Erstens erhielt mit dem Australier Clark der erste nichtdeutsche (genauer: nicht muttersprachlich-deutsche) Historiker diesen Preis. Diese Entscheidung hatte aber nichts mit politischer Korrektheit im Sinne von »Transnationalität« zu tun. Clark wurde nämlich – zweitens – für sein Preußenbuch ausgezeichnet, das durchweg von Sympathie für seinen Forschungsgegenstand durchzogen ist und das die These von einem für den Nationalsozialismus verantwortlichen preußisch-deutschen »Sonderweg« endgültig auf den Müllhaufen der Geschichtswissenschaft geworfen hat. Ein in Cambridge lehrender Australier, der es wagt, Positives über Preußen zu schreiben, wird von der deutschen Historikerschaft mit einem Preis ausgezeichnet – wenn etwas ein Anzeichen für einen geschichtswissenschaftlichen und geschichtspolitischen Mentalitätswandel in Deutschland ist, dann das.
Die preußische Geschichte hat schon während seines Studiums das vornehmliche Interesse des 1960 in Sydney geborenen Clark gefunden. Laut eigener Aussage hat er sich vor allem mit den religions- und konfessionsgeschichtlichen Aspekten preußischer Auswanderung nach Australien im 19. Jahrhundert beschäftigt. In der Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts studierte er an der Freien Universität Berlin, wo er das ihn faszinierende »Herz des alten preußischen Berlins« kennenlernte. Er meinte damit nicht West‑, sondern Ost-Berlin, wo man gerade zu DDR-Zeiten noch Überreste preußischer Tradition fnden konnte. Und schließlich wird auch die Heirat mit einer Deutschen zur Entstehung von Clarks ausgeprägter – wenn auch nach eigener Auskunft nicht politisch-doktrinärer – Germanophilie beigetragen haben.
Seine bisher erschienenen Bücher sowie ein Großteil seiner wissenschaftlichen Aufsätze behandeln daher wenig überraschend fast ausschließlich Themen der preußischen und deutschen Geschichte. Das gilt schon für Clarks Dissertation über preußische Judenmission vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, aus der zugleich auch Clarks besonderes Interesse für religionsgeschichtliche Fragen deutlich wird. In einem 2003 gemeinsam mit Wolfram Kaiser herausgegebenen Sammelband über den »Kulturkampf« zwischen katholischen und antiklerikalen Kräften im Europa des 19. Jahrhunderts vertritt Clark mit Nachdruck die These, daß die lange Zeit gängige Modernisierungstheorie gerade im Hinblick auf die Religion abwegig sei. Von einer Säkularisierung im Sinne eines zwangsläufgen Verschwindens von Religion könne weder im 19. noch im 20. Jahrhundert die Rede sein. Ebensowenig sei die Vorstellung überzeugend, liberale Antikatholiken seien im 19. Jahrhundert »modern« gewesen, während ihre katholischen Gegner hoffnungslose Antimodernisten gewesen seien. In Wirklichkeit handele es sich bei Liberalismus, Sozialismus und eben auch »neuem« Katholizismus um inhaltlich konträre, strukturell aber sehr ähnliche Versuche, Antworten auf die Herausforderungen der gesellschaftlichen Umwälzungsprozesse der Moderne zu geben. Clark läßt sich dabei auch nicht von vordergründigen Zugeständnissen seitens der Tonangebenden in der Geschichtswissenschaft beirren: »Die Zeit ist längst vorbei, in der Historiker Modernisierung als einen linearen Niedergang von Religion aufgefaßt haben, aber es gibt noch immer eine Tendenz, die religiöse Erneuerung als eine temporäre Abweichung von der ›Norm‹ eines irreversiblen Prozesses der Säkularisierung zu sehen.«
Diese Neigung – im Ton sehr höflich, in der Sache aber unnachgiebig den gängigen Lebenslügen vor allem der deutschen Geschichtswissenschaft zu widersprechen – bestimmt auch die drei bekanntesten Publikationen Clarks. Den Anfang machte er mit der 2000 erschienenen politischen Biographie des letzten deutschen Kaisers, Wilhelms II. Deren 2008 veröffentlichte deutsche Übersetzung sorgte für besonderes Aufsehen, weil es anläßlich des 150. Kaisergeburtstages am 27. Januar 2009 und der Publikation noch zwei weiterer Kaiserbiographien zu einer kleinen Kontroverse um die Beurteilung Wilhelms II. kam, in der Clark sich als die Stimme wissenschaftlicher Vernunft etablierte. Vor allem grenzte Clark sich von John Röhl ab, dem unbestritten besten Kenner des Kaisers. Dessen dreibändige und viertausendseitige Wilhelm-Biographie ist eine einzige Anklageschrift gegen Wilhelm II., den Röhl für fast alles verantwortlich macht, was zwischen 1890 und 1918 in Europa schiefgelaufen ist. Röhl versteigt sich dabei zu immer absurderen Denunziationen des Kaisers, indem er den historischen Kontext, in dem Wilhelm agierte, nahezu vollständig ausblendet und ihn außerdem konsequent psychopathologisch interpretiert.
