auf die Lüge in ihrer Perfektionierung besteht –; wenn die Heuchelei aufgehört hat, eine Berechnung der Heuchler zu sein und statt dessen die Heuchelei das Selbst ihrer Propagandisten beherrscht –; wenn man die Medien nur noch unter zoologischen Gesichtspunkten konsumieren kann –; wenn die Literatur sich darauf beschränkt, die öffentliche Lüge und Heuchelei zu verdoppeln und in den Buchläden sich die globalen Bestseller stapeln, die »Literatur für Idioten« (Heiner Müller) –: spätestens dann wird die Anschlußfähigkeit eines Autors an den Kultur- und Medienzirkus zum Indiz seiner Beliebigkeit. Wer weder Einfaltspinsel noch Opportunist sein will, muß aufhören, um Anschlußfähigkeit zu buhlen und seine Gegenrede marktgerecht zu minimieren. Er muß die Lüge eine Lüge nennen und sie mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln verwerfen!
Auf eine spektakuläre Wirkung darf er allerdings nicht hoffen. Sogar das physische Selbstopfer auf dem Altar des Volkes, des Staates, der Gemeinschaft läuft ins Leere. Denn das sind heute imaginäre Begriffe, weshalb der Ruf ohne Echo, die äußerste Geste ohne Resonanz bleibt. Es geht nur darum, die Selbstachtung zu wahren und wenn nicht der Wahrheit, dann wenigstens der Wahrheitsliebe ein Refugium zu geben, und hätte es nur die Größe einer Flaschenpost, die er an gegenwärtige Versprengte und an Zukünftige auf die Reise schickt. Der Autor, der das Wagnis eingeht, muß damit rechnen, daß sämtliche Positionen, die er bezieht, »Verlorene Posten« sind. Für den französischen Schriftsteller Richard Millet war der Moment der Entscheidung gekommen, als der Norweger Anders Breivik am 22. Juli 2011 im Regierungsviertel von Oslo eine Bombe zündete und anschließend in einem Ferienlager der sozialdemokratischen Jugendorganisation ein Massaker anrichtete. Die berufenen Deuter und Experten verorteten die Gründe für den Massenmord in den Gefilden des Rechtsextremismus, der in unserer säkularen, liberalen Gesellschaft den Platz des radikal Bösen einnimmt und damit jene mythische Funktion erfüllt, die im real existierenden Sozialismus der »Klassenfeind« innehatte. Er ist eine Projektion und zugleich eine Mystifkation, in der Staat und Gesellschaft die selbstproduzierten Konflikte, Aporien und ihren Schmutz entsorgen.
Sie trennen ihn von sich ab und blasen anschließend gegen ihn zur Attacke: ein niemals endender Prozeß, welcher der Täuschung und Selbstlegitimation dient und für eine künstliche Dynamik sorgt. Im Fall von Breivik wurde folgerichtig vermieden, dem konkreten Kontext des Massenmords nachzugehen und seine tiefere Bedeutung zu erschließen. Dieser Verdrängung setzte Millet am 24. August 2012 seinen »Literarischen Gesang auf Anders Brevik« entgegen, der eine wütende Kampagne auslöste. In deren Folge wurde er zu einem der »am meisten verabscheuten französischen Schriftsteller«, außerdem verlor er seinen Posten als Lektor beim renommierten Verlag Gallimard. Der Aufsatz liegt nun in deutscher Sprache vor, zusammen mit weiteren, kaum weniger spektakulären Aufsätzen und Notaten.
Millet sieht den Schriftsteller in ein postliterarisches Zeitalter gestellt, in der die Ideologie sich der Literatur bemächtigt und die »globalisierte Romanze« mit simplifzierten Konflikten, einer infantilen Sprache und multikulturellem Schwulst den bürgerlichen Roman abgelöst habe. Die Situation, die er beschreibt, erinnert wenigstens tendenziell an die Periode, als im Ostblock ein rigider »sozialistischer Realismus« die Künstler auf die Leitbilder des Kommunismus und des »Neuen Menschen« verpflichtete. Heute ist die Ideologie des Multikulturalismus vorherrschend, die jeden darüber belehrt, daß er als Europäer (und Franzose, Deutscher und so weiter) nichts mehr zähle und sich als solcher in einem multikulturellen und ethnischen Gemisch aufzulösen habe. Ein vom Staat gewollter und vom Typ des aggressiven Frömmlers forcierter »Antirassismus« wirkt als eine »politische Eugenik«. Einer ihrer Transmissionsriemen ist der Kulturbetrieb, der nur die Autoren beachtet, die ihn akzeptieren, propagieren, ihm zumindest nicht widersprechen.
