Autorenporträt Christopher Clark

Die Verleihung des Preises des Historischen Kollegs, auch »Deutscher Historikerpreis« genannt, im November 2010 an Christopher Clark war in doppelter Hinsicht etwas Besonderes.

Ers­tens erhielt mit dem Aus­tra­li­er Clark der ers­te nicht­deut­sche (genau­er: nicht mut­ter­sprach­lich-deut­sche) His­to­ri­ker die­sen Preis. Die­se Ent­schei­dung hat­te aber nichts mit poli­ti­scher Kor­rekt­heit im Sin­ne von »Trans­na­tio­na­li­tät« zu tun. Clark wur­de näm­lich – zwei­tens – für sein Preu­ßen­buch aus­ge­zeich­net, das durch­weg von Sym­pa­thie für sei­nen For­schungs­ge­gen­stand durch­zo­gen ist und das die The­se von einem für den Natio­nal­so­zia­lis­mus ver­ant­wort­li­chen preu­ßisch-deut­schen »Son­der­weg« end­gül­tig auf den Müll­hau­fen der Geschichts­wis­sen­schaft gewor­fen hat. Ein in Cam­bridge leh­ren­der Aus­tra­li­er, der es wagt, Posi­ti­ves über Preu­ßen zu schrei­ben, wird von der deut­schen His­to­ri­ker­schaft mit einem Preis aus­ge­zeich­net – wenn etwas ein Anzei­chen für einen geschichts­wis­sen­schaft­li­chen und geschichts­po­li­ti­schen Men­ta­li­täts­wan­del in Deutsch­land ist, dann das.

Die preu­ßi­sche Geschich­te hat schon wäh­rend sei­nes Stu­di­ums das vor­nehm­li­che Inter­es­se des 1960 in Syd­ney gebo­re­nen Clark gefun­den. Laut eige­ner Aus­sa­ge hat er sich vor allem mit den reli­gi­ons- und kon­fes­si­ons­ge­schicht­li­chen Aspek­ten preu­ßi­scher Aus­wan­de­rung nach Aus­tra­li­en im 19. Jahr­hun­dert beschäf­tigt. In der Mit­te der acht­zi­ger Jah­re des 20. Jahr­hun­derts stu­dier­te er an der Frei­en Uni­ver­si­tät Ber­lin, wo er das ihn fas­zi­nie­ren­de »Herz des alten preu­ßi­schen Ber­lins« ken­nen­lern­te. Er mein­te damit nicht West‑, son­dern Ost-Ber­lin, wo man gera­de zu DDR-Zei­ten noch Über­res­te preu­ßi­scher Tra­di­ti­on fnden konn­te. Und schließ­lich wird auch die Hei­rat mit einer Deut­schen zur Ent­ste­hung von Clarks aus­ge­präg­ter – wenn auch nach eige­ner Aus­kunft nicht poli­tisch-dok­tri­nä­rer – Ger­ma­no­phi­lie bei­getra­gen haben.

