Die heutige Philologie marginalisiert diesen Text vielfach als propagandistisches Nebenprodukt und eher peinliche Verirrung der Kriegsjahre. Sie folgt dabei Einschätzungen, wie sie der Autor bereits 1916 bei seinen zeitgenössischen Widersachern monierte, jener »radikalen Literatenschaft«, die glaube, in der Stoffwahl »ein Symptom streberischer Mitläuferei zu erkennen und mich, in ihrem generösen Jargon, der Parteinahme für den ›Säbel‹ gegen die ›Gerechtigkeit‹« zeihe (102). Dabei ist dieser Text eine der bemerkenswertesten Stellungnahmen aus den Anfangsjahren des Ersten Weltkriegs, historiographisch-belletristische Apologie ebenso wie schonungslose Lageanalyse und klarsichtige Prophetie.
Thomas Mann zeichnet in diesem »Abriß für den Tag und die Stunde« mit einiger erzählerischer Raffnesse das Porträt Friedrichs des Großen und seiner Gegner im Siebenjährigen Krieg. Dieser selbst wird in Entstehung, Verlauf und seiner politischen wie menschlichen Problematik eingehend erörtert. Der Autor hat sich intensiv in die historische Materie eingelesen. Doch geht es natürlich weniger um die Habsburger, Bourbonen oder Romanows, den »glorreichen Intriganten« Graf Kaunitz oder die Bündnispolitik des 18. Jahrhunderts. Vielmehr ist die Studie vor allem ein Gegenwartskommentar in Form einer intensiv genutzten historiographischen Allegorie. Bereits im ersten Absatz wird denn auch der Erste Weltkrieg als »Wiederholung oder Fortsetzung« der Kämpfe von 1756–63 bezeichnet.
Die damalige große Koalition gegen Friedrich zwischen Österreich, Frankreich, Rußland und Schweden, durch die sich Preußen »eingekesselt« sieht (66), wird mit der Entente gleichgesetzt, die Deutschland in einen Weltkrieg verwickelt. Des Königs Angriff auf das offziell neutrale Sachsen entspricht 1914 dem deutschen Einmarsch in Belgien. Und so fnden sich zahlreiche weitere faktische wie atmosphärische Akzentuierungen gemäß dem Erkenntnisinteresse zu Beginn des Weltkriegs.
Worin besteht nun Manns literarische Schützenhilfe für die kämpfende Front? Zunächst natürlich im Mut machenden Bezug auf eine ruhmreiche Tradition, wonach Preußen schon einmal einer erdrückenden Übermacht gegenüber standhielt. Advokatorisch wirken Passagen, in denen er per geschichtlicher Analogie auf die Pseudomoral der großen Kriegskoalition gegen Preußen eingeht. Er verweist auf das unnatürliche Bündnis zwischen vormaligen Dauerrivalen wie Österreich und Frankreich (vgl. später die Allianz des republikanischen Frankreich mit dem zaristischen Rußland), geschlossen im einzigen Wunsch, Preußen in den Staub zu treten. Mit beißender Ironie zerzaust er heuchlerische Schuldzuschiebungen (64) oder die Scheinsicherheit der Unterscheidung zwischen Offensive und Defensive respektive entsprechenden Bündnissen: »Ein Angriff kann ja aus Not geschehen und ist dann also kein Angriff mehr, sondern eine Verteidigung. Und wenn der Angriff den gegen ihn defensiverweise Verbündeten Vorteil verheißt, so ist es so gut wie unmöglich, die psychologische Grenze zu ziehen, wo der casus foederis sich aus einer Gefahr, der vorzubeugen man einig sein wollte, in eine Wünschbarkeit verwandelt. Er wird zu einer Frage der Sensitivität – es bleibt der Empfndlichkeit der Alliierten überlassen, wann einer von ihnen sich angegriffen fühlen will und wird […]. Das gegen Preußen gerichtete Defensivbündnis zwischen Österreich und Rußland betreffend, so hatte Kaiserin Maria Theresia Schlesien ja mehrfach feierlich abgetreten, und sie war eine viel zu gottesfürchtige Frau, um es sich auch nur einfallen zu lassen, die Verträge von Breslau, Dresden und Aachen zu brechen. Ebendeshalb aber galt es für sie, eine moralische Möglichkeit zur Wiedergewinnung Schlesiens zu statuieren, und das geschah durch ihr Bündnis mit Rußland: denn wenn Friedrich angriffe, so sollte er Schlesiens Rechtens verlustig sein. War nun für die gute Maria Theresia der casus foederis eine Gefahr oder eine Wünschbarkeit? Sagen wir: eine ängstliche Wünschbarkeit oder eine verheißungsvolle Gefahr.« (51f)
