Ulrich Tukurs Novelle Die Spieluhr ist keinesfalls zufällig aufgemacht, als sei sie vor hundert Jahren bei S. Fischer erschienen. Tukur, als Oberstleutnant Grubitz aus dem Film Das Leben der Anderen (2006) bekannt, schrieb sie nach den Dreharbeiten zum Film Séraphine (2008), in welchem er den deutschen Kunsthändler Wilhelm Uhde (1874–1947) spielt. Örtliches Zentrum ist das französische Schloß Montrague, von dem aus seine Protagonisten Zeitreisen zu unternehmen gezwungen sind. Die gelungene Novelle reiht sich ein in die Masse der Neuerscheinungen, die den Buchmarkt anläßlich des Jahrhundertjubiläums von 1914 überschwemmt.
Tukurs Zeitreisen beginnen im August des Jahres 1912 und finden ihr Ende im Juli 1944. Schichtweise dringen die Figuren ein in eine Epoche, deren Geister heute noch umherirren; eine Epoche, die Europa unentwegt ergreift, die aber weder historisch noch psychologisch verarbeitet und überwunden ist. Manchmal scheint es, als habe das alte Europa den Zweiten Dreißigjährigen Krieg von 1914–1945 benötigt, um mit dem Tod zu ringen und ihn zu finden, auf daß der Geist einer neuen Zeit den alten ablöse. Tukur beschreibt dies so: »Die Geister jenes heraufdämmernden Reiches der Simulation und Künstlichkeit, in dem nur der farbige Abglanz einer aufgegebenen Wirklichkeit, eines vergessenen Ursprungs, die Reproduktion der Reproduktion besteht, und alles Echte, Große und Ursprüngliche im Mistkübel der Gier, der Beliebigkeit und Verblödung landet und der Mensch, ein armseliger Homunkulus, ausgeweidet und entbeint, sich nur mehr rasend und sinnlos im Kreise dreht«.
Nicht erst mit der hundertsten Wiederkehr des Epochenjahres 1914, sondern bereits kurz nach dem Ersten Weltkrieg sind literarische Werke auszumachen, die eindringliche Atmosphärendokumente der Augenblicke vor dem epochalen Donnerhall anbieten: Thomas Manns Der Zauberberg (1924) und, noch früher, Hermann Hesses Demian (1919). Letzterer erzählt die Geschichte der Freunde Emil Sinclair und Max Demian, beide durchleben die Kämpfe des Heranwachsens. Der Roman wurde 1917 abgeschlossen: Noch vor Kriegsende gelang es Hesse, dessen metaphysischen Ursprüngen unter dem Oberbegriff »In der Tiefe war etwas im Werden« auf den Grund zu gehen. In einem von Sinclair wiedergegebenen Monolog Demians heißt es: »Er sprach vom Geist Europas und der Signatur dieser Zeit. Überall, sagte er, herrsche Zusammenschluß und Herdenbildung, … es sei eine Gemeinschaft aus Angst, aus Furcht, aus Verlegenheit, und sie sei im Innern faul und alt und dem Zusammenbruch nahe. Sie fühlen alle, daß ihre Lebensgesetze nicht mehr stimmen, daß sie nach alten Tafeln leben. … Diese Welt, wie sie jetzt ist, will sterben, sie will zugrunde gehen, und sie wird es.« Demian, der Seher und Verkünder, geht vielfach auf den unmittelbar bevorstehenden Wendepunkt ein, er fiebert ihm entgegen, und als Offizier wird er fallen. Der jüngere Sinclair ist von den Ahnungen infiziert und sensibel genug, die Wirkmächtigkeit des Augenblickes zu erfassen: »Es wird jetzt jeder von uns in das große Rad hineinkommen. … Wie seltsam, daß jetzt der Strom der Welt nicht mehr irgendwo an uns vorbeilaufen sollte –, daß er jetzt plötzlich mitten durch unsere Herzen ging, daß Abenteuer und wilde Schicksale uns riefen und daß jetzt oder bald der Augenblick da war, wo die Welt uns brauchte, so sie sich verwandeln wollte.« Die neuen Geister rufen in die alte Welt hinein.
Ähnliche atmosphärische Spannungen beschreibt Thomas Mann in seinem Zauberberg: Ist die Szenerie des Romans an sich bereits eine spannungsreiche Endzeitmetapher, geht im Davoser Lungensanatorium mit dem heraufziehenden Krieg speziell der »Dämon der Zanksucht« um: Der Held Hans Castorp wird Zeuge, wie sich die vorhandene Stimmungsinfektion zur erbarmungslosen Krise ausweitet. Etwas Unüberbrückbares liegt in der Luft. Mann beschreibt Mißgunst, »kriselnde Gereiztheit« und fortschreitende Überfeinerung der dünnhäutigen Patienten und Moribunden. Sinnbildlich ist der Kampf zwischen dem Antisemiten Wiedemann und dem freundlichen Juden Sonnenschein der Auftakt. Im Duell des Jesuiten Naphta mit dem Gelehrten Settembrini führt das Schicksal sein furioses Finale auf; die »Reizschwelle« ist überschritten. In beiden Romanen geht eine alte Welt mit dem Ersten Weltkrieg unter, in beiden Fällen ist dem Untergang Hoffnung auf einen fruchtbaren Neuanfang beigemengt. »Die Seele Europas ist ein Tier, das unendlich lang gefesselt lag. Wenn es frei wird, werden seine ersten Regungen nicht die lieblichsten sein«, weissagt Hesse.
