Wer sich auf die Suche nach dem Geist von 1914 begibt, wird irgendwann auf Nietzsche (1844–1900) stoßen. Sein Werk stand zwar nicht repräsentativ für den deutschen Geist, dafür war es zu widersprüchlich und auch zu verrätselt, aber es war subkutan in den Geist der Zeit eingesickert. Das gilt insbesondere für seinen Zarathustra, der bibelähnlich in Gleichnissen dem wahren Menschen, dem Übermenschen auf der Spur war. Als Nietzsches Zarathustra einem alten Mann begegnet, der sich wie in Trance scheinbar willenlos gebärdet und schließlich auf dem Boden liegend mit Gott und seinem Schicksal hadert, ist er zunächst ergriffen von den Bußgesängen des Alten. Bald durchschaut er ihn als Schauspieler und holt ihn durch ein paar Schläge mit seinem Stock auf den Boden der Tatsachen zurück. Nach dem Geständnis des Alten, daß er Zarathustra auf die Probe habe stellen wollen, erwidert dieser: »Du magst Feinere betrogen haben als mich (…). Ich bin nicht auf der Hut vor Betrügern, ich muß ohne Vorsicht sein (…). Du aber – mußt betrügen: so weit kenne ich dich! Du mußt immer zwei- drei- vier- und fünfdeutig sein!«. Selbst das Eingeständnis, sich nur verstellt zu haben, sei eine Lüge, mit der sich der Alte selbst betrüge. Nur der Ekel vor sich selbst sei noch echt an ihm. Der Betrüger bekennt daraufhin: »O Zarathustra, ich suche einen Echten, Rechten, Einfachen, Eindeutigen, einen Menschen aller Redlichkeit, ein Gefäß der Weisheit, einen Heiligen der Erkenntnis, einen großen Menschen!«.
Das ist eine der Stellen bei Nietzsche, durch die das Wort »echt« in den Mittelpunkt der Philosophie tritt. Nietzsche verlieh damit einer Bewegung Ausdruck, die das moderne Leben von Grund auf reformieren wollte. Die Lebensreform erfaßte am Ende des 19. Jahrhunderts weite Teile des deutschen Bürgertums, sei es als Kleiderreform, Vegetarismus, Jugendbewegung oder religiöse Erneuerung. Immer ging es darum, die Auswüchse der Industrialisierung seit der Gründerzeit zu kompensieren: Sie hätten zur Zerstörung der Umwelt und der angestammten Verhältnisse der Menschen geführt. Grundlegend war der romantische Gedanke, wonach es eine dem Menschen angemessene Lebensweise gebe, die es zunächst geistig wiederzuerringen gelte. Die Entfremdung des Menschen von seiner Natur sollte so überwunden werden. Hier spielt das deutsche »Sonderbewußtsein« eine nicht zu unterschätzende Rolle – es läßt sich seit Fichtes Reden an die deutsche Nation nachweisen. Deutschland war sich immer selbst als problematisch erschienen, weshalb die Frage nach dem, was deutsch sei, so schwierig zu beantworten ist. Die Hochstimmung in Intellektuellenkreisen bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges war Ausdruck der Hoffnung, daß es zu einer Überwindung der inneren Gegensätze und damit zu einer neuen deutschen Einheit kommen würde, wenn man gemeinsam gegen die rationalistischen Zivilisationen des Westens kämpfte. So sollte das »echte« Deutschland errungen werden. Daß Nietzsche nicht das Vorgehen der Obersten Heeresleitung bestimmte, dürfte klar sein. Aber die intellektuellen Wortmeldungen zum Sinn dieses Krieges waren durchaus in diesem Geiste gehalten.
Selbstverständlich wurde auch im Ersten Weltkrieg um Interessen gekämpft. Daneben gab es, wie niemals zuvor, einen Kampf der Ideen, der in den kriegführenden Ländern auf unterschiedliche Weise propagiert wurde. Auf deutscher Seite hat sich Max Scheler mit einigen Schriften zu diesem Thema hervorgetan. In seiner Aufsatzsammlung Krieg und Aufbau von 1916 wird die wichtigste Frage in diesem Zusammenhang explizit gestellt: Welche Weltmission verfolgen die kriegführenden Mächte? Während sich Frankreich als Erzieher der Menschheit sehe, England die Welt zum eigenen Vorteil beherrschen wolle und sich Rußland auf einer Mission der mitleidslosen Brüderlichkeit wähne, liege die Sache für Deutschland etwas komplizierter. »Im Verhältnis zu diesen hohen nationalen Selbstauffassungen ist Deutschland zu wahrhaftig und zu schlicht. Es nennt Macht Macht, Nutzen Nutzen, und es hat keine so ausgeprägte Nationalmetaphysik wie jene Völker.« Die Deutschen zeichne das ehrliche Reden über Macht aus, das nicht durch eine Weltbeglückungsformel überhöht werde. Deutschland wolle auch nicht der Erzieher der Welt sein, weil die Deutschen die Überzeugung beherrsche, daß eben nicht alle Völker gleich seien und damit unter den gleichen Ideen stehen sollten. Es gehe um Gerechtigkeit, um Differenzierung, nicht um Gleichheit und Demokratismus.