Sei­ne bis­her erschie­ne­nen Bücher sowie ein Groß­teil sei­ner wis­sen­schaft­li­chen Auf­sät­ze behan­deln daher wenig über­ra­schend fast aus­schließ­lich The­men der preu­ßi­schen und deut­schen Geschich­te. Das gilt schon für Clarks Dis­ser­ta­ti­on über preu­ßi­sche Juden­mis­si­on vom 18. bis zum 20. Jahr­hun­dert, aus der zugleich auch Clarks beson­de­res Inter­es­se für reli­gi­ons­ge­schicht­li­che Fra­gen deut­lich wird. In einem 2003 gemein­sam mit Wolf­ram Kai­ser her­aus­ge­ge­be­nen Sam­mel­band über den »Kul­tur­kampf« zwi­schen katho­li­schen und anti­kle­ri­ka­len Kräf­ten im Euro­pa des 19. Jahr­hun­derts ver­tritt Clark mit Nach­druck die The­se, daß die lan­ge Zeit gän­gi­ge Moder­ni­sie­rungs­theo­rie gera­de im Hin­blick auf die Reli­gi­on abwe­gig sei. Von einer Säku­la­ri­sie­rung im Sin­ne eines zwangs­läuf­gen Ver­schwin­dens von Reli­gi­on kön­ne weder im 19. noch im 20. Jahr­hun­dert die Rede sein. Eben­so­we­nig sei die Vor­stel­lung über­zeu­gend, libe­ra­le Anti­ka­tho­li­ken sei­en im 19. Jahr­hun­dert »modern« gewe­sen, wäh­rend ihre katho­li­schen Geg­ner hoff­nungs­lo­se Anti­mo­der­nis­ten gewe­sen sei­en. In Wirk­lich­keit han­de­le es sich bei Libe­ra­lis­mus, Sozia­lis­mus und eben auch »neu­em« Katho­li­zis­mus um inhalt­lich kon­trä­re, struk­tu­rell aber sehr ähn­li­che Ver­su­che, Ant­wor­ten auf die Her­aus­for­de­run­gen der gesell­schaft­li­chen Umwäl­zungs­pro­zes­se der Moder­ne zu geben. Clark läßt sich dabei auch nicht von vor­der­grün­di­gen Zuge­ständ­nis­sen sei­tens der Ton­an­ge­ben­den in der Geschichts­wis­sen­schaft beir­ren: »Die Zeit ist längst vor­bei, in der His­to­ri­ker Moder­ni­sie­rung als einen linea­ren Nie­der­gang von Reli­gi­on auf­ge­faßt haben, aber es gibt noch immer eine Ten­denz, die reli­giö­se Erneue­rung als eine tem­po­rä­re Abwei­chung von der ›Norm‹ eines irrever­si­blen Pro­zes­ses der Säku­la­ri­sie­rung zu sehen.«

Die­se Nei­gung – im Ton sehr höf­lich, in der Sache aber unnach­gie­big den gän­gi­gen Lebens­lü­gen vor allem der deut­schen Geschichts­wis­sen­schaft zu wider­spre­chen – bestimmt auch die drei bekann­tes­ten Publi­ka­tio­nen Clarks. Den Anfang mach­te er mit der 2000 erschie­ne­nen poli­ti­schen Bio­gra­phie des letz­ten deut­schen Kai­sers, Wil­helms II. Deren 2008 ver­öf­fent­lich­te deut­sche Über­set­zung sorg­te für beson­de­res Auf­se­hen, weil es anläß­lich des 150. Kai­ser­ge­burts­ta­ges am 27. Janu­ar 2009 und der Publi­ka­ti­on noch zwei wei­te­rer Kai­ser­bio­gra­phien zu einer klei­nen Kon­tro­ver­se um die Beur­tei­lung Wil­helms II. kam, in der Clark sich als die Stim­me wis­sen­schaft­li­cher Ver­nunft eta­blier­te. Vor allem grenz­te Clark sich von John Röhl ab, dem unbe­strit­ten bes­ten Ken­ner des Kai­sers. Des­sen drei­bän­di­ge und vier­tau­send­sei­ti­ge Wil­helm-Bio­gra­phie ist eine ein­zi­ge Ankla­ge­schrift gegen Wil­helm II., den Röhl für fast alles ver­ant­wort­lich macht, was zwi­schen 1890 und 1918 in Euro­pa schief­ge­lau­fen ist. Röhl ver­steigt sich dabei zu immer absur­de­ren Denun­zia­tio­nen des Kai­sers, indem er den his­to­ri­schen Kon­text, in dem Wil­helm agier­te, nahe­zu voll­stän­dig aus­blen­det und ihn außer­dem kon­se­quent psy­cho­pa­tho­lo­gisch interpretiert.

