Es mußten also anderthalb Jahre vergehen, bevor rekonstruiert und veröffentlicht werden konnte, was in den wenigen für die Zukunft Deutschlands entscheidenden Stunden geschehen war
– als die Waage sich bereits zugunsten einer Entscheidung für die Schließung der Grenzen neigte, zitternd in einen schrägen Stillstand geriet, für ein paar Stunden stehenblieb und schließlich zurückwippte in jene hypermoralische Verantwortungslosigkeit, in der wir seither zu leben haben.
Am 12. September 2015 meldete der Präsident der Bundespolizei, Dieter Romann, nach Berlin Einsatzbereitschaft. Ohne eine politische Entscheidung abzuwarten, hatte Romann Personal und Material in Südbayern zusammengezogen, um die deutsch-österreichische Grenze lückenlos schließen, Paßkontrollen durchführen und alle nicht einreiseberechtigten Personen abweisen zu können. Logistisch und organisatorisch würde eine solche Maßnahme ohne weiteres möglich sein, hatte man doch einige Wochen zuvor für die Sicherheit der sieben Staatsoberhäupter der G7-Gruppe Grenzkontrollen durchgeführt und wie nebenbei hunderte Zollvergehen, illegale Einwanderungsversuche und kriminellen Grenzverkehr abgefischt.
Thomas de Maizière konnte sich im Lagezentrum in Berlin an diesem 12. September in den Abendstunden nicht dazu entschließen, den bereits ausgefertigten Einsatzbefehl samt der darin enthaltenen fünf entscheidenden Wörter zu unterschreiben: Wer nicht einreiseberechtigt sei, solle »auch im Falle eines Asylgesuchs« zurückgewiesen werden, denn: Er komme über den Landweg, mithin über sichere Drittstaaten und Staaten der EU, in denen der Erstantrag auf Asyl zunächst zu stellen sei.
Allein: Es kam nicht zur Grenzschließung gegen den Ansturm Hunderttausender, es fehlte der politische Wille, oder vielleicht sollte man besser sagen: Es fehlten die politische Demut und die Verantwortung für das Ganze. Thomas de Maizière unterschrieb den Einsatzbefehl nicht, weil er, seine Kanzlerin und andere führende Politiker die schlimmen Bilder, die schlechte Publicity fürchteten. Es ging an diesem Abend nicht um Humanität oder Fachkräftemangel, auch nicht um den geradezu religiösen Wunsch, das deutsche Volk endgültig aus der Geschichte zu drängen: Es ging schlicht um die parteipolitische Angst vor schlechten Bildern und um die Frage, ob der politische Gegner einen Vorteil aus einer häßlichen Entscheidung würde ziehen können. Dieser typisch parteipolitischen Kleinmütigkeit wurden am 12. September 2015 Recht und Ordnung geopfert, und mit den Konsequenzen dieser völlig verantwortungslosen Mißachtung des Ganzen haben wir seither zu leben und zurechtzukommen.
Es wäre nichts weiter als eine Selbstverständlichkeit, diese Entscheidung zu revidieren, ihre Folgen zu korrigieren und die dafür Verantwortlichen ihrerseits zur Verantwortung zu ziehen.
Der Elitenwechsel
Im Netz kursiert die Zeichnung einer Uhr, auf der die eklatante Zukunftsschwäche der Demokratie anhand des Denkens in Wahlperioden anschaulich gemacht wird: Kurz vor den Wahlen signalisieren diejenigen, die sich sonst für die Lebenswirklichkeit vor allem des »kleinen Mannes« einen Dreck interessieren, daß sie begriffen hätten.
Der Ton wird plötzlich »populistisch« im Wortsinn, man kann geheucheltes Interesse ebenso beobachten wie den Versuch, Volksnähe herzustellen. Kaum jemandem sollten die peinlichen Auftritte von Martin Schulz entgangen sein, der als Heilsbringer für eine halbtote Partei eingeflogen wurde und seine Claqueure durchaus auffordert, doch einmal »Martin, Martin« zu rufen, wenn sie nicht von selbst darauf kommen. Überhaupt, Schulz und Merkel: Wir erleben die Inszenierung eines Machtkampfs zweier Kontrahenten, zwischen die im Grunde kein Blatt Papier paßt und die sich nur deshalb diesen Pseudostreit liefern, weil sie von der eigentlichen Auseinandersetzung ablenken wollen: der zwischen dem Establishment, das die Karre in den Dreck geritten hat, und einer echten, das heißt grundsätzlich angelegten Alternative, die ihn wieder herauswuchten will.
Die Demokratie in Deutschland wird an ihrer eklatanten Zukunftsschwäche nur dann zugrunde gehen, wenn der Elitenwechsel nicht gelingt. Der große Austausch muß bei den Parlamentariern der Altparteien anfangen.