Gemeinhin wird unter das Schlagwort »Ideen von 1914« ein Weltanschauungskonglomerat gefaßt, das im Zusammenhang mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges bemüht wurde, um dem Krieg einen über die Machtfragen hinausgehenden Sinn zu verleihen. Die Formel »Ideen von 1914« verweist bei ihren ersten Vertretern, dem deutschen Ökonomen Johann Plenge und dem schwedischen Soziologen Rudolf Kjellén, auf eine Frontstellung gegen die Ideen von 1789, für die der Westen gegen die Deutschen in den Krieg ziehe. Dabei werden die Ideen nicht einfach analog gegen die Parole »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« der Französischen Revolution gerichtet, sondern in unterschiedlicher Art und Weise ausformuliert. Formal geht es um eine Alternative zu den westlichen Ideen der Gesellschaft, der Demokratie, des Utilitarismus und des Universalismus. Plenge stellt wohl als erster den Bezug zur Französischen Revolution und zu Napoleon her, wenn er von der »deutschen Revolution von 1914« spricht und behauptet, daß »die Ideen von 1914, die Ideen der deutschen Organisation, zu einem so nachhaltigen Siegeszug über die ganze Welt bestimmt sind, wie die Ideen von 1789«. Dagegen werden unterschiedliche Formen der Gemeinschaft, des Korporatismus, des Idealismus und der Selbstbeschränkung gesetzt, die sich auf den vor allem von Thomas Mann gebrauchten Gegensatz von Zivilisation und Kultur bringen lassen.
Nicht selten wurde dabei, beispielsweise bei der Freiheit oder der Demokratie, der westlichen Variante eine deutsche, also echte oder eigentliche, Position gegenübergestellt. Mehr Demokratie wurde durchaus von diesen Intellektuellen gefordert, allerdings nicht als Gleichmacherei und Macht der größeren Zahl, sondern als qualitativ abgestuftes, lebendiges System, das Leistung und Verantwortung an erste Stelle setzte. Zahlreiche Intellektuelle haben sich an diesem Krieg der Ideen beteiligt. Einige Aufrufe aus der Professorenschaft oder intellektuellen Kreisen wurden von Hunderten Unterstützern unterzeichnet. Zu den bekanntesten Schriften allerdings dürften Werner Sombarts Händler und Helden sowie Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen gehören. Sie umschließen nicht nur zeitlich die Dauer des Krieges (Sombarts Schrift erschien Anfang 1915 und Thomas Manns Betrachtungen kurz vor Kriegsende), sondern sind auch inhaltlich typisch für Anfang und Ende des Krieges. Sombarts Schrift richtet sich an die im Felde stehenden Krieger und möchte ihnen intellektuelle Munition liefern, indem sie ihnen, um Einfachheit bemüht, den Idealismus als siegreiche Weltanschauung gegenüber dem Utilitarismus vor Augen führt. Thomas Manns umfangreiches Buch hingegen ist zwar von demselben Gegensatz getragen, wurde aber schon unter dem Eindruck vollendet, daß der Versuch, den Ideen mittels des Krieges zum Durchbruch zu verhelfen, gescheitert sei. Manns Schrift ist daher weniger Aufruf als Selbstvergewisserung angesichts der Niederlage.
