Eisiger Wind – Richard Millet

Wenn erst das Reich der Lüge aufgerichtet und der Wahnsinn ubiquitär geworden ist –; wenn die einzig erlaubte Antwort... 

auf die Lüge in ihrer Per­fek­tio­nie­rung besteht –; wenn die Heu­che­lei auf­ge­hört hat, eine Berech­nung der Heuch­ler zu sein und statt des­sen die Heu­che­lei das Selbst ihrer Pro­pa­gan­dis­ten beherrscht –; wenn man die Medi­en nur noch unter zoo­lo­gi­schen Gesichts­punk­ten kon­su­mie­ren kann –; wenn die Lite­ra­tur sich dar­auf beschränkt, die öffent­li­che Lüge und Heu­che­lei zu ver­dop­peln und in den Buch­lä­den sich die glo­ba­len Best­sel­ler sta­peln, die »Lite­ra­tur für Idio­ten« (Hei­ner Mül­ler) –: spä­tes­tens dann wird die Anschluß­fä­hig­keit eines Autors an den Kul­tur- und Medi­en­zir­kus zum Indiz sei­ner Belie­big­keit. Wer weder Ein­falts­pin­sel noch Oppor­tu­nist sein will, muß auf­hö­ren, um Anschluß­fä­hig­keit zu buh­len und sei­ne Gegen­re­de markt­ge­recht zu mini­mie­ren. Er muß die Lüge eine Lüge nen­nen und sie mit den ihm zu Gebo­te ste­hen­den Mit­teln verwerfen!

Auf eine spek­ta­ku­lä­re Wir­kung darf er aller­dings nicht hof­fen. Sogar das phy­si­sche Selbst­op­fer auf dem Altar des Vol­kes, des Staa­tes, der Gemein­schaft läuft ins Lee­re. Denn das sind heu­te ima­gi­nä­re Begrif­fe, wes­halb der Ruf ohne Echo, die äußers­te Ges­te ohne Reso­nanz bleibt. Es geht nur dar­um, die Selbst­ach­tung zu wah­ren und wenn nicht der Wahr­heit, dann wenigs­tens der Wahr­heits­lie­be ein Refu­gi­um zu geben, und hät­te es nur die Grö­ße einer Fla­schen­post, die er an gegen­wär­ti­ge Ver­spreng­te und an Zukünf­ti­ge auf die Rei­se schickt. Der Autor, der das Wag­nis ein­geht, muß damit rech­nen, daß sämt­li­che Posi­tio­nen, die er bezieht, »Ver­lo­re­ne Pos­ten« sind. Für den fran­zö­si­schen Schrift­stel­ler Richard Mil­let war der Moment der Ent­schei­dung gekom­men, als der Nor­we­ger Anders Brei­vik am 22. Juli 2011 im Regie­rungs­vier­tel von Oslo eine Bom­be zün­de­te und anschlie­ßend in einem Feri­en­la­ger der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Jugend­or­ga­ni­sa­ti­on ein Mas­sa­ker anrich­te­te. Die beru­fe­nen Deu­ter und Exper­ten ver­or­te­ten die Grün­de für den Mas­sen­mord in den Gefil­den des Rechts­extre­mis­mus, der in unse­rer säku­la­ren, libe­ra­len Gesell­schaft den Platz des radi­kal Bösen ein­nimmt und damit jene mythi­sche Funk­ti­on erfüllt, die im real exis­tie­ren­den Sozia­lis­mus der »Klas­sen­feind« inne­hat­te. Er ist eine Pro­jek­ti­on und zugleich eine Mys­tif­kat­i­on, in der Staat und Gesell­schaft die selbst­pro­du­zier­ten Kon­flik­te, Apo­rien und ihren Schmutz entsorgen.

