Der explosive Bücherschrank

Netztagebuch der Sezession,
24. März, acht Uhr dreißig

Mich würde – gerade stehe ich wieder im Kursraum – eine Zusammenstellung von Themen- oder gar Fachbereichen interessieren,...

die Abitu­ri­en­ten fas­zi­nie­ren, ja ent­zün­den, gar infi­zie­ren. Es kann hier alles gebo­ten wer­den, von der Mathe­ma­tik und den Natur­wis­sen­schaf­ten über das Fach Deutsch und die Fremd­spra­chen bis hin in die Geis­tes­wis­sen­schaf­ten Geschich­te, Kunst und Sozi­al­kun­de und vor­zugs­wei­se aus den soge­nann­ten Sinn­fä­chern Reli­gi­on und Phi­lo­so­phie. Haupt­sa­che, der stets eher fla­che Puls steigt und die Ampli­tu­den zacken ein wenig aus.

Ich gehö­re immer­hin zu einer so dünn­häu­ti­gen Gene­ra­ti­on, daß mich im Para­dies Puber­tät Hes­se schwer beein­druck­te, Kaf­ka min­des­tens unklar-ahnungs­voll ver­wun­der­te und mir Scho­pen­hau­er gar die Welt so abrupt dreh­te, daß ich lie­ber dar­über schwieg. – Damals zeit­ge­nös­si­sche ame­ri­ka­ni­sche Erzäh­ler fand ich so far­big und stim­mungs­voll wie die bes­ten Hol­ly­wood-Fil­me. Kopfkino!

Und Karl May. Ach, Karl May. Alles sehr, sehr uncool heu­te. Was ich für mei­ne inne­re Ori­en­tie­rung und Berei­che­rung brauch­te, das hiel­ten mei­ne Schul- und die Kreis­bi­blio­thek Per­le­berg nahe­zu voll­stän­dig bereit. Viel­leicht konn­te ich nicht alles inter­pre­tie­ren oder ana­ly­sie­ren, aber es reg­ten mich die­se Stof­fe tief auf! Mit­un­ter ver­ste­hen mei­ne Klügs­ten heu­te, eine pas­sa­ble bis glat­te Erör­te­rung hin­zu­le­gen, nach­dem wir die Glie­de­rungs­prin­zi­pi­en dazu ein­üb­ten wie eine ste­ri­le Regel­poe­tik, die von den Kul­tus­bü­ro­kra­ten so und genau so abver­langt ist, wenn dann im Abitur übers Stöck­chen gesprun­gen wird; aber nie­man­dem, erle­be ich, gehen Heming­way, Faul­k­ner, Bor­chert beim Ana­ly­sie­ren unter die Haut, ganz zu schwei­gen von den Alten wie Dros­te-Hüls­hoff oder Büch­ner, für deren Stof­fe ich freund­lich aller­lei Exege­se bie­te, damit klar wird, was da so befremd­lich gespro­chen wird.

Wenn man über­legt, daß Brecht, Dür­ren­matt, Mül­ler Abitu­ri­en­ten mal zu pro­vo­zie­ren ver­moch­ten und man­cher Camus und Beckett etwas abge­wann, was ihm wenigs­tens sei­nen All­tag und all die Leit-Bil­der ver­däch­tig mach­te! Lan­ge nicht mehr erlebt. Bei­na­he zwei Gene­ra­tio­nen lang nicht. Was bleibt? Fan­ta­sy-Wel­ten und Vam­pi­re über Feuchtgebieten…

Gut, man­cher hat­te kürz­lich etwas Spaß mit Dani­el Kehl­mann, den Meck­len­burg-Vopom­mern mal zur Pflicht­lek­tü­re erhob, und man darf ja heut­zu­ta­ge alles mit­brin­gen, was etwas fetzt oder gar anero­ti­siert ist, etwa Schinks Vor­le­ser, bei dem es neben frü­hem Sex vor allem um Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung geht, wäh­rend jah­re­lang rauf und run­ter um Die Wel­le und Die Wol­ke geraunt wur­de, Bücher, die außer­halb der Schu­le längst kei­ner mehr las. Ab und an, höre ich, gewin­nen die Eng­lisch-Kol­le­gen noch etwas Inter­es­se mit Orwells Farm der Tie­re oder Gol­dings Herr der Flie­gen. Alle Ach­tung, wenn’s so wäre.