Aber auch dem Rehabilitationsversuch der im großen und ganzen sehr verdienstvollen Kaiserbiographie Eberhard Straubs schließt Clark sich nicht uneingeschränkt an. Das hängt vor allem damit zusammen, daß die ganz als »Anti-Röhl« aufgebaute Argumentation Straubs in ihrer Einseitigkeit nicht immer der Überprüfung an den Quellen standhält. Clarks Stil ist außerdem ein völlig anderer: Er hält sich von Kämpfen um die Bewertung Wilhelms II. weitgehend fern und präsentiert sein eigenes Buch als Synthese der langjährigen Forschungsdebatte um die Frage, wieviel Macht der Kaiser eigentlich gehabt habe. Weder Röhls These vom »persönlichen Regiment«, so Clark, treffe letztlich zu, noch Hans-Ulrich Wehlers Bild von Wilhelm als bloßem »Schattenkaiser«; vielmehr sei Wilhelm II. von seinen Beratern weitgehend in der Illusion gehalten worden, selbstzu herrschen. Gegen die psychopathologische Deutung des Kaisers stellt Clark nüchtern fest, daß es wissenschaftlich weiterführe, historischen Akteuren zunächst einmal Vernunftbegabung zu unterstellen und sich nicht an medizinischen oder psychologischen Diagnosen bereits Verstorbener zu versuchen.
Es ist hochinteressant, was aus einer solch unaufgeregten Sichtweise nebenbei alles mitgeliefert wird. Aufgrund seiner Herkunft und des zeitlichen Abstandes fühlt Clark sich frei davon, den Kaiser verherrlichen oder verteufeln zu müssen, und so gelingen ihm einige äußerst wertvolle Korrekturen gängiger Fehlurteile. Die angebliche Unmodernität Wilhelms II. ist eines davon: Clark zeigt nicht nur, daß der Kaiser die technisch-industrielle Modernisierung voranbrachte und sich für ein an modernen Anforderungen orientiertes Schul- und Universitätssystem einsetzte, sondern daß auch dessen Selbstbild das eines modernen Kaisers war. Als seine Hauptaufgabe, so macht Clark deutlich, verstand Wilhelm die innere Einigung des durch Bismarck nur äußerlich geeinten Deutschen Reiches. Dazu versuchte Wilhelm, sich selbst als Nationalsymbol zu präsentieren und eine Innenpolitik zu betreiben, die mit Hilfe eines breit angelegten Konsenses die gesellschaftlichen Ränder in die Nation integrieren sollte. Das wichtigste Mittel war dabei die Selbstinszenierung als »Herr der Mitte« (Nicolaus Sombart), der vor allem durch extensives Reisen und Reden ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl stärken oder erst schaffen wollte.