Der Autor registriert Ungereimtheiten in der sächsischen Neutralität,
die Friedrich ebenso ignorierte wie Deutschland die belgische, was implizit gerechtfertigt wird:
»Eine wahre und redliche Neutralität gab es nicht zu verletzen. Mit dem Herzen, mit seinem bösen Willen stand Sachsen auf seiten der Koalition, wenn auch Feigheit es gehindert hatte, solche Zugehörigkeit manifest werden zu lassen. Tat Friedrich dem Buchstaben nach unrecht, brach er eine Neutralität, die auf dem Papiere stand und deren Verrat nicht auf dem Papiere stand, so handelte er in bitterster Notwehr. Er mußte Schuld auf sich laden, um die Schuld seiner Gegner an den Tag bringen zu können, mußte sich unbedingt des Dresdener Archivs bemächtigen […]. War Sachsen gescheit, so leistete es ihm keinen Widerstand […]. Bestand es aber darauf, seine Haut für Österreich zu Markte zu tragen, so war er gewillt, es zu zermalmen.« (70)
Die Dresden-Episode bezüglich der Herausgabe der Geheimkorrespondenz spielt auf die Durchsuchung belgischer Archive an. Sie galt dem Nachweis von Vorkriegsabsprachen mit der Entente und wurde vom Schweizer Nobelpreisträger Carl Spitteler seinerzeit übrigens als »Dokumentenfschzug in den Taschen des zuckenden Opfers« skandalisiert. Thomas Mann wiederum spottete über eine Geheimdiplomatie, die Eigentliches verberge. Und in der Tat gab es schon vor Kriegsausbruch vertrauliche Kontakte zwischen belgischen, französischen und britischen Militärs. Gleichwohl war der deutsche Angriff durch die Strategie des Schlieffen-Plans ohnehin vorherbestimmt.
Doch letztlich steht das Entlarven diplomatischer, bloß legitimatorischer Ränkespiele für Manns Einschätzung des Kriegs gar nicht im Vordergrund. Beharrt er doch – und vermutlich zu Recht – darauf, daß die sächsische (alias belgische) Neutralitätsverletzung ebenso wie die jeweiligen »zivilisatorischen« Vorbehalte gegen das »barbarische« Preußen lediglich Vorwände oder Handlungsanlässe waren. Damit kommen wir als Kern der Studie zur Diagnose der Kriegsursachen.
Zunächst fällt auf, daß der Autor wenig unternimmt, um Friedrich reinzuwaschen. Vielmehr zeichnet er ihn von Anfang an als dreisten Eroberer, der sich im Rahmen der Pragmatischen Sanktion unprovoziert Schlesien einverleibte und auch später mit dem Einmarsch in Sachsen das Odium des Angreifers bzw. die vollkommen feindliche öffentliche Meinung der Welt (67) nicht scheute. Des weiteren befleißigt er sich einer desillusionierenden wie despektierlichen Einschätzung dieses Krieges, in dem er einzig das Machtprinzip walten sieht. Mehr noch: Manns Friedrich wirkt zuweilen unsympathisch bis zur Karikatur. Der Autor hat die Geschichte auf eine Art erzählt, daß er – gemäß Selbstkommentar (102) – dafür »bestimmt keinen Adlerorden« zu erwarten hatte. Machte er doch seinen »Helden so naturalistisch schlecht, daß die Arbeit patriotischen Freunden im ersten Augenblick für unpublizierbar galt« und »in weniger disponierten Köpfen eine zornige Verwirrung« angerichtet habe. Im Essay liest sich das etwa so:
»Zuweilen möchte man glauben, er sei ein Kobold gewesen, der aller Welt Haß und Abscheu machte und alle Welt hineinlegte, ein ungeschlechtlicher, boshafter Troll, den umzubringen hundert Millionen Menschen sich vergebens ermatteten, da er entstanden und gesandt war, um große, notwendige Erdendinge in die Wege zu leiten, – worauf er unter Zurücklassung eines Kinderleibes wieder entschwand.« (87)
Dabei entfaltet sich die Brisanz dieser Studie, die S. Fischer aus patriotischer Sorge zunächst gar nicht in Buchform verlegen wollte, erst wirklich, wenn wir die zahlreichen Parallelisierungsmöglichkeiten ausschöpfen und ernst nehmen. Denn Friedrich – und wir müssen in ihm (nicht als Person, aber als Funktion) immer ein wenig auch Wilhelm II. sehen – ist ein Zyniker mit bemerkenswerten Charakterdefekten, vor militärischen und politischen Fehlern dabei ebensowenig gefeit wie vor den prekären Folgen seiner Lästerzunge und diversen undiplomatischen Aktionen. Er schafft es sogar, »geborene und geschworene Erbfeinde gegen sich zu vereinigen« (63), was der Wilhelminischen Außenpolitik mit Frankreich und Rußland gleichfalls passierte. Und daß er am Ende bei diesem militärischen Vabanque-Spiel nicht sein ganzes Reich verlor, hatte letztlich sogar mit »Glück« zu tun, auch wenn dies bereits vom Autor in Gänsefüßchen gesetzt wurde. War Fritzens Armee doch schon fast gänzlich geschlagen, »als Elisabeth von Rußland ihren Liebhabereien erlag und ein armer Tropf namens Peter zum Thron gelangte, der Friedrich blöde verehrte und nachäffte und sofort mit ihm Frieden schloß.« (86)