Aber auch dem Reha­bi­li­ta­ti­ons­ver­such der im gro­ßen und gan­zen sehr ver­dienst­vol­len Kai­ser­bio­gra­phie Eber­hard Straubs schließt Clark sich nicht unein­ge­schränkt an. Das hängt vor allem damit zusam­men, daß die ganz als »Anti-Röhl« auf­ge­bau­te Argu­men­ta­ti­on Straubs in ihrer Ein­sei­tig­keit nicht immer der Über­prü­fung an den Quel­len stand­hält. Clarks Stil ist außer­dem ein völ­lig ande­rer: Er hält sich von Kämp­fen um die Bewer­tung Wil­helms II. weit­ge­hend fern und prä­sen­tiert sein eige­nes Buch als Syn­the­se der lang­jäh­ri­gen For­schungs­de­bat­te um die Fra­ge, wie­viel Macht der Kai­ser eigent­lich gehabt habe. Weder Röhls The­se vom »per­sön­li­chen Regi­ment«, so Clark, tref­fe letzt­lich zu, noch Hans-Ulrich Weh­lers Bild von Wil­helm als blo­ßem »Schat­ten­kai­ser«; viel­mehr sei Wil­helm II. von sei­nen Bera­tern weit­ge­hend in der Illu­si­on gehal­ten wor­den, selbst­zu herr­schen. Gegen die psy­cho­pa­tho­lo­gi­sche Deu­tung des Kai­sers stellt Clark nüch­tern fest, daß es wis­sen­schaft­lich wei­ter­füh­re, his­to­ri­schen Akteu­ren zunächst ein­mal Ver­nunft­be­ga­bung zu unter­stel­len und sich nicht an medi­zi­ni­schen oder psy­cho­lo­gi­schen Dia­gno­sen bereits Ver­stor­be­ner zu versuchen.

Es ist hoch­in­ter­es­sant, was aus einer solch unauf­ge­reg­ten Sicht­wei­se neben­bei alles mit­ge­lie­fert wird. Auf­grund sei­ner Her­kunft und des zeit­li­chen Abstan­des fühlt Clark sich frei davon, den Kai­ser ver­herr­li­chen oder ver­teu­feln zu müs­sen, und so gelin­gen ihm eini­ge äußerst wert­vol­le Kor­rek­tu­ren gän­gi­ger Fehl­ur­tei­le. Die angeb­li­che Unmo­der­ni­tät Wil­helms II. ist eines davon: Clark zeigt nicht nur, daß der Kai­ser die tech­nisch-indus­tri­el­le Moder­ni­sie­rung vor­an­brach­te und sich für ein an moder­nen Anfor­de­run­gen ori­en­tier­tes Schul- und Uni­ver­si­täts­sys­tem ein­setz­te, son­dern daß auch des­sen Selbst­bild das eines moder­nen Kai­sers war. Als sei­ne Haupt­auf­ga­be, so macht Clark deut­lich, ver­stand Wil­helm die inne­re Eini­gung des durch Bis­marck nur äußer­lich geein­ten Deut­schen Rei­ches. Dazu ver­such­te Wil­helm, sich selbst als Natio­nal­sym­bol zu prä­sen­tie­ren und eine Innen­po­li­tik zu betrei­ben, die mit Hil­fe eines breit ange­leg­ten Kon­sen­ses die gesell­schaft­li­chen Rän­der in die Nati­on inte­grie­ren soll­te. Das wich­tigs­te Mit­tel war dabei die Selbst­in­sze­nie­rung als »Herr der Mit­te« (Nico­laus Som­bart), der vor allem durch exten­si­ves Rei­sen und Reden ein natio­na­les Zusam­men­ge­hö­rig­keits­ge­fühl stär­ken oder erst schaf­fen wollte.

Dafür, daß ihm das letzt­lich nicht unein­ge­schränkt gelang und daß er außer­dem auf außen­po­li­ti­schem Feld eher nega­tiv wirk­te, macht Clark zwei Din­ge ver­ant­wort­lich: die äuße­ren Umstän­de wie die per­sön­li­chen Unzu­läng­lich­kei­ten des Kai­sers. Exem­pla­risch deut­lich wird das im Ers­ten Welt­krieg: Der nie­mals ernst­haft kriegs­lüs­ter­ne »Frie­dens­kai­ser« ver­moch­te es nicht, sich gegen­über den »Fal­ken« in den eige­nen Rei­hen (und denen der ande­ren euro­päi­schen Staa­ten) durch­zu­set­zen, zog sich wäh­rend des Krie­ges ganz zurück und floh bei Kriegs­en­de schließ­lich kampflos nach Hol­land. Dies aber, so Clark, habe nicht, wie John Röhl behaup­tet, an der Bos­heit eines Ver­rück­ten gele­gen und auch nicht, wie Straub meint, am Ver­rat kon­ser­va­ti­ver Hard­li­ner, son­dern an der Schwä­che eines Gut­wil­li­gen. Mit die­ser Deu­tung gelingt es Clark, das noch immer ver­brei­te­te Nega­tiv­ur­teil über den letz­ten deut­schen Kai­ser mode­rat zu kor­ri­gie­ren und dabei »Ver­un­glimp­fung und Ver­ständ­nis wie­der in ein ange­mes­se­nes Ver­hält­nis zuein­an­der zu bringen.«