Es gehört zu den essentiellen Eigenschaften der Literatur, die temporären Gewißheiten und Ideologien in größere Zusammenhänge – zeitliche, räumliche, geistige, geschichtliche – zu stellen und sie dadurch zu relativieren und zu dekonstruieren. Der zum Ideologen geschrumpfte Literat hingegen zitiert alles, was seiner Weltanschauung widerspricht, vor deren Richterstuhl und kanzelt es aus zeitgebundener Perspektive ab. Daraus gehen selbstredend keine belangvollen Romane hervor, sondern Pamphlete, die bestenfalls auf kitschige Weise unterhaltsam sind. Indem sie die disparate Wirklichkeit in eine binäre Gut-Böse-Struktur einfügen, machen sie sie übersichtlich und kommen so den geistigen und moralischen Bedürfnissen des Menschen entgegen. In der Entwicklung der Literatur spiegelt sich der gesellschaftliche Trend.
Das faktische Leitbild, unter dem sich die von Kultur‑, Religions- und Rassenschranken befreite Menschengemeinschaft zusammenfndet, ist nach Millet ein amerikanisiertes Europa, ein Disney-Menschenpark, dessen Bewohner in einer ewigen Gegenwart existierten und sich den Tautologien des Vergnügens hingäben. Diese Gesellschaft sei horizontal ausgerichtet, sie bestreite und bekämpfe die Unterschiede und qualitativen Hierarchien. Sie mache es möglich, das Niveau der afrikanischen und mit dem der europäischen Kunst gleichzusetzen, ohne sich der Lächerlichkeit preiszugeben. In diesem Niveauverlust erblickt Millet eine »Subamerikanisierung« und »Verdrittweltlichung« Frankreichs und Europas. Die Zuwanderung aus nichteuropäischen Kulturkreisen sei zwar nicht die Ursache, aber ein Symptom der Krise und verschlimmere ihre Folgen. Der nichtassimilierte »Neu-Franzose« sei stets »nur ein Mangelfranzose, ein Franzose aus Erschöpfung oder Berechnung, der seinen Eintrag ins Register des Exterritorialen dem Niedergang überlegener Ideen verdankt«.
Meine Liebe zur Wahrheit führt daher zu einem effektiven Bruch mit dem antirassistischen Terror – einer französischen und stark verrechtlichten Version der politischen Korrektheit amerikanischer Machart, die das gefährlichste Unterfangen einer Herrschaft über den Menschen seit den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts darstellt: eine vollumfängliche Umkehrung der westlichen Werte; eine allgemeine Aufhebung des Urteilsvermögens; eine bedingungslose Selbstverleugnung zugunsten einer neuartigen Universalität, die den Wert des Zufälligen, Unsteten, ›Pluralistischen‹ als dogmatische Notwendigkeit anpreist und den Querkopf zum Übeltäter, somit wieder einmal zum Rassisten erklärt, weil er dieses Dogma der Neuen Weltordnung anficht: die Menschheit in ihrer rassischen, ethnischen, religiösen und sexuellen Ununterscheidbarkeit als politisches Endziel.
Damit setzt er sich, den dissidenten Autoren im Ostblock durchaus vergleichbar, in Opposition zum Staat und zur Gesellschaft. Es ist eine Ein-Mann-Opposition. »Ich wähle nicht; ich ›debattiere‹ nicht; ich spiele das demokratische Spiel nicht mit; ich verweigere mich der Allmacht der Ethik, sobald sie sich in Gestalt eines ideologischen Werkzeugs des Staats präsentiert (wie zum Beispiel der Antirassismus in Frankreich mit seinen Gesetzen und seinen halbstaatlichen, freiheitstötenden Organisationen).« Damit hat er sich in einen »ständigen Prozeß des Selbstausschlusses« begeben, in eine »freiwillige Apartheid«. Das bedeutet aber nicht Abkehr von der Gesellschaft, mit der er als Beobachter und als Leidender verbunden bleibt. Sein Blick jedoch ist freier geworden, seine Sprache muß keine falschen Rücksichten nehmen. Der Platz des Schriftstellers ist der Rand, der Wald, seine Arbeit ist die des Waldgängers und Partisanen. Erst dann kann er sich die Freiheit nehmen, das Erschrecken und das Unwohlsein auszudrücken, das ihn überfällt, wenn er sich in einem Viertel, das formal zu Frankreich gehört, als einziger Europäer unter Arabern, Afrikanern und Asiaten wiederfindet.