Dafür, daß ihm das letztlich nicht uneingeschränkt gelang und daß er außerdem auf außenpolitischem Feld eher negativ wirkte, macht Clark zwei Dinge verantwortlich: die äußeren Umstände wie die persönlichen Unzulänglichkeiten des Kaisers. Exemplarisch deutlich wird das im Ersten Weltkrieg: Der niemals ernsthaft kriegslüsterne »Friedenskaiser« vermochte es nicht, sich gegenüber den »Falken« in den eigenen Reihen (und denen der anderen europäischen Staaten) durchzusetzen, zog sich während des Krieges ganz zurück und floh bei Kriegsende schließlich kampflos nach Holland. Dies aber, so Clark, habe nicht, wie John Röhl behauptet, an der Bosheit eines Verrückten gelegen und auch nicht, wie Straub meint, am Verrat konservativer Hardliner, sondern an der Schwäche eines Gutwilligen. Mit dieser Deutung gelingt es Clark, das noch immer verbreitete Negativurteil über den letzten deutschen Kaiser moderat zu korrigieren und dabei »Verunglimpfung und Verständnis wieder in ein angemessenes Verhältnis zueinander zu bringen.«
Daß Clark Wilhelm II. trotz aller Friedensbemühungen nicht von der Verantwortung befreit, vor allem durch Taktlosigkeiten bei öffentlichen Auftritten die Beziehungen zu den späteren Gegnern im Ersten Weltkrieg belastet zu haben, wird auch in seiner 2006 in englischer, 2007 in deutscher Sprache erschienenen Geschichte Preußens deutlich. Dieses Buch, das Clark schlagartig berühmt gemacht und wohl wesentlich zu seiner 2008 erfolgten Ernennung zum Professor für europäische Geschichte der Neuzeit in Cambridge beigetragen hat, liest sich noch weit stärker als die Wilhelm-Biographie wie die Verteidigung eines zu Unrecht Verfemten. Clarks Darstellung des Aufstiegs und Niedergangs Preußens ist jedenfalls von einer immer wieder durchscheinenden Neigung zu einem – wenn auch nicht unkritisch – positiven liberalkonservativen Bild von Preußen geprägt, für das Clark exemplarisch Hans-Joachim Schoeps und Sebastian Haffner nennt. Von propreußischer »Lagerfeuerromantik« grenzt Clark sich explizit ab; wesentlich wichtiger ist ihm aber die Widerlegung der These vom preußisch-deutschen »Sonderweg«.
In seiner Darstellung rückt er daher vieles gerade, was Generationen von Sonderweghistorikern an Verzerrungen preußischer Geschichte geschaffen haben: Die spezifsch preußische Religionstoleranz, so Clark, werde durch den Hinweis auf ihre auch politische Motivation keineswegs entwertet; der Angriff Friedrichs des Großen auf Schlesien sei kein beispielloser Akt verbrecherischer Aggression gewesen, sondern im Vergleich zu den übrigen Mächten Europas durchaus ein Normalfall; die Stärke der preußischen Armee habe keiner irgendwie exzeptionellen »Militarisierung« der Gesellschaft entsprochen. Modisches wie Gender-»Forschung« bezieht Clark zwar ein, reduziert diese aber auf jenes Maß, in dem Geschlechterfragen nicht als ideologische Alternative, sondern als maßvolle Erweiterung traditioneller Fragestellungen erscheinen – gegen eine Beschäftigung mit der besonderen Rolle der Gutsbesitzerfrauen im agrarisch geprägten Ostpreußen ist jedenfalls im Prinzip nichts einzuwenden. Und von einer Kammerdienerperspektive, die sich nicht für die Leistungen, sondern für die Neurosen der »Großen« interessiert, hält Clark sich gänzlich fern.
Das fruchtbare Zusammengehen von staatlicher Autorität und Aufklärung unter Friedrich dem Großen beeindruckt Clark sichtlich, wie er überhaupt Sympathie für die besondere etatistische Tradition Preußens zeigt: Sie hätte nach seiner Auffassung als Staatssozialismus sogar das Zeug gehabt, die »Misere des Königshauses« Ende des 19. Jahrhunderts zu überwinden. Aber neben diesem »modernen« Preußen ist Clark auch nicht ohne Verständnis für das »alte«. Er eignet sich sogar Auffassungen der »altkonservativen« Preußen an, wenn er etwa meint, Preußens Aufgehen in Deutschland sei sein Verderben gewesen, weil das seit den Befreiungskriegen spannungsvolle Verhältnis zwischen preußischem Patriotismus und deutschem Nationalismus – dem Clark einen eigenen Aufsatz gewidmet hat – letztlich zugunsten des letzteren habe ausgehen müssen.