Daß Clark Wil­helm II. trotz aller Frie­dens­be­mü­hun­gen nicht von der Ver­ant­wor­tung befreit, vor allem durch Takt­lo­sig­kei­ten bei öffent­li­chen Auf­trit­ten die Bezie­hun­gen zu den spä­te­ren Geg­nern im Ers­ten Welt­krieg belas­tet zu haben, wird auch in sei­ner 2006 in eng­li­scher, 2007 in deut­scher Spra­che erschie­ne­nen Geschich­te Preu­ßens deut­lich. Die­ses Buch, das Clark schlag­ar­tig berühmt gemacht und wohl wesent­lich zu sei­ner 2008 erfolg­ten Ernen­nung zum Pro­fes­sor für euro­päi­sche Geschich­te der Neu­zeit in Cam­bridge bei­getra­gen hat, liest sich noch weit stär­ker als die Wil­helm-Bio­gra­phie wie die Ver­tei­di­gung eines zu Unrecht Ver­fem­ten. Clarks Dar­stel­lung des Auf­stiegs und Nie­der­gangs Preu­ßens ist jeden­falls von einer immer wie­der durch­schei­nen­den Nei­gung zu einem – wenn auch nicht unkri­tisch – posi­ti­ven libe­ral­kon­ser­va­ti­ven Bild von Preu­ßen geprägt, für das Clark exem­pla­risch Hans-Joa­chim Schoeps und Sebas­ti­an Haff­ner nennt. Von pro­preu­ßi­scher »Lager­feu­er­ro­man­tik« grenzt Clark sich expli­zit ab; wesent­lich wich­ti­ger ist ihm aber die Wider­le­gung der The­se vom preu­ßisch-deut­schen »Son­der­weg«.

In sei­ner Dar­stel­lung rückt er daher vie­les gera­de, was Gene­ra­tio­nen von Son­der­weg­his­to­ri­kern an Ver­zer­run­gen preu­ßi­scher Geschich­te geschaf­fen haben: Die spe­zifsch preu­ßi­sche Reli­gi­ons­to­le­ranz, so Clark, wer­de durch den Hin­weis auf ihre auch poli­ti­sche Moti­va­ti­on kei­nes­wegs ent­wer­tet; der Angriff Fried­richs des Gro­ßen auf Schle­si­en sei kein bei­spiel­lo­ser Akt ver­bre­che­ri­scher Aggres­si­on gewe­sen, son­dern im Ver­gleich zu den übri­gen Mäch­ten Euro­pas durch­aus ein Nor­mal­fall; die Stär­ke der preu­ßi­schen Armee habe kei­ner irgend­wie exzep­tio­nel­len »Mili­ta­ri­sie­rung« der Gesell­schaft ent­spro­chen. Modi­sches wie Gender-»Forschung« bezieht Clark zwar ein, redu­ziert die­se aber auf jenes Maß, in dem Geschlech­ter­fra­gen nicht als ideo­lo­gi­sche Alter­na­ti­ve, son­dern als maß­vol­le Erwei­te­rung tra­di­tio­nel­ler Fra­ge­stel­lun­gen erschei­nen – gegen eine Beschäf­ti­gung mit der beson­de­ren Rol­le der Guts­be­sit­zer­frau­en im agra­risch gepräg­ten Ost­preu­ßen ist jeden­falls im Prin­zip nichts ein­zu­wen­den. Und von einer Kam­mer­die­n­er­per­spek­ti­ve, die sich nicht für die Leis­tun­gen, son­dern für die Neu­ro­sen der »Gro­ßen« inter­es­siert, hält Clark sich gänz­lich fern.