Sie tren­nen ihn von sich ab und bla­sen anschlie­ßend gegen ihn zur Atta­cke: ein nie­mals enden­der Pro­zeß, wel­cher der Täu­schung und Selbst­le­gi­ti­ma­ti­on dient und für eine künst­li­che Dyna­mik sorgt. Im Fall von Brei­vik wur­de fol­ge­rich­tig ver­mie­den, dem kon­kre­ten Kon­text des Mas­sen­mords nach­zu­ge­hen und sei­ne tie­fe­re Bedeu­tung zu erschlie­ßen. Die­ser Ver­drän­gung setz­te Mil­let am 24. August 2012 sei­nen »Lite­ra­ri­schen Gesang auf Anders Bre­vik« ent­ge­gen, der eine wüten­de Kam­pa­gne aus­lös­te. In deren Fol­ge wur­de er zu einem der »am meis­ten ver­ab­scheu­ten fran­zö­si­schen Schrift­stel­ler«, außer­dem ver­lor er sei­nen Pos­ten als Lek­tor beim renom­mier­ten Ver­lag Gal­li­mard. Der Auf­satz liegt nun in deut­scher Spra­che vor, zusam­men mit wei­te­ren, kaum weni­ger spek­ta­ku­lä­ren Auf­sät­zen und Notaten.

Mil­let sieht den Schrift­stel­ler in ein post­li­te­ra­ri­sches Zeit­al­ter gestellt, in der die Ideo­lo­gie sich der Lite­ra­tur bemäch­tigt und die »glo­ba­li­sier­te Roman­ze« mit sim­plif­zier­ten Kon­flik­ten, einer infan­ti­len Spra­che und mul­ti­kul­tu­rel­lem Schwulst den bür­ger­li­chen Roman abge­löst habe. Die Situa­ti­on, die er beschreibt, erin­nert wenigs­tens ten­den­zi­ell an die Peri­ode, als im Ost­block ein rigi­der »sozia­lis­ti­scher Rea­lis­mus« die Künst­ler auf die Leit­bil­der des Kom­mu­nis­mus und des »Neu­en Men­schen« ver­pflich­te­te. Heu­te ist die Ideo­lo­gie des Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus vor­herr­schend, die jeden dar­über belehrt, daß er als Euro­pä­er (und Fran­zo­se, Deut­scher und so wei­ter) nichts mehr zäh­le und sich als sol­cher in einem mul­ti­kul­tu­rel­len und eth­ni­schen Gemisch auf­zu­lö­sen habe. Ein vom Staat gewoll­ter und vom Typ des aggres­si­ven Frömm­lers for­cier­ter »Anti­ras­sis­mus« wirkt als eine »poli­ti­sche Euge­nik«. Einer ihrer Trans­mis­si­ons­rie­men ist der Kul­tur­be­trieb, der nur die Autoren beach­tet, die ihn akzep­tie­ren, pro­pa­gie­ren, ihm zumin­dest nicht widersprechen.

Es gehört zu den essen­ti­el­len Eigen­schaf­ten der Lite­ra­tur, die tem­po­rä­ren Gewiß­hei­ten und Ideo­lo­gien in grö­ße­re Zusam­men­hän­ge – zeit­li­che, räum­li­che, geis­ti­ge, geschicht­li­che – zu stel­len und sie dadurch zu rela­ti­vie­ren und zu dekon­stru­ie­ren. Der zum Ideo­lo­gen geschrumpf­te Lite­rat hin­ge­gen zitiert alles, was sei­ner Welt­anschau­ung wider­spricht, vor deren Rich­ter­stuhl und kan­zelt es aus zeit­ge­bun­de­ner Per­spek­ti­ve ab. Dar­aus gehen selbst­re­dend kei­ne belang­vol­len Roma­ne her­vor, son­dern Pam­phle­te, die bes­ten­falls auf kit­schi­ge Wei­se unter­halt­sam sind. Indem sie die dis­pa­ra­te Wirk­lich­keit in eine binä­re Gut-Böse-Struk­tur ein­fü­gen, machen sie sie über­sicht­lich und kom­men so den geis­ti­gen und mora­li­schen Bedürf­nis­sen des Men­schen ent­ge­gen. In der Ent­wick­lung der Lite­ra­tur spie­gelt sich der gesell­schaft­li­che Trend.