Eine andere Art des Atmosphärendokuments bietet der bei Hatje Cantz erschienene Bildband 1914 – Welt in Farbe. 1908 wird vom elsässischen Mäzen Albert Kahn (1860–1940) das Bild- und Filmarchiv »Les Archives de la Planète« ins Leben gerufen, aus welchem das Material zum Buch maßgeblich stammt. Kahns Ziel war, »angeregt durch (seine) alarmierenden Beobachtungen zur Vereinheitlichung der Lebenswelten und Kulturen auf einer privaten Weltreise 1908/09 – die Bewahrung der kulturellen Vielfalt der Erde.« Von der Historikerin Iris Schröder stammt daher die Bezeichnung »Projekt einer Humangeographie in Bildern«. Neben den bildlichen Dokumenten bietet das Buch einen geschichtlichen Überblick der Entwicklung farbiger Medienbilder sowie der damit einhergehenden Archivbemühungen rund um den Erdball: Ein Nachdenken über Photographie ist immer auch eines über den Umgang mit Erinnerung. Der Verleger August Fuhrmann (1844–1925) stellt in den späten 1870er Jahren sein »Kaiserpanorama« vor. Bis zum Ersten Weltkrieg haben diese Fenster in die Welt als Vorform des Kinos großen Erfolg. In geselliger Runde können zehn bis zwölf Besucher einen Blick auf das Weltgeschehen werfen – anfänglich in Schwarzweiß, später in Farbe. 1902 gelingt es dem Berliner Professor für Photochemie Adolf Miethe (1862–1927), ein erstes Farbphotographieverfahren zu entwickeln. In kaiserlichem Auftrag stellt er für die Weltausstellung 1903 rund 300 Aufnahmen vom deutschen Wald und der Landwirtschaft her, welche ein Jahr darauf als Schokoladenbilderalbum – und damit als weltweit erstes Farbphotobuch – erscheinen. Was damals entstand, erlaubt heute den wohl unmittelbarsten Zugriff auf unsere Vergangenheit.
Der Professor für Photographie Rolf Sachsse beschreibt »jedes fotografische Bild als Schnitt in Zeit und Raum«. Nachvollziehbar wird das am religiös-zauberhaften Porträt einer jungen, in Tracht gekleideten Irin, aufgenommen am 25. Mai 1913. Es ist, als betrachte man die Vertreterin einer längst ausgestorbenen Art. Ihre von Naturglauben, Tradition und Moderne zu gleichen Teilen beeinflußte Erscheinung könnte nicht typischer sein für das Ende dieser Epoche: Barfuß lehnt sie fast aufrecht, schaut dem Betrachter entgegen. Die Stoffe ihrer Umhänge stammen offenkundig aus maschineller Fabrikation. In ihren Augen leuchten noch die Geister der alten Welt. 1910 entsteht das Hochzeitsphoto eines schwedischen Paares. In ihre Haltung, Kleidung, ihren Blick – der Mann ganz modern-europäischer Gentleman, seine Frau in volkstümlicher Tracht – mag man das hineinlesen, was über den beiden aufzieht. Man will sie warnen. Über ein ähnliches Photo schreibt Ulrich Tukur: »Das kleine Bild zeigte, was es nicht zeigte«.
Im ersten Teil des Bildbandes streift das Auge durch alle Gegenden des alten Europa und vollzieht dessen Humangeographie nach. Sei es die französische Familie, die am 24. Juni 1914 in der Pariser Rue du Pot erstaunt in die Linse Stéphane Passets schaut, sei es die Gruppe von Serben, die Auguste Léon am 7. Mai 1913 Modell steht. Den Reiz dieser Bilder macht aus, daß das Gedächtnis Europas diese Epoche schwarz-weiß behalten hat und der Betrachter unweigerlich beim Kragen gepackt wird: Das waren normale Menschen damals! Mit alltäglichen Sorgen, Nöten und Freuden! Keine Schwarzweißgestalten von Knopp oder Reemtsma, die es gegeben haben mag oder auch nicht. Ebenfalls verblüfft die Vielfalt von Trachten, Gesichtstypen und Haltungen, die längst von der US-Weltkultur abgelöst und unwiederbringlich verloren sind.
Zu einer der eindrucksvollsten Abbildungen des Bandes, welcher neben den historischen selbstverständlich unter künstlerischen Aspekten bewertet werden sollte, zählt Stéphane Passets Aufnahme vom 17. September 1913. Nach dem Zweiten Balkankrieg muß die griechische Bevölkerung die bulgarische Stadt Melnik räumen. Die Flüchtlinge werden ins heute makedonische Demir Hisar verbracht. Das Gruppenbild zeigt gut fünfzig von ihnen. Die zuvor gewonnenen Eindrücke verdichten sich hier zu einer unbeschreiblichen Kraft. All den Männern unterschiedlichen Alters, die dem Betrachter in die Augen sehen, ist ihr Schicksal – das erlebte und bevorstehende – in die Gesichter geschrieben. Über den Graben eines Jahrhunderts trägt dieser gebündelte Blick eine zeitlose Botschaft zu uns: »Die Wirklichkeit ist der Schatten der Kunst. Es geht also nicht um die Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern um die Beschwörung des Mysteriösen, die Anrufung der verborgenen Seele der Menschen und Dinge«, heißt es bei Tukur.