Das frucht­ba­re Zusam­men­ge­hen von staat­li­cher Auto­ri­tät und Auf­klä­rung unter Fried­rich dem Gro­ßen beein­druckt Clark sicht­lich, wie er über­haupt Sym­pa­thie für die beson­de­re eta­tis­ti­sche Tra­di­ti­on Preu­ßens zeigt: Sie hät­te nach sei­ner Auf­fas­sung als Staats­so­zia­lis­mus sogar das Zeug gehabt, die »Mise­re des Königs­hau­ses« Ende des 19. Jahr­hun­derts zu über­win­den. Aber neben die­sem »moder­nen« Preu­ßen ist Clark auch nicht ohne Ver­ständ­nis für das »alte«. Er eig­net sich sogar Auf­fas­sun­gen der »alt­kon­ser­va­ti­ven« Preu­ßen an, wenn er etwa meint, Preu­ßens Auf­ge­hen in Deutsch­land sei sein Ver­der­ben gewe­sen, weil das seit den Befrei­ungs­krie­gen span­nungs­vol­le Ver­hält­nis zwi­schen preu­ßi­schem Patrio­tis­mus und deut­schem Natio­na­lis­mus – dem Clark einen eige­nen Auf­satz gewid­met hat – letzt­lich zuguns­ten des letz­te­ren habe aus­ge­hen müssen.

Und auch die angeb­li­che Dis­kre­di­tie­rung Preu­ßens infol­ge von des­sen geschichts­po­li­ti­scher Indienst­nah­me durch das NS-Regime läßt Clark nicht gel­ten: Fak­tisch hät­ten die Natio­nal­so­zia­lis­ten, unge­ach­tet pro­preu­ßi­scher Rhe­to­rik, preu­ßi­sche Tra­di­tio­nen zer­stört, denen sich wie­der­um die Män­ner des 20. Juli ver­pflich­tet fühl­ten. Eines der wich­tigs­ten Cha­rak­te­ris­ti­ka des Buchs von Clark ist, daß er zwar einen Sinn für die his­to­ri­schen Beson­der­hei­ten Preu­ßens hat, zugleich aber in der Lage ist, Preu­ßen in den gesamt­eu­ro­päi­schen Staa­ten­zu­sam­men­hang ein­zu­ord­nen, und zwar so, daß Preu­ßen als ein euro­päi­scher Staat erscheint wie die ande­ren auch. Allein dadurch nimmt er den his­to­rio­gra­phi­schen Preu­ßen­fein­den ihre gan­ze Argu­men­ta­ti­ons­grund­la­ge, die letzt­lich dar­auf beruht, daß Preu­ßen eigent­lich gar kein his­to­ri­sches Exis­tenz­recht, wenigs­tens aber kein Recht auf Durch­set­zung staat­li­cher Inter­es­sen gehabt habe.

Das­sel­be Mus­ter, nur auf Deutsch­land bezo­gen, prägt Clarks neu­es­tes Werk, sei­ne Unter­su­chung der Ursa­chen des Ers­ten Welt­kriegs. Wie »Schlaf­wand­ler«, so der Titel des Buches, sei­en die poli­ti­schen Ent­schei­dungs­trä­ger 1914 in den Krieg gezo­gen, mit vol­lem Bewußt­sein, aber ohne ech­ten Sinn für die Kon­se­quen­zen ihres Han­delns. Das Deut­sche Reich trägt aus Clarks Sicht einen Teil an der Ver­ant­wor­tung für die Ent­ste­hung des Krie­ges, aber alle ande­ren Betei­lig­ten eben auch. In Ein­lei­tung und Schluß läßt es Clark bei die­ser Deu­tung bewen­den, nach der alle Staa­ten glei­cher­ma­ßen »schul­dig« oder »unschul­dig« am Kriegs­aus­bruch gewe­sen sei­en. In der Dar­stel­lung selbst setzt Clark in die­ser Hin­sicht durch­aus unter­schied­li­che Schwer­punk­te: Die Reak­ti­on Öster­reich-Ungarns auf die Ermor­dung des Thron­fol­gers durch ser­bi­sche Atten­tä­ter am 28. Juni 1914 hält Clark für ange­mes­sen, ja sogar für eini­ger­ma­ßen mode­rat, wäh­rend Ser­bi­en ein Pul­ver­faß gewe­sen sei. Nie­mand habe dort wirk­lich durch­schau­en kön­nen, wel­che Zusam­men­hän­ge zwi­schen Regie­rung, radi­kal­na­tio­na­lis­ti­scher Oppo­si­ti­on und den Atten­tä­tern bestanden.