Angesichts dieser Bandbreite wird man die Frage stellen müssen, welche Gemeinsamkeit hinter diesen Ideen steckt, die im einzelnen ja weder besonders neu noch besonders eingängig waren. Es ist dies die Forderung nach der »Echtheit«, die wiederum auf die geistige Situation der Zeit reagiert. Der neuzeitliche Mensch ist, wie Gottfried Benn es 1913 ausdrückte, mit der »Seuche der Erkenntnis« geschlagen. Alles ist relativ geworden, seit Denken und Handeln nicht mehr eins sind, Erkennen und Erkanntes nebeneinanderstehen und die Verbindungsstruktur zwischen Objekt und Subjekt zerfallen ist. Das erkennende Subjekt gelangt nicht mehr in die Identität mit dem erkannten Objekt. »Nun aber entsteht«, so bemerkte Georg Simmel vor dem Ersten Weltkrieg, »innerhalb dieses Gefüges der Kultur ein Spalt, der freilich schon in ihrem Fundament angelegt ist und der aus der Subjekt-Objekt-Synthese, der metaphysischen Bedeutung ihres Begriffes, eine Paradoxie, ja, eine Tragödie werden läßt«. Das Objektive kann sich entziehen in Selbständigkeit und Massenhaftigkeit. Die Tragödie der Kultur besteht darin, daß die vernichtenden Kräfte aus dem zu vernichtenden Wesen selbst kommen. Mit der Kultur schafft der Geist ein selbständiges Objektives, in dem die Entwicklung des Subjekts zu sich selbst erfolgen soll. Allerdings kommt es immer dazu, daß die Kultur, daß das integrative Objektive einer Eigenentwicklung zu folgen beginnt, die dann die Subjekte für sich selbst in Anspruch nimmt und ihnen in ihrer Entwicklung dient.
Die Folge war, daß viele Menschen, denen es vor dem Ersten Weltkrieg objektiv sehr gut ging, sich subjektiv unwohl fühlten, sich innerlich vom Staat lossagten und ihr Glück in allen Arten der sogenannten Lebensreform suchten. Ihre Suche galt dem Echten und Ursprünglichen. Diese Suche ist der Kern der Ideen von 1914. Es geht um nichts Geringeres als die Rückführung des Ganzen auf den eigentlichen Kern und damit die Überwindung des Spaltes zwischen Subjekt und Objekt: Es ging um das richtige Leben. Die Ideen sind, könnte man mit Karl Jaspers sagen, das Umgreifende von Subjekt und Objekt, weil sie über den Verstand hinausgehen, indem sie ihn selber umfassen. Das Wesen der Idee ist die Totalität und das Unbedingte, das die sich entwickelnden und abstoßenden Bedingungen in ihrer Totalität umfaßt. Die Idee geht gleichsam über die Subjekt-Objekt-Spaltung hinaus. In der Idee liegt allerdings auch begründet, daß sie über den einzelnen Menschen hinausgeht.
Wenn man die Stimmung in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg mit einem Wort beschreiben wollte, so ist man unweigerlich auf das naheliegendste, auf das Leben selbst verwiesen. Dem Leben sollte alles dienen. Damit einher geht die Forderung nach Echtheit und Ursprünglichkeit, nach dem, was dem Leben entspricht. Friedrich Meineckes Unterscheidung von Nationalismus und nationaler Idee ist ein Beispiel für diese Stimmung. Wenn man das bedenkt, wird verständlich, was mit den Ideen von 1914 gemeint ist. Da geht es in der Regel weniger um konkrete Programme, sondern um die Idee, daß es ein wirkliches Leben gebe, das es jetzt in und für Deutschland zu erringen gelte. Friedrich Gundolf schreibt Ende August 1914 in einem Brief: »Die ungeheuren Tage, die wir erleben dürfen, die Verwandlung von vielen Millionen Leuten in ein deutsches Volk, das diesen heiligen Namen verdient, die Tatwerdung einer dumpfen Kräftemasse, deren Zersetzung uns schon ängstete, werden uns ja wohl auch ein neues Heldentum wenn nicht schon verwirklichen, so doch ermöglichen: daß die Goethische Bildung und die Bismarcksche Kraft nicht mehr nacheinander oder gar gegeneinander sondern miteinander ein Reich füllen und formen, daß das Schützenswerte und das Schützende, der Herd und die Mauer endlich zusammen gehören, und Deutschland nicht nur ›das heilige Herz der Völker‹, sondern auch der heilige Leib wird. Es gibt wohl jetzt kein andres Volk mehr von dem man eine neue Weltwerdung erwarten darf, wenn es nicht die Deutschen leisten. Nur hier ist noch bildsame Glut, Wahrheit und Zucht als Volksbedürfnis und Gesamtforderung«.