»Außerhalb der Stadt zu sein bedeutet: sich in den Mittelpunkt der Kritik zu stellen, mitten in den Kampf, der vor allem darin besteht, die gutmenschlichen Werte in ihrer Belanglosigkeit, ihrer Falschheit, ihrer schändlichen Macht zurückzuweisen.« »Ich bin Franzose, der Sohn französischer Eltern, französischer Abstammung, und ich habe niemals aufgehört, mich als Franzose zu fühlen.«
Der Verzicht auf sein Vorrecht im eigenen Haus stemple den indigenen Franzosen von vornherein zum Verlierer, weil »der Andere« in der direkten Begegnung das Recht auf seiner Seite wisse. Sie berge daher »eher ein Risiko als eine Chance«. Wie die ideologische, moralische und politische Einschüchterung schließlich in eine physische mündet, zeigt eine geschilderte Szene: Eine Gruppe deutscher Austauschschüler (»blond, hübsch, zierlich, in hellen Farben gekleidet«) wird am ersten Tag nach der Ankunft in der Pariser Agglomeration auf dem Schulhof von maghrebinischen Schülern angespuckt.
Sie stehen mit gesenkten Köpfen da, einige weinen. Millet nennt die Szene »neutestamentarisch«. Gewiß haben die Schüler zu Hause ihre Solidarität mit der Dritten Welt bekundet, haben an antirassistischen Aktionen teilgenommen und ihren lächerlichen »Mut gegen rechte Gewalt« bewiesen, der ihnen nicht weiterhilft. Sie haben gelernt, daß man dem Faschismus in den Anfängen wehren muß, und stellen nun schockiert fest, daß längst ganz andere Anfänge gesetzt worden sind. Ahnen sie den Betrug, dem sie aufgesessen sind, und werden sie sich gegen ihn auflehnen?
Vier unterschiedliche Wirkungsmächte greifen in Millets Darstellung ineinander. Erstens habe Frankreich sich von der Niederlage 1940 niemals erholt, sein anhaltendes Trauma zwinge es dazu, es ständig zu wiederholen. Hier ergeben sich klare Analogien zu Deutschland und den übrigen europäischen Ländern: Der dreißigjährige europäische Bürgerkrieg hat 1945 mit der gemeinsamen Niederlage Europas geendet, egal, welches Land offziell auf der Sieger- oder Verliererseite stand. Zweitens haben wir es mit einer egalitären Massengesellschaft zu tun – ein Aspekt, den Millet leider nur andeutet. Die geistig-kulturelle Nivellierung und das Einpendeln auf einer mediokren Massenkultur entsprechen dem Bedürfnis des Massen-Menschen, der sich seiner Beschränktheit nicht mehr schämt, sondern sie als sein Recht verteidigt.
Drittens wird der Ausländer – »der Migrant« – dem entchristlichten Europäer als seine letzte Utopie offeriert, dem er sich angesichts seiner weißen, kolonialen Schuldbeladenheit anzupassen habe. Diese Utopie hält neben der Zumutung auch etwas Verführerisches für ihn bereit. Sie füllt sein religiöses Vakuum und kommt dem Bedürfnis nach Unterwerfung, nach Ein- und Unterordnung entgegen. Viertens schließlich gibt es ein vielschichtiges Interesse, die Zuwanderung, insbesondere die islamische, nach Europa zu forcieren und die einst homogenen Nationalstaaten zu durchmischen. Der Liberalismus und der freie Kapitalverkehr fnden ihr Gegenstück in den entstrukturierten Menschenmassen. Europa wird damit gleichermaßen die Beute der USA und der Ölscheichs. Der Islam ist in diesem Prozeß mehr Werkzeug als Gegner, denn während er Europa unterhöhlt, wird er selber durch den Liberalismus unterminiert, wie auch der Marxismus nur noch als Spielart und Rammbock des internationalen Kapitals agiert.