Und auch die angebliche Diskreditierung Preußens infolge von dessen geschichtspolitischer Indienstnahme durch das NS-Regime läßt Clark nicht gelten: Faktisch hätten die Nationalsozialisten, ungeachtet propreußischer Rhetorik, preußische Traditionen zerstört, denen sich wiederum die Männer des 20. Juli verpflichtet fühlten. Eines der wichtigsten Charakteristika des Buchs von Clark ist, daß er zwar einen Sinn für die historischen Besonderheiten Preußens hat, zugleich aber in der Lage ist, Preußen in den gesamteuropäischen Staatenzusammenhang einzuordnen, und zwar so, daß Preußen als ein europäischer Staat erscheint wie die anderen auch. Allein dadurch nimmt er den historiographischen Preußenfeinden ihre ganze Argumentationsgrundlage, die letztlich darauf beruht, daß Preußen eigentlich gar kein historisches Existenzrecht, wenigstens aber kein Recht auf Durchsetzung staatlicher Interessen gehabt habe.
Dasselbe Muster, nur auf Deutschland bezogen, prägt Clarks neuestes Werk, seine Untersuchung der Ursachen des Ersten Weltkriegs. Wie »Schlafwandler«, so der Titel des Buches, seien die politischen Entscheidungsträger 1914 in den Krieg gezogen, mit vollem Bewußtsein, aber ohne echten Sinn für die Konsequenzen ihres Handelns. Das Deutsche Reich trägt aus Clarks Sicht einen Teil an der Verantwortung für die Entstehung des Krieges, aber alle anderen Beteiligten eben auch. In Einleitung und Schluß läßt es Clark bei dieser Deutung bewenden, nach der alle Staaten gleichermaßen »schuldig« oder »unschuldig« am Kriegsausbruch gewesen seien. In der Darstellung selbst setzt Clark in dieser Hinsicht durchaus unterschiedliche Schwerpunkte: Die Reaktion Österreich-Ungarns auf die Ermordung des Thronfolgers durch serbische Attentäter am 28. Juni 1914 hält Clark für angemessen, ja sogar für einigermaßen moderat, während Serbien ein Pulverfaß gewesen sei. Niemand habe dort wirklich durchschauen können, welche Zusammenhänge zwischen Regierung, radikalnationalistischer Opposition und den Attentätern bestanden.
Deutschland wiederum habe keine andere Wahl gehabt, als Österreich – seinem letzten verbliebenen Bündnispartner – den Rücken zu stärken. Daß sich die Beziehungen Deutschlands vor allem zu England und Rußland vor 1914 so sehr verschlechtert hatten, führt Clark nur zu einem sehr geringen Teil auf das unkluge Verhalten des Kaisers und der zuständigen Politiker und Diplomaten zurück; in der Hauptsache macht er die Gesamtlage eines internationalen Staatensystems verantwortlich, in dem Deutschland vor allem wirtschaftlich zum ernstzunehmenden Konkurrenten wurde, gleichzeitig aber nicht stark genug war, als daß England oder Rußland an einem Bündnis mit Deutschland interessiert gewesen wären. Die von vielen Historikern in der Nachfolge des deutschen Kriegsschuldmatadors Fritz Fischer vertretene Auffassung, daß Deutschlands Streben nach »Weltpolitik« an sich unberechtigt oder gar verwerflich gewesen sei, lehnt Clark als geradezu grotesk ab.
Clark hält sich aber ansonsten klug aus politisch aufgeladenen Debatten heraus, etwa darüber, ob man von einer »Einkreisung« Deutschlands durch Frankreich, Rußland und England sprechen müsse oder vielmehr von einer selbstverschuldeten »Auskreisung«; Clark selbst spricht statt dessen von einer »Isolation« des Reiches, die viel mit der Gesamtinteressenlage aller beteiligten Staaten und wenig mit individuellen Entscheidungen zu tun gehabt habe; nur im Falle Frankreichs seien massivere antideutsche Ressentiments mit im Spiel gewesen. Der deutsche Flottenbau, der lange Zeit als eine wesentliche Kriegsursache galt, war laut Clark ein nachvollziehbarer und vernünftiger Schritt angesichts stark begrenzter Handlungsoptionen. Präventivkriegswünsche wiederum gab es unter den Militärs aller beteiligten Staaten, und gerade in Deutschland war deren Einfluß auf die politische Führung relativ gering. Rußlands »Blankoscheck« für Serbien, Frankreichs Drängen zum Zweifrontenkrieg und Englands Lavieren – das Clark ähnlich wie vor ihm schon der Historiker Niall Ferguson dafür verantwortlich macht, daß Frankreich und Rußland fest mit Englands militärischer Unterstützung rechnen konnten, während Deutschland darauf hoffen durfte, daß England neutral bleiben würde – werden von Clark für die Eskalation der Julikrise mindestens ebenso verantwortlich gemacht wie Österreichs Unnachgiebigkeit und Deutschlands Bereitschaft zum »Sprung ins Dunkle« (Theobald von Bethmann Hollweg) angesichts einer sich immer bedrohlicher zuspitzenden geopolitischen Lage.