Das kann man, und wird man heute oftmals, für Hybris halten. Doch die wesentlichen Zeugnisse (nicht die Propagandaphrasen) sprechen eine andere Sprache. Den Vertretern der »Ideen von 1914« ging es vor allem um das eigene Volk. Die Ideen waren nicht universal angelegt: Mit ihnen verband sich nirgends die Absicht, anderen Völkern diese Ideen überzustülpen. Das sprichwörtliche deutsche Sendungsbewußtsein war also zunächst daran interessiert, den eigenen Bestand gegen die Übergriffe anderer zu wahren. Dafür gibt es zahlreiche Zeugnisse. Selbst in einer so dürftigen Schrift wie Händler und Helden von Werner Sombart, die auftrumpfend den Sieg beschwört, geht es vor allem um Selbstläuterung. Wilhelm Wundt (seine Schrift Die Nationen und ihre Philosophie ist ein anderes Beispiel) hat durch den Krieg die Gewißheit erlangt, »daß in der Seele des deutschen Volkes praktisch dieser Idealismus, nicht die Erhebung der Einzelpersönlichkeit, sondern ihrer Hingabe an das Ganze, an die ›Gattung‹, wie Fichte sich ausdrückte, lebendiger ist als jemals zuvor. In der Tat, in dieser Gesinnung sind die Verehrer Nietzsches und Schopenhauers so gut wie die Schüler Kants samt dem Positivisten und Monisten ins Feld gezogen«. In der langen Friedenszeit sei dieser verlorengegangen und jetzt als ein »Idealismus der Tat« zurückgekehrt.
Aus dem Blick auf die deutsche Situation selbst und vor allem aus dem Anspruch, den man als »heilig Herz der Völker« an sich selbst stellte, ergaben sich allerdings auch Pflichten, die über den Rahmen des eigenen Volkes hinausgingen. Hier galt es, für das Ganze Verantwortung zu übernehmen. Die »befriedete und züchtige, gehorsame und gläubige Weltordnung«, so hat es Rudolf Borchardt ausgedrückt, müsse gegen die »überquellende Wut der Weltwillkür verteidigt« werden. Um diese Grenze gehe der Kampf, in dem Deutschland stehe. Und wenn Borchardt sagte, daß diese Grenze auch gegen Westen verschoben werden müsse, so nicht, um Frankreich zu unterjochen, sondern »weil wir uns unseren Aufgaben, in dem verkommenden und absinkenden Europa die Ordnung herzustellen und zu verteidigen, nicht werden entziehen können; nicht zu eigenem Vorteile, denn wir hatten genug auch vordem: aber unsere Macht gehört uns nicht allein noch unbedingt; sie ist wie Genie ein Fideicommiß, für den Rechenschaft abgelegt werden muß«. Deutschland erscheint in diesem Kampf als Volk des Aufhaltens, das die »Pflicht in Gottes Ordnung zu stehen voll und ernst nehmen und sie wiedereinsetzen müssen wie sie im Bereiche unserer Welt durch keinen andern Arm gehalten werden kann als den unsern«.
Der Geist von 1914 ist in diesem Sinne die Konservative Revolution oder – in den Worten Borchardts – die »schöpferische Restauration« für die Wiederherstellung der Ordnung in der Welt. Das bedeute auch, daß man kritisch gegen sich selbst sein müsse und sich nicht mit äußeren Besitzständen zufriedengeben dürfe. Wie kritisch die Jahre vor dem Weltkrieg auch von den Vertretern der Ideen von 1914 gesehen wurden, machte Borchardt in einem anderen Vortrag deutlich. Dort bat Borchardt die Anwesenden förmlich, »die Nation ins Wahrhaftige, ins Bescheidene und Tiefe zurückzurufen, damit es kein leerer Schall sei, daß der Krieg uns wandelt, damit wird bildbarer Stoff werden in den mächtigen Schöpferhänden der Zeit, nach Jahrzehnten der Brache und der Starrheit«. Nicht zuletzt aus dieser selbstkritischen Perspektive heraus wurde bereits damals diskutiert, ob nicht eine Niederlage die bessere Voraussetzung für die Wiederherstellung der Ordnung wäre. Immerhin würde ein Sieg die Vorkriegszeit bestätigen, und es gäbe keinen Grund, etwas zu ändern. Wie müßig solche Debatten waren, die nach 1918 nahtlos fortgesetzt wurden, haben die tatsächlichen Folgen der Niederlage deutlich gemacht. Über den Wert der »Ideen von 1914« ist damit allerdings kein Urteil gesprochen. Die Forderungen nach Einkehr, nach Selbstbeherrschung, nach Ordnung, nach Echtheit und nach einem Sinn in der Geschichte bleiben aktuell. Sie sind vielleicht der letzte Ausdruck des deutschen Sonderbewußtseins, der die Zeiten überdauert hat.