Diese auffällige erzählerische Drastik hat Gründe und Folgen. Zunächst einmal entkräftete Mann damit den Verdacht einer Augen verschließenden parteilichen Darstellung. Sodann vermittelte sein rabenschwarzes Friedrich-Image, gezeichnet vor allem aus der Sicht europäischer Höfe, zugleich eine Vorstellung von dem, was auch gegenwärtig die veröffentlichte Weltmeinung den Mittelmächten zumutete. Die Entente hatte schließlich von Anfang an alle Register psychologischer Kriegsführung gezogen: von Greuel- und Barbaren-Kampagnen mit gefälschten Nachrichten und Photos von angeblich durch Deutsche verstümmelten Kindern und willkürlichen zerstörten Kulturdenkmälern über die Festlegung deutscher Alleinschuld bis zum Kaiser-Bashing und dem Stereotyp preußischer Militärdespotie. Praktischerweise für die Entente kappte man auch noch das deutsche Überseekabel, um den medialen Alleinvertretungsanspruch zu sichern.
So wurde, unter tatkräftiger Mitwirkung interessierter US-Kreise, das Bild des häßlichen Deutschen popularisiert und globalisiert. Dagegen sucht Mann seine Landsleute zu immunisieren. Als blauäugig gilt ihm, daß der Krieg (ob in Friedrichs oder zu Wilhelms Zeiten) tatsächlich durch Ungeschicklichkeiten oder politische Extravaganzen verursacht worden sei. Das sei nur Oberfläche gegenüber den eigentlichen Motiven, wonach eine aufsteigende Macht, die sich ihren Status im Konzert der bereits etablierten Staaten erst erstreiten muß, eben als Störenfried gilt und massiven Widerstand herausfordert. Wer seinen Fähigkeiten und Leistungen gemäß zu einem neuen Macht- und Territorialspiel einlud, mußte zum Stein des Anstoßes werden, galt strukturell als ärgerlicher Konkurrent und »politisch Neureicher mit schlechten Manieren«. Und nur wo er siegte, war man vielleicht später einmal geneigt, einzuräumen, daß die von ihm aufgekündigten politischen Spielregeln ihn als Unebenbürtigen benachteiligt hatten:
»In seinen allerletzten Gründen war dieser ungeheuerliche Kampf ein Angriffskrieg: denn die junge, die aufsteigende Macht ist psychologisch genommen immer im Angriff […]. Etwas weiter gegen die Oberfläche war er ein Verteidigungskrieg: denn Preußen war ja ›eingekreist‹ und sollte baldtunlichst vernichtet werden. Er war dann wieder ein Angriffskrieg, indem Friedrich ihn zuvorkommend vom Zaune brach. Er war abermals ein Verteidigungskrieg: denn einer gegen fünf, das läuft jedenfalls auf Verteidigung hinaus […]. Und er war fünftens wieder ein Angriffskrieg, indem die schwerste und verzweifeltste Verteidigung sich notwendig in die Form des Angriffs rettet.« (83)
Nicht weniger brisant ist das, was Thomas Mann mit seiner Friedrich-Parallele den Deutschen an zukünftigen Schrecken und Nöten ankündigt. Ganze sieben Jahre unsäglichen Leidens wurden es zwar nicht, weil das Volk 1918 seinem Herrscher nicht mehr folgte. Aber wie teuer selbst ein (durch glückliche Umstände) verheißener Sieg die Deutschen kommen könnte, wird durch diese Analogie angesprochen. Mag seine Diagnose auch noch Restbestände machiavellistischen Denkens enthalten, sie schuf jedenfalls wünschenswerte Klarheit. Denn im 18. wie im 20. Jahrhundert waren die jeweils großen Koalitionen ja in der Tat nicht nur der Sicherheit wegen geschmiedet, sondern vielmehr, um das Preußenbzw. Deutschland-Problem endgültig militärisch zu lösen. Dies unmißverständlich darzulegen hatte den Vorzug, daß hierdurch für den Leser der essentielle Konfliktkern herauspräpariert wurde, ohne daß die Rolle der Mittelmächte als Brandbeschleuniger geleugnet worden wäre.