Deutsch­land wie­der­um habe kei­ne ande­re Wahl gehabt, als Öster­reich – sei­nem letz­ten ver­blie­be­nen Bünd­nis­part­ner – den Rücken zu stär­ken. Daß sich die Bezie­hun­gen Deutsch­lands vor allem zu Eng­land und Ruß­land vor 1914 so sehr ver­schlech­tert hat­ten, führt Clark nur zu einem sehr gerin­gen Teil auf das unklu­ge Ver­hal­ten des Kai­sers und der zustän­di­gen Poli­ti­ker und Diplo­ma­ten zurück; in der Haupt­sa­che macht er die Gesamt­la­ge eines inter­na­tio­na­len Staa­ten­sys­tems ver­ant­wort­lich, in dem Deutsch­land vor allem wirt­schaft­lich zum ernst­zu­neh­men­den Kon­kur­ren­ten wur­de, gleich­zei­tig aber nicht stark genug war, als daß Eng­land oder Ruß­land an einem Bünd­nis mit Deutsch­land inter­es­siert gewe­sen wären. Die von vie­len His­to­ri­kern in der Nach­fol­ge des deut­schen Kriegs­schuld­ma­ta­dors Fritz Fischer ver­tre­te­ne Auf­fas­sung, daß Deutsch­lands Stre­ben nach »Welt­po­li­tik« an sich unbe­rech­tigt oder gar ver­werf­lich gewe­sen sei, lehnt Clark als gera­de­zu gro­tesk ab.

Clark hält sich aber ansons­ten klug aus poli­tisch auf­ge­la­de­nen Debat­ten her­aus, etwa dar­über, ob man von einer »Ein­krei­sung« Deutsch­lands durch Frank­reich, Ruß­land und Eng­land spre­chen müs­se oder viel­mehr von einer selbst­ver­schul­de­ten »Aus­krei­sung«; Clark selbst spricht statt des­sen von einer »Iso­la­ti­on« des Rei­ches, die viel mit der Gesamtinter­es­sen­la­ge aller betei­lig­ten Staa­ten und wenig mit indi­vi­du­el­len Ent­schei­dun­gen zu tun gehabt habe; nur im Fal­le Frank­reichs sei­en mas­si­ve­re anti­deut­sche Res­sen­ti­ments mit im Spiel gewe­sen. Der deut­sche Flot­ten­bau, der lan­ge Zeit als eine wesent­li­che Kriegs­ur­sa­che galt, war laut Clark ein nach­voll­zieh­ba­rer und ver­nünf­ti­ger Schritt ange­sichts stark begrenz­ter Hand­lungs­op­tio­nen. Prä­ven­tiv­kriegs­wün­sche wie­der­um gab es unter den Mili­tärs aller betei­lig­ten Staa­ten, und gera­de in Deutsch­land war deren Einfluß auf die poli­ti­sche Füh­rung rela­tiv gering. Ruß­lands »Blan­ko­scheck« für Ser­bi­en, Frank­reichs Drän­gen zum Zwei­fron­ten­krieg und Eng­lands Lavie­ren – das Clark ähn­lich wie vor ihm schon der His­to­ri­ker Niall Fer­gu­son dafür ver­ant­wort­lich macht, daß Frank­reich und Ruß­land fest mit Eng­lands mili­tä­ri­scher Unter­stüt­zung rech­nen konn­ten, wäh­rend Deutsch­land dar­auf hof­fen durf­te, daß Eng­land neu­tral blei­ben wür­de – wer­den von Clark für die Eska­la­ti­on der Julikri­se min­des­tens eben­so ver­ant­wort­lich gemacht wie Öster­reichs Unnach­gie­big­keit und Deutsch­lands Bereit­schaft zum »Sprung ins Dunk­le« (Theo­bald von Beth­mann Holl­weg) ange­sichts einer sich immer bedroh­li­cher zuspit­zen­den geo­po­li­ti­schen Lage.