Neu­lich stell­te ich klar, wie furcht­bar Mel­ville, Kaf­ka und Robert Wal­ser den Gedan­ken gefun­den hät­ten, daß sich Jahr­zehn­te nach ihnen Schü­ler pflicht­ge­mäß über deren Pro­sa beu­gen müß­ten… Das schien die Gene­ra­ti­on Smart-Pho­ne kurz mit ihrer aku­ten Uner­quickt­heit zu ver­söh­nen. Wenigs­tens also kei­ne Vor­satz­tä­ter, die­se ollen Lite­ra­ten. Mag sein, sie hat­ten ange­nom­men, sol­che Autoren hät­ten eigens für die Schu­le pro­du­ziert, um Pflicht­pro­gram­me zu belie­fern. (Aber für was denn sonst, moch­ten sie sich gefragt haben. Denn wer bloß liest so hirn­ris­si­ges Zeug von selbst? Muß­te doch wohl einen Zweck haben, wo alles in der Bil­dung auf Zwe­cke abstellt.)

Also: Ich bit­te um Anre­gun­gen, die in der Lage sind, ein skl­ero­ti­sches Sys­tem der sau­ren Schul­pflicht und des buch­hal­te­ri­schen Abrech­nens von Leis­tun­gen im Sin­ne von Her­aus­for­de­rungs­ver­mei­dung einer­seits, aber der Opti­mie­rung von „Abi-Schnit­ten“  ande­rer­seits auf­zu­spren­gen. Ich suche, was heu­te Lei­den­schaft weck­te. Falls der Begriff Lei­den­schaft über­haupt noch als tra­diert gel­ten kann.

Mein Stand: Ich ver­fü­ge selbst über ein pas­sa­bles Spek­trum, gel­te als blut­vol­ler Typ, lie­be die Inhal­te mei­ner Fächer, aber ich kom­me über ein lau­es Kli­ma zeit­wei­lig wohl­wol­len­den Kon­sen­ses im indi­gnier­ten Durch­hal­ten nicht hin­aus. Ich gebe mir Mühe, die Rele­vanz des­sen, was ich anbie­te und übe, plau­si­bel zu machen; aber das fällt schwer. Man folgt mir pha­sen­wei­se durch­aus gut­wil­lig, weil ich über etwas Unter­hal­tungs­wert ver­fü­gen mag und eini­ger­ma­ßen inspi­riert und geist­reich erschei­ne; aber in Kon­kur­renz zu immer neu­en Apps und zum Enter­tain­ment der Sen­der sind mei­ne Mög­lich­kei­ten ver­gleichs­wei­se gering. Ich bin all den klei­nen wie gro­ßen Medi­en gegen­über als sehr geschrumpf­ter Don Qui­jo­te unter­wegs. – Cer­van­tes wird übri­gens auch nicht mehr gele­sen, nicht mal in der Kinderbuchfassung.

Um Miß­ver­ständ­nis­sen vor­zu­beu­gen: Mei­ne Audi­to­ri­en sind kul­ti­viert und höf­lich; sie signa­li­sie­ren mir: Komm du da vorn ruhig dei­ner Pflicht nach mit all dei­nen anti­quier­ten Lite­ra­ten und Phi­lo­so­phen. Wir hal­ten das schon die­se Dop­pel­stun­de noch aus, und nach etwas Rekon­va­les­zenz magst du gar das nächs­te Mal wie­der­kom­men, weil das ande­re, was da vorn gebo­ten wird, ja noch öder ist. Wir dür­fen da hof­fent­lich von einem Geben und Neh­men ausgehen.

