen. »Grodek« also:
Am Abend tönen die herbstlichen Wälder
Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen
Und blauen Seen, darüber die Sonne
Düstrer hinrollt; umfängt die Nacht
Sterbende Krieger, die wilde Klage
Ihrer zerbrochenen Münder.
Doch stille sammelt im Weidengrund
Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt
Das vergoßne Blut sich, mondne Kühle;
Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.
Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sterne
Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain,
Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter;
Und leise tönen im Rohr die dunkeln Flöten
des Herbstes.
O stolzere Trauer! Ihr ehernen Altäre,
Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein
gewaltiger Schmerz,
Die ungebornen Enkel.
Was ist in diesen Versen zu finden? Eine Landschaft, durchaus eine stimmige, harmonische Landschaft, in die nun für eine Zeit der Lärm der Schlacht, die sterbenden Krieger, der Kriegsgott eingebettet sind. Die Achse: Das ist das schreckliche, definitive »Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.« Aber das, was davor und danach geschrieben steht, ist in seinem ganzen Elend so klangvoll ausgesprochen und über Enjambements ineinandergebunden, daß man es nicht anders als gegeben aufnehmen kann; und jeder Versuch, sich gegen dieses Gegebene aufzulehnen, wäre unreif und ein Zeichen von Feigheit. Über die drei letzten Zeilen schließlich hat Franz Fühmann längst das Notwendige gesagt: »Wir müssen gestehn, daß der Schluß dieses Gedichts, der als so schwierig und
rätselhaft gilt, uns nie so recht Schwierigkeiten gemacht hat; wir hatten ihn von Anfang an, freilich nie mit dem Anspruch, ihn ganz zu haben. Stolzer – welche Trauer wird hier gesteigert? Wir wissen es nicht; wir wissen nur, daß sie stolzer ist als eine andere Trauer.«
Das kurze Kriegserlebnis, das Trakl zu ertragen hatte, war ihm auf den Leib geschneidert. (Rilke: »Und wie eine Braut kommt jedem das Ding, das er will.«) Was war dieser schlappste aller Freiwilligen doch für ein Mensch, daß er die Kraft aufbrachte, auf den Straßen gen Verwesung, auf denen er sein Leben lang unterwegs war, die durch ihn hindurch führten, noch solche Worte zu finden!