Vor diesem Hintergrund deutet Millet in einem der vier Texte des Buches die Geschichte des Attentäter Anders Breivik. Das Mediengeheul auf seinen Essay machte glauben, daß er den Massenmord begrüßt habe – eine Unterstellung, die mindestens den Verfall der literarischen und intellektuellen Standards bezeugt. Die französische Literatur hatte in der Vergangenheit stets ein tiefes Empfinden dafür gehabt, daß das Böse stets auch außermoralische Dimensionen besitze.
»Der Teufel ist’s, er hält die Fäden, die uns regen! Das Widerliche schaun wir mit Begehrlichkeit: Ganz ohne Gruseln, durch Gestank und Dunkelheit, gehen wir tagtäglich Schritt für Schritt der Höll entgegen.«
(aus Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen)
»Ich weiß, daß sich der leidenschaftliche Liebhaber eines guten Stils dem Haß der Menge aussetzt. Doch keine menschliche Rücksichtnahme, keine falsche Scham, keine Koalition und keine allgemeine Wahl wird mich zwingen, den unvergleichlichen Patois dieses Jahrhunderts zu sprechen oder die Tinte gegen die Tugend einzutauschen.«
(Charles Baudelaire: Vorwort zu den Blumen)
Man nahm Millet einfach übel, daß er sich um eine rationale Erklärung des Verbrechens bemühte. Breivik ist ein, vaterlos aufgewachsen, verlorenes Scheidungskind, weichlich und schlaff, mit ergoogelter Halbbildung ausgestattet, die er in einem endlosen Manifest ausbreitete, kurzum: ein »exemplarisches Produkt jener westlichen Dekadenz, die den Anschein eines amerikanisierten Kleinbürgertums angenommen hat«. Doch Breivik verkörpert neben dem familiären also auch einen »ideologisch-ethnischen Bruch«. Die Einwanderung, der Siegeszug der Massenkultur und die Kriminalisierung des Patriotismus in Europa führen die Menschen an einen »identitären Abgrund, der um so tiefer erscheint, als wir den Untergang einer Zivilisation erleben, deren Wunder wohl kein Kontinent wird wiedererstehen lassen können.« Es vollzieht sich »die Umwandlung des Individuums in einen globalisierten, ungebildeten sozialdemokratisierten Kleinbürger gemischter Abstammung – den Menschenschlag also, dessen Vertreter Breivik ermordet hat.« Und mit dem er, wie man hinzufügen muß, manches gemeinsam hat!
Die Umwandlung ist ein gewaltsamer Prozeß. Es handelt sich um einen Bürgerkrieg, der unter den Europäern zahlreiche Opfer fordert. Nur werden sie im Zeichen des »multikulturellen Nihilismus« nicht gezählt. Zwischen dem öffentlichen und dem Nihilismus Breiviks bestehe – so Millet in einer naheliegenden, umständehalber trotzdem kühnen Denkbewegung – ein innerer Zusammenhang. »Angesichts dieser Dekadenz ist Breivik zweifellos das, was Norwegen verdient und unsere Gesellschaften erwartet, die sich in Selbstverblendung üben …; er ist keineswegs ein Todesengel oder eine apokalyptische Bestie, sondern zugleich Henker und Opfer, Symptom und unmögliche Kur. Er ist das Unmögliche an sich, dessen Negativität sich am geistigen Himmel Europas entfesselt hat.«
Der einzige Trost für die deutschen Leser besteht darin, daß Millet die französischen Zustände noch schlimmer findet als die in Deutschland. Sein Buch verkündet keine Apokalypse mehr, weil es bereits der Postapokalypse angehört. Im Geiste, in der Kultur und der Religion hat der Untergang des Abendlandes bereits stattgefunden. Was wir jetzt erleben, ist sein materieller, politischer, rechtlicher Nachvollzug. Die Abwicklung eben.
Einiges im Buch bleibt unscharf, anderes offen. Zum Beispiel: Hält Millet die beschriebene Entwicklung für gesellschaftsimmanent oder geht sie auf einen politischen Dezisionismus zurück? Begreift er die von ihm heftig kritisierten USA eher als Machtgebilde oder als massenkompatible Lebensform? Doch das sind eher Anmerkungen als Einwände. Ein eisiger Wind weht dem Leser aus Millets Texten entgegen. Er bedeutet Frischluft im Reich der Lüge!