Das fak­ti­sche Leit­bild, unter dem sich die von Kultur‑, Reli­gi­ons- und Ras­sen­schran­ken befrei­te Men­schen­ge­mein­schaft zusam­men­fndet, ist nach Mil­let ein ame­ri­ka­ni­sier­tes Euro­pa, ein Dis­ney-Men­schen­park, des­sen Bewoh­ner in einer ewi­gen Gegen­wart exis­tier­ten und sich den Tau­to­lo­gien des Ver­gnü­gens hin­gä­ben. Die­se Gesell­schaft sei hori­zon­tal aus­ge­rich­tet, sie bestrei­te und bekämp­fe die Unter­schie­de und qua­li­ta­ti­ven Hier­ar­chien. Sie mache es mög­lich, das Niveau der afri­ka­ni­schen und mit dem der euro­päi­schen Kunst gleich­zu­set­zen, ohne sich der Lächer­lich­keit preis­zu­ge­ben. In die­sem Niveau­ver­lust erblickt Mil­let eine »Sub­ame­ri­ka­ni­sie­rung« und »Ver­dritt­welt­li­chung« Frank­reichs und Euro­pas. Die Zuwan­de­rung aus nicht­eu­ro­päi­schen Kul­tur­krei­sen sei zwar nicht die Ursa­che, aber ein Sym­ptom der Kri­se und ver­schlim­me­re ihre Fol­gen. Der nicht­as­si­mi­lier­te »Neu-Fran­zo­se« sei stets »nur ein Man­gel­fran­zo­se, ein Fran­zo­se aus Erschöp­fung oder Berech­nung, der sei­nen Ein­trag ins Regis­ter des Exter­ri­to­ria­len dem Nie­der­gang über­le­ge­ner Ideen verdankt«.

Mei­ne Lie­be zur Wahr­heit führt daher zu einem effek­ti­ven Bruch mit dem anti­ras­sis­ti­schen Ter­ror – einer fran­zö­si­schen und stark ver­recht­lich­ten Ver­si­on der poli­ti­schen Kor­rekt­heit ame­ri­ka­ni­scher Mach­art, die das gefähr­lichs­te Unter­fan­gen einer Herr­schaft über den Men­schen seit den Tota­li­ta­ris­men des 20. Jahr­hun­derts dar­stellt: eine voll­um­fäng­li­che Umkeh­rung der west­li­chen Wer­te; eine all­ge­mei­ne Auf­he­bung des Urteils­ver­mö­gens; eine bedin­gungs­lo­se Selbst­ver­leug­nung zuguns­ten einer neu­ar­ti­gen Uni­ver­sa­li­tät, die den Wert des Zufäl­li­gen, Unste­ten, ›Plu­ra­lis­ti­schen‹ als dog­ma­ti­sche Not­wen­dig­keit anpreist und den Quer­kopf zum Übel­tä­ter, somit wie­der ein­mal zum Ras­sis­ten erklärt, weil er die­ses Dog­ma der Neu­en Welt­ord­nung anficht: die Mensch­heit in ihrer ras­si­schen, eth­ni­schen, reli­giö­sen und sexu­el­len Unun­ter­scheid­bar­keit als poli­ti­sches Endziel.

Damit setzt er sich, den dis­si­den­ten Autoren im Ost­block durch­aus ver­gleich­bar, in Oppo­si­ti­on zum Staat und zur Gesell­schaft. Es ist eine Ein-Mann-Oppo­si­ti­on. »Ich wäh­le nicht; ich ›debat­tie­re‹ nicht; ich spie­le das demo­kra­ti­sche Spiel nicht mit; ich ver­wei­ge­re mich der All­macht der Ethik, sobald sie sich in Gestalt eines ideo­lo­gi­schen Werk­zeugs des Staats prä­sen­tiert (wie zum Bei­spiel der Anti­ras­sis­mus in Frank­reich mit sei­nen Geset­zen und sei­nen halb­staat­li­chen, frei­heits­tö­ten­den Orga­ni­sa­tio­nen).« Damit hat er sich in einen »stän­di­gen Pro­zeß des Selbst­aus­schlus­ses« bege­ben, in eine »frei­wil­li­ge Apart­heid«. Das bedeu­tet aber nicht Abkehr von der Gesell­schaft, mit der er als Beob­ach­ter und als Lei­den­der ver­bun­den bleibt. Sein Blick jedoch ist frei­er gewor­den, sei­ne Spra­che muß kei­ne fal­schen Rück­sich­ten neh­men. Der Platz des Schrift­stel­lers ist der Rand, der Wald, sei­ne Arbeit ist die des Wald­gän­gers und Par­ti­sa­nen. Erst dann kann er sich die Frei­heit neh­men, das Erschre­cken und das Unwohl­sein aus­zu­drü­cken, das ihn über­fällt, wenn er sich in einem Vier­tel, das for­mal zu Frank­reich gehört, als ein­zi­ger Euro­pä­er unter Ara­bern, Afri­ka­nern und Asia­ten wiederfindet.

