Was ist faul im Staate Brasilien?

Brasilien steht heute neben China und Indien für Superlative und Rekorde schlechthin: Fläche, Einwohnerzahl, Ressourcen, Megastädte, Technologie, Wirtschaftswachstum und Naturreichtum. Es symbolisiert mit den asiatischen Riesen auch den erfolgreichen Aufsteiger aus der Klasse abgekoppelter Dritte-Welt-Staaten und nicht zuletzt Europas zunehmenden Bedeutungsverlust. Diese Länder gleichen Kontinenten mit mehreren Zeit- und Klimazonen und bestehen wiederum aus Subnationen, die an die zersplitterte Staatenwelt Europas erinnern. Als Höhepunkte brasilianischen Selbstbewußtseins finden 2014 die Fußballweltmeisterschaft und 2016 die Olympischen Sommerspiele im Land statt. Doch seit den gewalttätigen Unruhen und Massenprotesten ab Juni 2013 scheint dieses Bild getrübt: Was ist faul im Staate Brasilien? Welche inneren Widersprüche gibt es? Welcher möglichen Zukunft steuert der südamerikanische Gigant entgegen?

Das neue Brasilien

Das neue Brasilien zeigt sich besonders in seiner selbstbewußten und teilweise hegemonialen Außenpolitik, etwa im Streben nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Mit den USA, die seit jeher überaus mißtrauisch betrachtet werden, verhandelt Brasília nur noch auf Augenhöhe und eher distanziert. Die in ganz Lateinamerika zu beobachtende Emanzipation von Washington ist nirgendwo so fortgeschritten wie in Brasilien und Mexiko. In Debatten über die »Amerikanische Freihandelszone« (FTAA) erweist sich Brasília auch als besonders hartnäckiger Verhandlungspartner. Im Gegensatz etwa zu den in Europa völlig überbewerteten linksnationalistischen Bolivaristen Venezuelas und dessen Verbündeten, sieht Brasilien in der FTAA kein US-amerikanisch dominiertes neokolonialistisches Gebilde, sondern eine sinnvolles Instrument, dem man allerdings seinen eigenen Stempel aufdrücken muß.

Der verstorbene Hugo Chávez und Brasiliens Präsident Lula da Silva werden häufig in einem Atemzug genannt, in Wirklichkeit aber verband beide Personen wenig miteinander. Der unideologisch-pragmatische Lula ließ sich vom ökonomisch rückständigen Venezuela nicht beeindrucken, weshalb Chávez’ »Bolivarische Allianz für Amerika« (ALBA) keine Option darstellte.

Außerhalb Lateinamerikas engagiert sich Brasilien in Afrika, vor allem in Angola, stellt doch diese ehemalige portugiesische Kolonie eine Art afrikanisches Brasilien en miniature dar. Brasilianisches Engagement wird in Afrika ähnlich wie das chinesische als (noch) nicht aufdringlich angesehen, schon weil beide Staaten keine politische Missionierung betreiben. Als Kuriosum kann Brasílias Engagement in Osttimor gelten: Dieser winzige Inselstaat war ebenfalls eine portugiesische Kolonie und geriet 1975 unter indonesische Herrschaft. Die aggressive indonesische Assimilierungspolitik drängte das Portugiesische stark zurück, weshalb sich Brasilien – und nicht das ehemalige europäische Mutterland – berufen fühlt, das lusitanische Erbe Ozeaniens zu retten. Bemerkenswert sind Brasiliens großzügige Finanzhilfen beim Bau von Bildungseinrichtungen auf Osttimor, ohne daß dabei eigene geostrategische Ziele verfolgt würden. Bereitwillig legt man sich aber mit Timors faktischer Protektionsmacht Australien an.

In Südamerika sieht Brasiliens Außenpolitik weniger moderat aus, es finden sich sogar hegemoniale Allüren beim Engagement für die »Union Südamerikanischer Nationen« (UNASUL) oder den »Gemeinsamen Markt des Südens« (MERCOSUR). Verschärft haben sich die Beziehungen zu Paraguay: Seit den 1970ern wandern immer mehr Brasilianer illegal in Paraguay ein. Die Regierung in Asunción ist gegenüber seinem erdrückenden Nachbarn machtlos. Bereits zehn Prozent der Gesamtbevölkerung sind integrationsunwillige »Brasiguayos«. Ähnlich sieht es in Surinam aus: In die ehemalige niederländische Kolonie sickern brasilianische Goldsucher ein, die das ohnehin labile Land weiter destabilisieren. Auch in dieser Zwergrepublik sind die einheimischen Sicherheitskräfte ohnmächtig. Brasilien ignoriert die Ängste seiner Nachbarn und beschwört Minderheitenrechte für emigrierte Landsleute.

