SEZESSION: Sehr geehrter Herr Professor Fenske, wir stehen am Beginn eines Erinnerungsmarathons, weil sich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum hundertsten Male jährt. In den Ländern der Alliierten war die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg immer sehr präsent, wohl nicht zuletzt deshalb, weil man ihn gewonnen hatte. In Deutschland dagegen ist die Erinnerung verblaßt. Liegt das nur an dem verheerenden Resultat des Zweiten Weltkriegs oder ist das geschichtspolitisch gewollt?
Fenske: Es hängt sicher mit dem 1918 errungenen Sieg zusammen, daß die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in den Staaten der damaligen Alliierten viel stärker lebendig ist als bei uns. Viel wichtiger dafür ist aber, daß die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs bei uns die Erinnerung an die Jahre 1914 bis 1918 überlagert hat. Seit geraumer Zeit ist das auch geschichtspolitisch gewollt, die Erinnerung soll sich auf jene Zeitspanne konzentrieren, in der die Schuld Deutschlands festgeschrieben ist.
SEZESSION: Dem australischen Historiker Christopher Clark ist mit seinem umfangreichen Buch Die Schlafwandler in Deutschland ein Bestseller gelungen. Obwohl sein Buch die Deutschen von der Haupt- oder gar Alleinschuld am Weltkrieg entlastet, sind die Reaktionen der Feuilletons überwiegend positiv. Bahnt sich da ein Perspektivenwechsel an, der auch Eingang in die Schulbücher fnden wird?
Fenske: Das Buch von Christopher Clark ist fraglos ein sehr gewichtiger Beitrag zur Veränderung der Sicht auf 1914. Es wird aber noch sehr lange dauern, bis der Perspektivwechsel weithin vollzogen ist und auch Eingang in die Schulbücher gefunden hat: Eine junge Historikergeneration müßte den Paradigmenwechsel durch die Institutionen tragen und irgendwann an verantwortlicher Stelle tatsächlich eine Korrektur des Geschichtsbilds vornehmen.
SEZESSION: Obwohl der Erste Weltkrieg kein Krieg der Ideologien war wie der Zweite Weltkrieg, endete er mit der Behauptung der deutschen Alleinschuld und der Kriminalisierung der deutschen Führung. Worin sehen Sie die Ursachen dieser Entwicklung zum »diskriminierenden Kriegsbegriff« (Carl Schmitt)? Fenske: Gewiß war der Erste Weltkrieg kein Krieg der Ideologien, er wurde aber in den Staaten der Entente ideologisch sehr stark aufgeheizt, vor allem in England und zwar vom ersten Tage an. Antideutsche Äußerungen im ideologischen Gewand waren in weiten Teilen der britischen Presse – verwiesen sei auf den Konzern von Lord Northcliffe – lange vor dem Krieg zu finden. Das war zum Teil Reaktion auf die antibritische Stimmung in Deutschland während des Burenkrieges, viel wichtiger war aber die Eifersucht wegen des steilen wirtschaftlichen Aufstiegs, den das Deutsche Reich nahm. Bald nach 1900 stand es beim Umfang des Handels Großbritannien kaum nach. Die Engländer sollten moralisch für den vermeintlich unausweichlichen Kampf mit dem unliebsamen Konkurrenten vorbereitet werden. Dazu bot sich das Argument an, der preußische Militarismus strebe die Vorherrschaft in Europa an. Entsprechend hieß es in der von einem englischen Diplomaten verfaßten alliierten Mantelnote zum Versailler Vertrag vom 16. Juni 1919, Deutschland habe getreu der preußischen Tradition danach gestrebt, ein unterjochtes Europa zu beherrschen und zu tyrannisieren. Einem solchen Plan mußte entschieden begegnet werden. Die deutsche Alleinschuld wurde von alliierter Seite gleich zu Beginn des Krieges behauptet. Im September 1914 sagte der britische Premier Asquith in einer öffentlichen Rede, der Krieg sei ein Kreuzzug gegen die Anmaßung einer einzelnen Macht, Europa zu beherrschen. Zu den Absichten der britischen Führung gegenüber Deutschland in den letzten Vorkriegsjahren sei verwiesen auf das jüngst erschienene Buch von Gerry Docherty und Jim Macgregor, Hidden History. The Secret Origins of the First World War (Edinburgh 2013).
SEZESSION: In Ihrem Buch Der Anfang vom Ende des alten Europa zeigen Sie, daß die Alliierten sich konsequent den Friedensbemühungen der Mittelmächte und neutraler Staaten verweigerten. Woraus resultierte diese Haltung? War man sich so sicher, zu gewinnen? Oder glaubte man sich wirklich auf einer moralischen Mission?
Fenske: Die Alliierten wollten Deutschland auf jeden Fall empfndlich schwächen. Deshalb durfte es keinen Verhandlungsfrieden geben. Sie waren sich sicher, dieses Ziel erreichen zu können, wenn nicht aus eigener Kraft, so doch mit Hilfe der USA, die in den Krieg hineingezogen werden mußten. In diesen Zusammenhang gehört die Versenkung der »Lusitania« im Mai 1915. Die führenden alliierten Politiker werden gewußt haben, daß die von ihnen verkündete moralische Mission Propaganda war, aber schließlich glaubten sie wohl selbst daran.