»Außer­halb der Stadt zu sein bedeu­tet: sich in den Mit­tel­punkt der Kri­tik zu stel­len, mit­ten in den Kampf, der vor allem dar­in besteht, die gut­mensch­li­chen Wer­te in ihrer Belang­lo­sig­keit, ihrer Falsch­heit, ihrer schänd­li­chen Macht zurück­zu­wei­sen.« »Ich bin Fran­zo­se, der Sohn fran­zö­si­scher Eltern, fran­zö­si­scher Abstam­mung, und ich habe nie­mals auf­ge­hört, mich als Fran­zo­se zu fühlen.«

Der Ver­zicht auf sein Vor­recht im eige­nen Haus stemp­le den indi­ge­nen Fran­zo­sen von vorn­her­ein zum Ver­lie­rer, weil »der Ande­re« in der direk­ten Begeg­nung das Recht auf sei­ner Sei­te wis­se. Sie ber­ge daher »eher ein Risi­ko als eine Chan­ce«. Wie die ideo­lo­gi­sche, mora­li­sche und poli­ti­sche Ein­schüch­te­rung schließ­lich in eine phy­si­sche mün­det, zeigt eine geschil­der­te Sze­ne: Eine Grup­pe deut­scher Aus­tausch­schü­ler (»blond, hübsch, zier­lich, in hel­len Far­ben geklei­det«) wird am ers­ten Tag nach der Ankunft in der Pari­ser Agglo­me­ra­ti­on auf dem Schul­hof von maghre­bi­ni­schen Schü­lern angespuckt.

Sie ste­hen mit gesenk­ten Köp­fen da, eini­ge wei­nen. Mil­let nennt die Sze­ne »neu­tes­ta­men­ta­risch«. Gewiß haben die Schü­ler zu Hau­se ihre Soli­da­ri­tät mit der Drit­ten Welt bekun­det, haben an anti­ras­sis­ti­schen Aktio­nen teil­ge­nom­men und ihren lächer­li­chen »Mut gegen rech­te Gewalt« bewie­sen, der ihnen nicht wei­ter­hilft. Sie haben gelernt, daß man dem Faschis­mus in den Anfän­gen weh­ren muß, und stel­len nun scho­ckiert fest, daß längst ganz ande­re Anfän­ge gesetzt wor­den sind. Ahnen sie den Betrug, dem sie auf­ge­ses­sen sind, und wer­den sie sich gegen ihn auflehnen?

Vier unter­schied­li­che Wir­kungs­mäch­te grei­fen in Mil­lets Dar­stel­lung inein­an­der. Ers­tens habe Frank­reich sich von der Nie­der­la­ge 1940 nie­mals erholt, sein anhal­ten­des Trau­ma zwin­ge es dazu, es stän­dig zu wie­der­ho­len. Hier erge­ben sich kla­re Ana­lo­gien zu Deutsch­land und den übri­gen euro­päi­schen Län­dern: Der drei­ßig­jäh­ri­ge euro­päi­sche Bür­ger­krieg hat 1945 mit der gemein­sa­men Nie­der­la­ge Euro­pas geen­det, egal, wel­ches Land off­zi­ell auf der Sie­ger- oder Ver­lie­rer­sei­te stand. Zwei­tens haben wir es mit einer ega­li­tä­ren Mas­sen­ge­sell­schaft zu tun – ein Aspekt, den Mil­let lei­der nur andeu­tet. Die geis­tig-kul­tu­rel­le Nivel­lie­rung und das Ein­pen­deln auf einer medio­kren Mas­sen­kul­tur ent­spre­chen dem Bedürf­nis des Mas­sen-Men­schen, der sich sei­ner Beschränkt­heit nicht mehr schämt, son­dern sie als sein Recht verteidigt.