Bei aller Sympathie für Deutschland und Preußen und bei allen Vorstößen gegen die heiligen Kühe der linksliberalen Geschichtsschreibung – Modernisierungstheorie, Säkularisierungsthese, deutscher Sonderweg und deutscher Schuldkult – ist Clark aber alles andere als ein »Rechter«. Eher könnte man ihn als einen Altliberalen bezeichnen, dem es vor allem um politische Ordnung und Rechtsstaatlichkeit zu tun ist. Demokratisierung hält er dazu meist für zweckmäßig, aber das gilt nicht immer und unbedingt, und vor allem ist Clark kein doktrinärer Antimonarchist. Darüber hinaus aber ist er tatsächlich in erster Linie ein Geschichtsschreiber, der allem Anschein nach keinerlei politische Absichten verfolgt, sondern vielmehr gegen die Aufladung der Geschichtswissenschaft mit politischen Zwecken zu Felde zieht. Seine ausländische Herkunft erschwert es dabei seinen deutschen Gegnern ganz besonders, einen Stich gegen ihn zu landen – Clark kann dann regelmäßig und süffsant darauf verweisen, daß Deutschland das einzige Land sei, in dem ihm Deutschenfreundlichkeit vorgeworfen werde.
Sein überwältigender bisheriger Erfolg ist dadurch aber nur zum Teil erklärt. Zu berücksichtigen ist nämlich der in der deutschen Wissenschaftstradition seltene unkonfrontative Ton Clarks: Seine Gegner widerlegt er nicht explizit und schon gar nicht polemisch, sondern er sucht die Plausibilität ihrer Position, um seine eigene dann als Ergänzung einzuführen, auch wenn sie in Wahrheit einen totalen Widerspruch impliziert. Hier und da geht Clark darin wohl zu weit; so beispielsweise, wenn er sich für eine Laudatio auf John Röhl hergibt, dessen Werk über Wilhelm II. Clark eigentlich in nahezu jeder Hinsicht widerlegt hat. Auch gegenüber Fritz Fischer äußert Clark sich respektvoll, beharrt aber doch darauf, daß dessen These nur durch einen ganz auf Deutschland und auf bestimmte Aspekte der deutschen politischen Kultur beschränkten Blick zustande gekommen sei und daß eine »transnationale« Ausweitung des Blickfeldes zu dem Ergebnis führe, daß sich eine entsprechende Kultur in allen europäischen Staaten vor 1914 nachweisen lasse. Auch verfällt Clark nicht dem Fehler einiger jüngerer deutscher Historiker, die Fischers Thesen längst für selbstverständlich widerlegt halten, ohne dabei zu berücksichtigen, daß dies keineswegs für die nichtwissenschaftliche Öffentlichkeit gilt und daß auch innerhalb der Wissenschaft eine »Light«-Version der Kriegsschuldthese nach wie vor weit verbreitet ist. Wer das Bild von der deutschen Hauptschuld am Ersten Weltkrieg wirksam bekämpfen will, muß ein Gegenbild entwerfen, und Clarks Vorschlag, den Krieg nicht als Verbrechen, sondern als Tragödie zu verstehen, an der alle Beteiligten ihren Anteil hatten und die sich deshalb auch nicht zur geschichtspolitischen Waffe gegen Deutschland eignet, hat das Zeug zu einem solchen Gegenbild.
Die Gegner Clarks, die vor allem den deutschen Schuldkult in Gefahr sehen, haben sich daher bereits in Stellung gebracht; zum großen Schlag aber haben sie noch nicht ausgeholt. Christopher Clark taugt nun einmal nicht zum »konstitutionellen Nazi« (Rudolf Augstein über Andreas Hillgruber), und ein neuer Historikerstreit könnte zu ungeahnten Ergebnissen führen.