Auch scheut Mann sich nicht, bei derart gigantischen militärischen Anstrengungen eine äußerst bescheidene Bilanz zu ziehen. Denn Friedrich »hatte nichts Greifbares gewonnen, und seine Länder waren verheert, verwildert, verarmt, entvölkert« (86). Welche trüben Aussichten bereits zu Beginn des Jahres 1915! Dem steht als Aktivposten lediglich gegenüber, daß Preußen nicht ein einziges Dorf verloren, Schlesien (alias Elsaß-Lothringen) bewahrt hatte und insofern »das Ziel der großen Koalition vollkommen verfehlt« worden sei:
»Der Spruch des Fatums hatte gegen alle Wahrscheinlichkeit für ihn entschieden, das Urteil anzufechten war untunlich auf lange Zeit, man mußte Preußen, mußte Deutschland den Weg freigeben, – welcher sich auch hinfort als ein Weg erwies so steil und schicksalsvoll, an mächtig erzieherischen Wendungen so reich wie keiner, den ein Volk je gegangen.« (86)
Es bleibt also als historisches Fazit wie als Zukunftshoffnung lediglich ein einziges erreichtes Kriegsziel: die Bestätigung als Großmacht. Der Autor verdeutlicht darüber hinaus, daß man sich über die desaströse internationale Meinung bezüglich Preußens alias Deutschlands keine Illusionen machen dürfe und daß Deutschlands Zukunft nach Lage der Dinge, um der Katastrophe noch zu entkommen, den militärischen Erfolg zwingend vorschreibe:
»Der Haß und Abscheu gegen Preußen mochte so unbelehrt und irregeleitet wie immer sein: die Frage […] war die, ob es […] gegen einen so allgemeinen Gefühlsdruck sich behaupten […] werde. Es gehört mehr Nerv dazu, einer Übermacht von Rechtsgefühl die Stirn zu bieten, als einer überlegenen Truppenmacht zu trotzen. Friedrich mußte sich sagen, daß, wenn er unterläge, der Hohn und die Freude der Welt grenzenlos sein würden; daß ihm in diesem Falle nicht nur niemals Gerechtigkeit zuteil werden würde, sondern daß er dann auch tatsächlich im Unrecht würde gewesen sein. Eben deshalb war es bitter nötig, daß er siegte. Er war nicht im Recht, sofern Recht eine Konvention, das Urteil der Majorität, die Stimme der ›Menschheit‹ ist. […] Unterlag er, so war er der elendeste Abenteurer, ›un fou‹, wie Ludwig von Frankreich gesagt hatte. Nur wenn sich durch den Erfolg herausstellte, daß er der Beauftragte des Schicksals war, nur dann war er im Recht und immer im Rechte gewesen.« (75f)
Beziehen wir diese bittere Einschätzung auf die Jahre 1914/18, so lag darin allerdings eine gewaltige, fast deprimierende, aber phrasenlose Prophetie, deren Korrektheit sich schon bald erweisen sollte. Denn mit Versailles und nach dem zwei Jahrzehnte später noch katastrophaler gescheiterten Revisionsversuch begann ein Jahrhundert, in dem man dem Weltkriegsverlierer in der Tat lange Zeit jegliche Basis absprach, auch nur in Ansätzen Recht zu haben oder es zu reklamieren. Und so provozierend es gutmenschlicher Perspektive scheinen mag: Selbstverständlich hätten wir im Fall des Sieges ein ganz anderes, strahlendes Geschichtsbild, dem der Alliierten nicht unähnlich, für die dieser Krieg ja immerhin noch heute der »große« ist. Das also waren nach Thomas Mann die Auspizien, die sich ergaben, nachdem die Deutschen mit ihren österreichisch-ungarischen Bundesgenossen in diesen Krieg hineingetaumelt waren. Eine Zwangslage oder Zwickmühle hatte sich ergeben, die nachgerade zum Siegen verdammte, sofern man die Prämissen akzeptierte, die Friedrichs Handeln zugrunde lagen: nämlich Großmacht zu sein oder zu werden.