Drit­tens wird der Aus­län­der – »der Migrant« – dem ent­christ­lich­ten Euro­pä­er als sei­ne letz­te Uto­pie offe­riert, dem er sich ange­sichts sei­ner wei­ßen, kolo­nia­len Schuld­be­la­den­heit anzu­pas­sen habe. Die­se Uto­pie hält neben der Zumu­tung auch etwas Ver­füh­re­ri­sches für ihn bereit. Sie füllt sein reli­giö­ses Vaku­um und kommt dem Bedürf­nis nach Unter­wer­fung, nach Ein- und Unter­ord­nung ent­ge­gen. Vier­tens schließ­lich gibt es ein viel­schich­ti­ges Inter­es­se, die Zuwan­de­rung, ins­be­son­de­re die isla­mi­sche, nach Euro­pa zu for­cie­ren und die einst homo­ge­nen Natio­nal­staa­ten zu durch­mi­schen. Der Libe­ra­lis­mus und der freie Kapi­tal­ver­kehr fnden ihr Gegen­stück in den ent­struk­tu­rier­ten Men­schen­mas­sen. Euro­pa wird damit glei­cher­ma­ßen die Beu­te der USA und der Ölscheichs. Der Islam ist in die­sem Pro­zeß mehr Werk­zeug als Geg­ner, denn wäh­rend er Euro­pa unter­höhlt, wird er sel­ber durch den Libe­ra­lis­mus unter­mi­niert, wie auch der Mar­xis­mus nur noch als Spiel­art und Ramm­bock des inter­na­tio­na­len Kapi­tals agiert.

Vor die­sem Hin­ter­grund deu­tet Mil­let in einem der vier Tex­te des Buches die Geschich­te des Atten­tä­ter Anders Brei­vik. Das Medi­en­ge­heul auf sei­nen Essay mach­te glau­ben, daß er den Mas­sen­mord begrüßt habe – eine Unter­stel­lung, die min­des­tens den Ver­fall der lite­ra­ri­schen und intel­lek­tu­el­len Stan­dards bezeugt. Die fran­zö­si­sche Lite­ra­tur hat­te in der Ver­gan­gen­heit stets ein tie­fes Emp­fin­den dafür gehabt, daß das Böse stets auch außer­mo­ra­li­sche Dimen­sio­nen besitze.

»Der Teu­fel ist’s, er hält die Fäden, die uns regen! Das Wider­li­che schaun wir mit Begehr­lich­keit: Ganz ohne Gru­seln, durch Gestank und Dun­kel­heit, gehen wir tag­täg­lich Schritt für Schritt der Höll entgegen.«
(aus Charles Bau­de­lai­re: Die Blu­men des Bösen)
»Ich weiß, daß sich der lei­den­schaft­li­che Lieb­ha­ber eines guten Stils dem Haß der Men­ge aus­setzt. Doch kei­ne mensch­li­che Rück­sicht­nah­me, kei­ne fal­sche Scham, kei­ne Koali­ti­on und kei­ne all­gemei­ne Wahl wird mich zwin­gen, den unver­gleich­li­chen Patois die­ses Jahr­hun­derts zu spre­chen oder die Tin­te gegen die Tugend einzutauschen.«
(Charles Bau­de­lai­re: Vor­wort zu den Blu­men)