Überraschend gut erweist sich dagegen das Verhältnis zum historischen Erbfeind Argentinien. Dieser zweitwichtigste Staat Südamerikas wird inzwischen als »unser Bruder« bezeichnet; man bedauert dessen mäßige Wirtschaftskraft. Wahrscheinlich wird aus diesem Grund der südliche Nachbar nicht mehr als Konkurrent angesehen. Der Zankapfel zwischen beiden »Brüdern«, Uruguay, hat sich mit der brasilianischen Hegemonie abgefunden. Zu Europas Wirtschafts- und Finanzkrise erscheinen gehässige und überhebliche Kommentare staatlicher Medien. Der langjährige Empfänger europäischer Entwicklungshilfe sieht Europa ab 2020 als Armutsregion, afrikanischen Mittelstaaten vergleichbar!

Brasilidad oder das Problem der eigenen Identität

Der Bestand von Nationen hängt von Wohlstand und identitärer Gewißheit ab. Die zentralen Fragen hierbei – Wer sind wir? Was streben wir an zu sein? Was sind wir nicht? – machen das Identitäre aus. Die mangelnde Gewißheit über dieses Eigene stellt überhaupt das Problem Lateinamerikas dar.

Die brasilianische Identitätsfrage schien gelöst, das Nationalbewußtsein gefestigt, die Gesellschaft stabil. Tatsächlich aber wurde diese scheinbare Selbstverständlichkeit seit den 1990ern unabsichtlich relativiert. Man vertraute naiv darauf, der prestigeträchtige Fußball, die Größe des Landes und die portugiesische Sprache garantiert das Zusammengehörigkeitsgefühl. Von einer gefestigten brasilianischen Nationen-Werdung kann aber erst ab 1930 gesprochen werden; sie wird seit 20 Jahren unabsichtlich aufgeweicht. Heute gleicht sich Brasilien dem des frühen 19. Jahrhunderts an.

Das mangelnde Nationalbewußtsein bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts hat seine Ursachen in der friedlichen Unabhängigkeit von Portugal. Das erklärt auch die Größe des Landes. Die Kolonie und das souveräne Brasilien sind identisch. Daher gibt es heute auch nur ein portugiesischsprachiges Land in einer zersplitterten spanischsprachigen Umwelt.

Die Portugiesen besiedelten ihre riesige Kolonie nur halbherzig an der Küste entlang. Die schwachen Befestigungen waren trotz der großen Entfernung untereinander eng verbunden, um überhaupt überleben zu können. Anders die spanischen Kolonien: Madrid forcierte die Einwanderung in sein Kolonialreich. Aus den ersten Stützpunkten entwickelten sich so allmählich autarke Siedlungen mit eigener Infrastruktur und regionalem Bewußtsein. Entscheidend für die Identitätsbildung sollte jedoch der Weg in die Unabhängigkeit sein. Die spanischen Kolonien vollzogen diese Sezession gewaltsam, weshalb sich die kolonialen Siedlungsgebiete nicht gleichzeitig befreien konnten. Jede unabhängige Siedlungsregion wurde somit gezwungenermaßen zu einem eigenen Staat. Eine Vereinigung der inzwischen befreiten Regionen im nachhinein war somit kaum möglich. Wer schlösse sich wem an? Welche Stadt würde Regierungssitz? Welcher Kriegsherr verzichtete freiwillig auf ein künftiges Regierungsamt?

In der portugiesischen Kolonie Brasilien kam es hingegen zu keinem Unabhängigkeitskrieg, die Kolonie wurde als ganze friedlich in die Unabhängigkeit entlassen: 1822 proklamierte der Thronfolger und koloniale Statthalter als Pedro I. das unabhängige Kaiserreich Brasilien. Das Fehlen eines brasilianischen Gründungsmythos (etwa eines Märtyrers oder eines Befreiungskriegs) zur Identitätsstiftung wirkte sich verheerend auf die nationale Integration bis in die 1930er aus. Die kaiserlichen Provinzen und späteren republikanischen Bundesstaaten entwickelten ein eigenes Bewußtsein mit umfangreichen Vorrechten (eigener Außenhandel, Milizen, Steuer- und Einwanderungsgesetzen) und starken Rivalitäten untereinander. Anfangs variierten sogar die Spurweiten des rudimentären Eisenbahnnetzes voneinander, und es wurden Binnenzölle erhoben. Kulturell konnte die monarchische und ab 1889 republikanische Zentralgewalt keine eigenen Akzente setzen, man orientierte sich am französischen und britischen Vorbild. Brasiliens Militär gehörte im 19. Jahrhundert zu den schwächsten in Lateinamerika, für bewaffnete Konflikte (Uruguay- und Paraguaykrieg, Aufstände und separatistische Bestrebungen) mußten Kaiser und Präsidenten die regionalen Milizen um Hilfe ersuchen.