SEZESSION: Aus dem Buch Der Große Krieg von Herfried Münkler geht anschaulich hervor, wie offen der Krieg bis in die letzten Wochen war. Deutsche Truppen standen weit in Feindesland und waren militärisch keineswegs geschlagen. Gewinnt da die Rede vom Dolchstoß nicht neue Plausibilität?
Fenske: Diese Frage ist zu verneinen. Gewiß standen die deutschen Truppen noch im Herbst 1918 in Frankreich und Belgien, aber von einem Dolchstoß kann wahrlich nicht die Rede sein. Der in der Neuen Zürcher Zeitung im Dezember 1918 aufgenommene Ausdruck war schon längere Zeit geläufg. In der Version der Rechten meinte er, die deutsche Front sei durch defätistische Einflüsse aus der Heimat geschwächt und schließlich durch die Revolution von hinten erdolcht worden. Die Linke sah den Verzicht der Reichsleitung auf gründliche Reformen und auf ein rechtzeitiges Friedensangebot als Dolchstoß. Beide Versionen hielten der Wirklichkeit nicht stand. Nach dem kontinuierlichen Vorrücken der Alliierten ab Juli 1918 und der bedingungslosen Kapitulation Bulgariens im September 1918 gestand sich die Oberste Heeresleitung ein, daß sie dem Krieg keine Wende mehr geben konnte. Hindenburg wollte dem deutschen Volk weitere sinnlose Opfer ersparen. So tat Prinz Max von Baden, soeben zum Reichskanzler ernannt, am 3. Oktober den von der Obersten Heeresleitung gewünschten Schritt und wandte sich über die Schweiz an Präsident Wilson mit der Bitte um einen Waffenstillstand: Er möge die Herstellung des Friedens auf Grundlage seiner vierzehn Punkte vom 8. Januar 1918 in die Hand nehmen. Der Waffenstillstand wurde von Wilson um mehr als fünf Wochen hinausgezögert, weil die Alliierten vorher noch ihre militärische Stellung verbessern wollten.
SEZESSION: Muß man angesichts der Konsequenz, mit der die Alliierten ihre Kriegsziele verfolgten, dagegen bereits den damaligen Deutschen nicht einen gewissen Hang zum Gutmenschentum unterstellen? Immerhin war die Greuelpropaganda der Alliierten darauf angelegt, die Deutschen zu entmenschen. Die deutsche Propaganda nahm sich dagegen zaghaft und geradezu human aus.
Fenske: Auch diese Frage beantworte ich mit einem Nein. Von einem Hang zum Gutmenschentum sollte man angesichts des deutschen Verzichts auf Haßpropaganda nicht sprechen. Der Reichsleitung ging es um die baldige Beendigung des Blutvergießens. Eine Klimaveränderung durch Haßpropaganda war damit nicht vereinbar. Den Status quo ante wollte sie nur geringfügig verändern. Sie beurteilte die Dinge sehr nüchtern.
SEZESSION: Warum hatten die konservativ-revolutionären Ideen von 1914 (Kultur, Gemeinschaft, Korporatismus) gegen die liberalen Ideen von 1789 (Zivilisation, Gesellschaft, Demokratie) keine Chance?
Fenske: Der Krieg wurde von 1914 bis 1918 nicht um Ideen geführt, sondern um Machtpositionen. England und Frankreich wollten, wie vorhin schon bemerkt, das Deutsche Reich empfndlich schwächen, wenn nicht zerschlagen; Rußland wollte die Donaumonarchie vernichten und die Herrschaft über die Meerengen erlangen. Wäre es bei einem Krieg der Europäer untereinander geblieben, so hätten sich die Mittelmächte sehr wohl behaupten können. Kriegsentscheidend war das Eingreifen der USA auf der Seite der Alliierten. Ohne die starke Streitmacht, die sie 1918 nach Frankreich brachten, hätten Frankreich und England die deutsche Frühjahrsoffensive nicht aufhalten können. Dann wäre in Frankreich vermutlich der auf einen umfassenden Sieg setzende Ministerpräsident Clemenceau gestürzt und eine friedensgeneigte Regierung gebildet worden. Diesen Eindruck hatte jedenfalls der britische Botschafter in Paris. Sehr wahrscheinlich war der entscheidende Fehler des Deutschen Reiches während des Krieges der am 9. Januar 1917 im Hauptquartier in Pleß gefaßte Beschluß, den unbeschränkten U‑Bootkrieg am 1. Februar wieder aufzunehmen. Das machte es Präsident Wilson im April möglich, die Vereinigten Staaten in den Krieg zu führen. Ganz allgemein sei angemerkt, daß der Unterschied im politischen Denken in Deutschland und den westlichen Staaten bei weitem nicht so groß war, wie Ihre Frage das vermuten läßt. Die Deutschen waren 1914, wie die amerikanische Historikerin Margaret Lavinia Anderson in ihrem Buch Lehrjahre der Demokratie (Stuttgart 2009, amerik. Original 2000) überzeugend gezeigt hat, im Lernprozeß in Sachen Demokratie weit vorangekommen.