Man nahm Mil­let ein­fach übel, daß er sich um eine ratio­na­le Erklä­rung des Ver­bre­chens bemüh­te. Brei­vik ist ein, vater­los auf­ge­wach­sen, ver­lo­re­nes Schei­dungs­kind, weich­lich und schlaff, mit ergoo­gel­ter Halb­bil­dung aus­ge­stat­tet, die er in einem end­lo­sen Mani­fest aus­brei­te­te, kurz­um: ein »exem­pla­ri­sches Pro­dukt jener west­li­chen Deka­denz, die den Anschein eines ame­ri­ka­ni­sier­ten Klein­bür­ger­tums ange­nom­men hat«. Doch Brei­vik ver­kör­pert neben dem fami­liä­ren also auch einen »ideo­lo­gisch-eth­ni­schen Bruch«. Die Ein­wan­de­rung, der Sie­ges­zug der Mas­sen­kul­tur und die Kri­mi­na­li­sie­rung des Patrio­tis­mus in Euro­pa füh­ren die Men­schen an einen »iden­ti­tä­ren Abgrund, der um so tie­fer erscheint, als wir den Unter­gang einer Zivi­li­sa­ti­on erle­ben, deren Wun­der wohl kein Kon­ti­nent wird wie­der­erste­hen las­sen kön­nen.« Es voll­zieht sich »die Umwand­lung des Indi­vi­du­ums in einen glo­ba­li­sier­ten, unge­bil­de­ten sozi­al­de­mo­kra­ti­sier­ten Klein­bür­ger gemisch­ter Abstam­mung – den Men­schen­schlag also, des­sen Ver­tre­ter Brei­vik ermor­det hat.« Und mit dem er, wie man hin­zu­fü­gen muß, man­ches gemein­sam hat!

Die Umwand­lung ist ein gewalt­sa­mer Pro­zeß. Es han­delt sich um einen Bür­ger­krieg, der unter den Euro­pä­ern zahl­rei­che Opfer for­dert. Nur wer­den sie im Zei­chen des »mul­ti­kul­tu­rel­len Nihi­lis­mus« nicht gezählt. Zwi­schen dem öffent­li­chen und dem Nihi­lis­mus Brei­viks bestehe – so Mil­let in einer nahe­lie­gen­den, umstän­de­hal­ber trotz­dem küh­nen Denk­be­we­gung – ein inne­rer Zusam­men­hang. »Ange­sichts die­ser Deka­denz ist Brei­vik zwei­fel­los das, was Nor­we­gen ver­dient und unse­re Gesell­schaf­ten erwar­tet, die sich in Selbst­ver­blen­dung üben …; er ist kei­nes­wegs ein Todes­en­gel oder eine apo­ka­lyp­ti­sche Bes­tie, son­dern zugleich Hen­ker und Opfer, Sym­ptom und unmög­li­che Kur. Er ist das Unmög­li­che an sich, des­sen Nega­ti­vi­tät sich am geis­ti­gen Him­mel Euro­pas ent­fes­selt hat.«

Der ein­zi­ge Trost für die deut­schen Leser besteht dar­in, daß Mil­let die fran­zö­si­schen Zustän­de noch schlim­mer fin­det als die in Deutsch­land. Sein Buch ver­kün­det kei­ne Apo­ka­lyp­se mehr, weil es bereits der Post­apo­ka­lyp­se ange­hört. Im Geis­te, in der Kul­tur und der Reli­gi­on hat der Unter­gang des Abend­lan­des bereits statt­ge­fun­den. Was wir jetzt erle­ben, ist sein mate­ri­el­ler, poli­ti­scher, recht­li­cher Nach­voll­zug. Die Abwick­lung eben.

Eini­ges im Buch bleibt unscharf, ande­res offen. Zum Bei­spiel: Hält Mil­let die beschrie­be­ne Ent­wick­lung für gesell­schafts­im­ma­nent oder geht sie auf einen poli­ti­schen Dezi­sio­nis­mus zurück? Begreift er die von ihm hef­tig kri­ti­sier­ten USA eher als Macht­ge­bil­de oder als mas­sen­kom­pa­ti­ble Lebens­form? Doch das sind eher Anmer­kun­gen als Ein­wän­de. Ein eisi­ger Wind weht dem Leser aus Mil­lets Tex­ten ent­ge­gen. Er bedeu­tet Frisch­luft im Reich der Lüge!

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