Bei aller Sym­pa­thie für Deutsch­land und Preu­ßen und bei allen Vor­stö­ßen gegen die hei­li­gen Kühe der links­li­be­ra­len Geschichts­schrei­bung – Moder­ni­sie­rungs­theo­rie, Säku­la­ri­sie­rungs­the­se, deut­scher Son­der­weg und deut­scher Schuld­kult – ist Clark aber alles ande­re als ein »Rech­ter«. Eher könn­te man ihn als einen Alt­li­be­ra­len bezeich­nen, dem es vor allem um poli­ti­sche Ord­nung und Rechts­staat­lich­keit zu tun ist. Demo­kra­ti­sie­rung hält er dazu meist für zweck­mä­ßig, aber das gilt nicht immer und unbe­dingt, und vor allem ist Clark kein dok­tri­nä­rer Anti­mon­ar­chist. Dar­über hin­aus aber ist er tat­säch­lich in ers­ter Linie ein Geschichts­schrei­ber, der allem Anschein nach kei­ner­lei poli­ti­sche Absich­ten ver­folgt, son­dern viel­mehr gegen die Aufla­dung der Geschichts­wis­sen­schaft mit poli­ti­schen Zwe­cken zu Fel­de zieht. Sei­ne aus­län­di­sche Her­kunft erschwert es dabei sei­nen deut­schen Geg­nern ganz beson­ders, einen Stich gegen ihn zu lan­den – Clark kann dann regel­mä­ßig und süffsant dar­auf ver­wei­sen, daß Deutsch­land das ein­zi­ge Land sei, in dem ihm Deut­schen­freund­lich­keit vor­ge­wor­fen werde.

Sein über­wäl­ti­gen­der bis­he­ri­ger Erfolg ist dadurch aber nur zum Teil erklärt. Zu berück­sich­ti­gen ist näm­lich der in der deut­schen Wis­sen­schafts­tra­di­ti­on sel­te­ne unkon­fron­ta­ti­ve Ton Clarks: Sei­ne Geg­ner wider­legt er nicht expli­zit und schon gar nicht pole­misch, son­dern er sucht die Plau­si­bi­li­tät ihrer Posi­ti­on, um sei­ne eige­ne dann als Ergän­zung ein­zu­füh­ren, auch wenn sie in Wahr­heit einen tota­len Wider­spruch impli­ziert. Hier und da geht Clark dar­in wohl zu weit; so bei­spiels­wei­se, wenn er sich für eine Lau­da­tio auf John Röhl her­gibt, des­sen Werk über Wil­helm II. Clark eigent­lich in nahe­zu jeder Hin­sicht wider­legt hat. Auch gegen­über Fritz Fischer äußert Clark sich respekt­voll, beharrt aber doch dar­auf, daß des­sen The­se nur durch einen ganz auf Deutsch­land und auf bestimm­te Aspek­te der deut­schen poli­ti­schen Kul­tur beschränk­ten Blick zustan­de gekom­men sei und daß eine »trans­na­tio­na­le« Aus­wei­tung des Blick­fel­des zu dem Ergeb­nis füh­re, daß sich eine ent­spre­chen­de Kul­tur in allen euro­päi­schen Staa­ten vor 1914 nach­wei­sen las­se. Auch ver­fällt Clark nicht dem Feh­ler eini­ger jün­ge­rer deut­scher His­to­ri­ker, die Fischers The­sen längst für selbst­ver­ständ­lich wider­legt hal­ten, ohne dabei zu berück­sich­ti­gen, daß dies kei­nes­wegs für die nicht­wis­sen­schaft­li­che Öffent­lich­keit gilt und daß auch inner­halb der Wis­sen­schaft eine »Light«-Version der Kriegs­schuld­the­se nach wie vor weit ver­brei­tet ist. Wer das Bild von der deut­schen Haupt­schuld am Ers­ten Welt­krieg wirk­sam bekämp­fen will, muß ein Gegen­bild ent­wer­fen, und Clarks Vor­schlag, den Krieg nicht als Ver­bre­chen, son­dern als Tra­gö­die zu ver­ste­hen, an der alle Betei­lig­ten ihren Anteil hat­ten und die sich des­halb auch nicht zur geschichts­po­li­ti­schen Waf­fe gegen Deutsch­land eig­net, hat das Zeug zu einem sol­chen Gegenbild.

Die Geg­ner Clarks, die vor allem den deut­schen Schuld­kult in Gefahr sehen, haben sich daher bereits in Stel­lung gebracht; zum gro­ßen Schlag aber haben sie noch nicht aus­ge­holt. Chris­to­pher Clark taugt nun ein­mal nicht zum »kon­sti­tu­tio­nel­len Nazi« (Rudolf Aug­stein über Andre­as Hill­gru­ber), und ein neu­er His­to­ri­ker­streit könn­te zu unge­ahn­ten Ergeb­nis­sen führen.

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