War dieser Preis von Preußen bzw. Deutschland zu zahlen? Thomas Mann hielt ihn in Übereinstimmung mit führenden Kräften seines Landes lange Zeit für angemessen. Die Entente (mit gegenläufiger Zielsetzung) desgleichen. Insofern defniert Manns politischer Essay zeittypische Denkmuster und fast staatsmännische Handlungszwänge im Verständnis jener Epoche. Er geht sogar so weit – und ich halte dies für die einzig erhebliche Schwäche des Texts –, dafür Friedrich gar nicht mehr persönlich verantwortlich zu machen. Handle er doch praktisch im Auftrag der Nemesis oder anderer göttlicher Ratschlüsse:
»Er meinte zwar, daß er sich geopfert habe: seine Jugend dem Vater, seine Mannesjahre dem Staate. Aber er war im Irrtum, wenn er glaubte, daß es ihm freigestanden hätte, es anders zu halten. Er war ein Opfer. Er mußte unrecht tun und ein Leben gegen den Gedanken führen, er durfte nicht Philosoph, sondern mußte König sein, damit eines großen Volkes Erdensendung sich erfülle.« (88)
Auch in seiner Entscheidung zum Krieg sei er letztlich gar nicht wirklich frei gewesen, und die Frage, ob er ihn gewollt habe, führe »in die Schlünde des nie ausgedachten Problems von der Willensfreiheit. Er hat wohl zeitig gewußt, daß er ihn werde wollen müssen; und nachdem er das Verhängnis eine Weile genasführt, hatte er Bosheit und Menschenstolz genug, um ihn frei zu wollen.« (66)
Einspruch, Euer Ehren! Machen wir ja auch gegenwärtig unsere kuriosen Erfahrungen mit sogenannter »Alternativlosigkeit« – eine Argumentationsfgur, die sich fast immer als mystifzierende Ausrede, Betrug oder Ausdruck von intellektuellem Halbdenkertum erweist. Denn der Mutige sollte sich, ungeachtet des politischen Gegenwinds und jeweiliger Erfolgsaussichten, immer gegen sogenannte Epochentendenzen stemmen, wenn er die Folgen eines Mitmachens nicht mehr verantworten kann. Und des Königs respektive Kaisers Entscheidungen waren ja auch nur dann »alternativlos«, wenn man partout Großmacht sein wollte. Eine staatliche Existenz mit geringeren Ansprüchen hätte Kriege verhindern können, sowenig dies dem international gängigen Prestigedenken und Weltmachtstreben jener Ära entsprach.
Angesichts der (langfristigen) Folgen, die etwa Wilhelms II. Risikokurs für Deutschland haben sollte, rechtfertigen bzw. empfahlen sich auch weniger heroische Entschlüsse. In jedem Fall wäre uns, da jener Krieg nun einmal zu unseren Ungunsten endete, eine gesteigerte Wiederholung des Desasters und in der Folge ein Jahrhundert Halbkolonialisierung erspart geblieben, von der wir uns heute nur scheinbar befreit wähnen, weil man uns, ökonomisch befriedigt, in eine »Brave New World«-Seligkeit gebettet hat.
Entschuldigt es Kaiser Wilhelm, Thomas Mann und die maßgeblichen deutschen Eliten, daß sie ähnlich dachten wie ihre Feinde? Ja und nein. Allerdings ist auch Zeitkonformität nicht zum Nulltarif zu haben: Die europäischen Kriegsteilnehmer haben langfristig dafür eine in der Substanz vergleichbare Quittung erhalten mit dem Verlust ihrer einst führenden Stellung in der Welt, vom unendlichen Leid ganz abgesehen, das diese gut vierjährige Schlächterei nicht nur ihren Völkern eintrug.