Der Vorrang des Eigenen
Dieser Elitenaustausch ist deshalb notwendig, weil in Deutschland keine Politik mehr für, sondern gegen unser Land und unser Volk gemacht wird. Irgendein Fernster wird mit dem Nächsten verwechselt, der Fremde dem Eigenen, das Nicht-Wir dem Wir gleichgestellt oder sogar vorgezogen:
Während wir den eklatanten und existenzgefährdenden Gesetzesbruch der Regierung an der deutschen Außengrenze zu akzeptieren haben und uns für unser Pochen auf Selbstverständlichkeiten rechtfertigen sollen und beschimpfen lassen müssen, wird für jeden kriminellgewordenen oder illegal eingereisten Ausländer aus einem Fächer an Rechtswegen jener ausgewählt, der seine Abschiebung fast sicher verhindert.
Dieses Verhältnis muß vom Kopf zurück auf die Beine gestellt werden: »America first« ist nichts anderes als ein solcher Versuch, und ein erster Schritt wäre getan, wenn der Vogel, irgendwo auf halber Treppe liegend, aber aus den Klauen der Katze befreit, wieder fliegen wollte, wenn er es könnte – wenn er also zunächst an sich dächte.
Die Beseitigung des Selbsthasses
Aber der Vogel denkt nicht gut über sich selbst nach. Über den kulturellen Selbsthaß des alten Europa und den deutschen Schuldkult im besonderen haben Frank Lisson (Die Verachtung des Eigenen), Paul Gottfried (Multikulturalismus und die Politik der Schuld), Heinz Nawratil (Der Kult mit der Schuld) oder zuletzt Rolf Peter Sieferle (Finis Germania) ausführlich und pointiert geschrieben – diese besonders in intellektuellen Milieus verbreitete Selbstinfragestellung ist eine auf Geschichtserzählungen basierende Form der Minderwertigkeitspsychose und zieht eine existentielle Verteidigungsschwäche nach sich. Es ist, als wollte sich der Vogel nicht wehren und nicht davonflattern, selbst wenn er es könnte.
Der Deutsche: Zu sehr haßt er sich selbst, zu gründlich hat er seine Infragestellung als seine letzte Aufgabe begriffen, zu gern möchte er sich selbst abschaffen, seine Haut abstreifen, was nichts anderes bedeutet, als seine Geschichte und damit seine historische Schuld loswerden und unschuldig wie die anderen, die nichtwiderlegten Völker ohne Ballast nach dem Tag und dem Leben greifen. Das Gefährliche ist auch hier wieder die Eigenart, mit der zu Werke gegangen wird: Selbst in der Selbstabschaffung erweist sich der Deutsche als der Gründlichste, als derjenige, der sich selbst aus der Geschichte fegen wird.
Die Verachtung des Eigenen, die mangelnde Wertschätzung allen Fleißes, aller Entbehrung, aller Erfindungsgabe, Sparsamkeit und allen Durchhaltewillens unserer Vorfahren: Das ist der gebrochene Flügel des großen Vogels, von dem eingangs die Rede war. Ihn wieder einzurenken, das Gebrochene zu heilen, ist nicht die Sache einer patriotischen Regierungsmehrheit, sondern eine Generationenaufgabe.
Es bedarf dafür tatsächlich einer erinnerungs- und geschichtspolitischen Wende, aber nicht einer, die etwas von dem aussparte, was geschah, sondern einer, die sich reif, aussöhnend, aushaltend, einordnend erinnert, und die aus dieser Erinnerung weder Keulen schnitzt noch sie für die Bewirtschaftung der Vergangenheit mißbraucht.
Aber zugegeben: Dies erreicht zu haben, wäre bereits keine Selbstverständlichkeit mehr, keine Treppenstufe, sondern ein erster Flug mit geheiltem Flügel.
Die Vorabveröffentlichung aus Sezession 77 / April 2017 ist hiermit abgeschlossen.
Harald
Herr Kubitschek sie haben Recht. Der Staat muss dem Allgemeinwohl verpflichtet sein und Nicht Interessengruppen und Parteien. Diese haben sich den Staat zur Beute gemacht und weiden ihn aus. Die Filletstücken reißen Sie sich unter den Nagel und für den Rest muss der Staat geradestehen. Gewinne werden privatisiert und Verluste sozialisiert. Ein Beispiel für den Beutezug von Konzernen und Banken ist die Privatisierung von Post und Bahn. Wird als nächstes die Trinkwasserversorgung privatisiert oder gibt es vielleicht schon Pläne die Atemluft an private Investoren zu verhökern. Und damit wären wir bei der Sozialen Frage.Wer interessiert sich denn noch für die arbeitende Bevölkerung und ihre Sorgen und Nöte ? Freihandel und Globalisierung bedeuten Krieg gegen den kleinen Mann !