Das mangelnde brasilianische Nationalbewußtsein zeigte sich auch im hilflosen Umgang mit Millionen von Einwanderern, die ab den 1820ern ins Land strömten. Zwar war die Einwanderung gewollt und gefördert worden, doch versagte der schwache Zentralstaat bei der Integration. Bis in die 1940er gab es stabile selbstbewußte ethnische Kolonien: Deutsche, Italiener, Japaner, Polen, Ukrainer und Juden. Diese Ethnien leb(t)en in assimilierungsresistenten Parallelgesellschaften mit eigener Infrastruktur (Ärzte, Schulen, Presse, Siedlungen, Kirchen) und Wirtschaftskreisläufen. Als besonders negativ sah die ohnmächtige Zentralgewalt die Deutschen an, die am nachlässigsten Portugiesisch lernten und die protestantische Konfession mitbrachten. Da sich deutsche und italienische Kolonisten im Südosten konzentrier(t)en, befürchtete man sogar eine Abspaltung. Mit der »República Rio-Grandense« separierte sich eine solche deutsch-italienische Provinz. Sie bestand von 1836–1845 und wurde vom Kaiser durch Schuldenübernahme und Zugeständnisse mehr zurückgekauft als militärisch erobert.

Der republikanische Offiziersputsch 1889 war auch eine Reaktion auf das Versagen des Kaisers und der katholischen Kirche in der nationalen Frage, gleichwohl auch die junge Republik eher einem Staatenbund als einem Bundesstaat (offiziell: »Republik der Vereinigten Staaten von Brasilien«) ähnelte. Weshalb Brasilien nicht in seine Einzelstaaten zerfiel, lag und liegt gerade an der schwachen Zentralmacht: Wozu Separation, wenn man sowieso weitgehend frei ist?

Die brasilianische Nation wurde im Grunde erst 1930 geschaffen, mit der Präsidentschaft Getúlio Vargas’ (1930–1945), dem brasilianischen Atatürk. Dieser ehrgeizige Staatsmann kam nur knapp den zwei einzigen gesamtnationalen Bewegungen zuvor: den Nationalkommunisten und den faschistischen Integralisten. Besonders Vargas’ semifaschistische Diktatur von 1937 bis 1945 markiert den Beginn einer gezielten Brasilianisierungspolitik. Die Bundesstaaten wurden trotz einiger Zugeständnisse nachhaltig geschwächt, die Wirtschaft auf Autarkiestreben umgestellt und die ethnischen Kolonien gründlich brasilianisiert. Die »Brasilidad« wurde als Synthese aus indianischen, portugiesischen (nichteuropäischen!) und afrikanischen Elementen propagiert, mit einer identitätsstiftenden privilegierten katholischen Kirche.

Brasilien – der überhitzte Motor

Vargas’ Vermächtnis, die »Brasilidad«, wurde mit dem Siegeszug linksliberaler Ideen seit 1995 relativiert. Ursache war das Trauma der rechten Militärdiktatur, die man mittels einer Wahrheitskommission à la Südafrika verarbeitet. Präsidentin Dilma Rousseff gehörte selbst der linksextremen Guerilla an und war inhaftiert. Alle Werte der Diktatur sind diskreditiert, Gewalttaten nur einseitig thematisiert. Der zweite Faktor ist der enorm gestiegene Wohlstand. Über Nacht stiegen breite Bevölkerungsschichten in die Mittelklasse auf, der Hunger verschwand, eine umfassende Modernisierung setzte ein und damit auch ein neues Wertebewußtsein, das mit dem Alten brach. Seit Mitte der 1990er finden wir in Brasilien die gleichen Auflösungserscheinungen wie in Europa: moralischen Relativismus, Sterben der traditionellen Großfamilien, erstarrte Bürokratie, Religionskrise, Minderheitenkult und eine bisher unbekannte politische Korrektheit. Der Anteil des traditionsreichen Katholizismus sank auf 65 Prozent, der des bisher marginalen Protestantismus stieg auf 23 Prozent. Ursache ist ein Linksruck der katholischen Kirche (Theologie der Befreiung), die Christus als weltlichen Sozialarbeiter verkauft, während Evangelikale das spirituelle Bedürfnis bedienen (Erlösung statt Befreiung).

Der Wohlstand ist aber heute dank einer verschwenderischen und kurzsichtigen Politik gefährdet. Beide sozialdemokratischen Präsidenten vergeuden die Staatseinnahmen für einen aufgeblähten Staatsapparat und unangemessene Sozialausgaben, versäumten es aber, in die Infrastruktur zu investieren. Heute fehlt es in Brasilien an qualifiziertem Nachwuchs, einem funktionierenden Straßen- und Eisenbahnnetz sowie an See- und Flughäfen. Die stark aufgewertete Währung Real führte zu schlechten Exporten und statt dessen zu billigen Importen. Hohe (Mindest-)Löhne und Logistikkosten verhindern eine Preissenkung für brasilianische Produkte. Die staatliche Notenbank fordert weiter hohe Zinsen für Kredite, was den Mittelstand lähmt. Seit zwei Jahren erlebt das Land einen massiven Preisanstieg bei Ärzten, Bildungseinrichtungen, einheimischen Autos und Mieten. Nicht nur die Verkehrswege sind renovierungsbedürftig, sondern auch öffentliche Einrichtungen wie Schulen und Krankenhäuser. Es herrscht eine weitverbreitete Altersarmut, weil die Pensionen nur langsam steigen. Hierzulande unterstellt man der Präsidentin eine marxistoide Politik, tatsächlich findet eine zügellose Privatisierung statt ohne gleichzeitige Beschneidung des Staatsapparats.

Die alten Gegensätze zwischen den Bundesstaaten brechen wieder auf, weil der wohlhabende und produktive Südosten für den rückständigen Nordosten zahlen muß. Der bevölkerungsreiche Staat Bahia erwirtschaftet gerade einmal fünf Prozent des BIP, das vergleichbare Rio de Janeiro 13 Prozent. Der arme Nordosten ist negrid, der reiche Südosten mehrheitlich weiß. Dieser Umstand ist für die Politik offiziell kein Thema. Damit ist der Rassismus eine Privatangelegenheit, kein Politikum. Die Rassen und Ethnien leben (noch) friedlich nebeneinander, aber eben nicht miteinander. Rasse und Klasse korrelieren. Der reiche Brasilianer ist immer noch weiß. Aus diesem Grund entfacht die linke Regierung eine »positive Diskriminierung« à la »Affirmative Action« mit einem Quotensystem an Universitäten für Schwarze und die verschwindend geringe indianische Minderheit. Ein bisher moderater Rassengegensatz wird somit verschärft, die dunkelhäutigen Ethnien werden regelrecht aufgehetzt.

Die Unruhen vom Sommer 2013 – immerhin die schwersten seit dem Ende der Militärregierung – entzündeten sich an diesen wachsenden inneren Widersprüchen. Anlaß waren die größenwahnsinnigen Ausgaben für Fußballweltmeisterschaft und Olympische Spiele, während die Preise für Güter des täglichen Bedarfs weiter ansteigen. Die Demonstranten sind sehr heterogen, es gibt keine gemeinsame Strategie und Zielsetzung. Eine Ideologisierung des Protests ist nicht erkennbar. Man wendet sich gegen die Klientelwirtschaft der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (PT), nicht gegen die linksliberale Hegemonie, nicht gegen die Präsidentin. Schon hat sich der Protest in unterschiedlichste Interessengruppen gespalten: Ärzte, Busfahrer, Mieter, Rentner, Homosexuelle, Evangelikale usw. Drei weitere Probleme drängen auf eine Lösung: die hohe Kriminalität, unkontrollierbare Urbanisierung (Favelas) und massive Binnenwanderung in den reichen Südosten.

Sollten Brasiliens innere Widersprüche nicht entschärft werden, sind zwei Entwicklungen denkbar: Brasilien zerfällt in mehrere Nachfolgestaaten, weil sich die wohlhabenden Teile abspalten, was mit Rassenkämpfen einhergehen könnte – oder Brasilien entdeckt seine Identität à la Vargas 1937 wieder, was von einem deutlichen Rechtsruck abhinge. Je düsterer die Gegenwart erscheint, desto strahlender die Epoche Vargas’, der Monarchie und auch der Militärregierung. Der Verkaufserfolg des rechten Philosophen Luiz Filipe Pondé mit seinem antiliberalen Opus zeugt möglicherweise von einer politischen Trendwende.

Ein brasilianisches Sprichwort verspricht wenigstens Hoffung: »Brasilien stand immer schon am Rande des Abgrundes – aber bislang war Brasilien immer größer als jeder Abgrund.« Auch diesmal?

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