Im Sin­ne einer Sym­bio­se: Zei­gen wir uns dei­nem alt­ba­cke­nen Kram gegen­über gedul­dig, trägst du uns hof­fent­lich leicht durch die paar noch not­wen­di­gen Prü­fun­gen und sorgst für unse­re Schnit­te. Nicht wahr? Denn derer bedür­fen wir für unse­re Kar­rie­re­pla­nun­gen. Prös­ter­chen zum Abi-Ball, den wir län­ger­fris­ti­ger und net­ter geplant haben als die­sen unleid­li­chen Pflicht­teil der Abschluß­prü­fung. Das ist nun mal der Deal mit dem Sys­tem, und also mit dir per­sön­lich und dei­nen uns ver­dammt frem­den Stof­fen. Krieg das bit­te hin, und berück­sich­ti­ge: Wir haben Druck – von den Alten, den Fir­men, den Ein­stel­lungs­prü­fun­gen, dem Nume­rus clau­sus. Du weißt doch: Die Zei­ten wer­den härter!

Und nerv nicht mit sol­chen Fra­gen nach unse­ren Zukunfts­vor­stel­lun­gen oder gar nach unse­rem „Selbst­ver­ständ­nis“ oder nach so was wie „unse­rer Idee vom eige­nen Selbst“. – Wir wol­len Spaß haben, Mann! Die rich­ti­gen Kla­mot­ten ein­kau­fen, den tech­ni­schen Schnick­schnack, und wir müs­sen nach dem Streß im Abi end­lich mal wie­der chillen.

Außer­dem: Es geht dann erst mal nach Neu­see­land oder Aus­tra­li­en, ob mit Tra­vel and Work, ob ohne. Haupt­sa­che weit, weit weg, am bes­ten ans ande­re Ende der Welt. Da ergibt sich schon was: Kiwis pflü­cken, die Ber­ge aus den Hob­bit-Ver­fil­mun­gen im Ori­gi­nal sehen, und mal Abstand haben – einen gan­zen Erd­durch­mes­ser Abstand. Das reicht gera­de so. Mini­mum. Nix Kaf­ka, nix Benn, nix Kant und wie die alle hei­ßen! – Fack ju Göte!

Kom­men­tar­be­reich,
25. März, 21 Uhr

Ach, Ihr Kleingeister,

seht Ihr denn nicht, daß Euch all Eure hohe und höchs­te, ja aller­höchs­te Lite­ra­tur, die Ihr angeb­lich app­er­zi­piert, nicht vor dem Stumpf­sinn bewah­ren konn­te? Auf der off­zi­el­len Lite­ra­tur­lis­te für Abitu­ri­en­ten sind doch wun­der­ba­re Wer­ke der deut­schen Lite­ra­tur ver­zeich­net. Was braucht’s da noch mehr? Wer sich hier nicht »infi­ziert«, ist für die Unab­ding­ba­ren eh verloren.

Wer zu Tho­mas Mann über­re­det wer­den muß, wird der mit Adri­an Lever­kühn fie­bernd die Genia­li­tät suchen? Kann der dann über Dode­rers Mero­win­ger lachen? Wird der mit offe­nem Mun­de über den Auf­zeich­nun­gen aus dem Kel­ler­loch sit­zen? Oder in Gedan­ken die beben­den Hüf­ten der Lucin­de umfas­sen? Wohl nicht…

Phan­ta­sie und Träu­me­rei wird den zeit­ge­nös­si­schen Zom­bies mit­tels Por­no­gra­phie (in Lite­ra­tur, Film, Kir­che, Poli­tik…) aus­ge­trie­ben. Aber gute Lite­ra­tur läßt dem guten Leser immer auch Frei­heit, einen Aus­weg. Mein Held bei den Aben­teu­ern des Wer­ner Holt waren eben nicht die Kom­mu­nis­ten, Grüb­ler oder Feig­lin­ge, son­dern der böse Wolz­ow. Begab­te Schü­ler wer­den eige­ne Pfa­de nicht scheuen…

Und was waren da nicht alles für coo­le Typen unter­wegs… Wie ger­ne wür­de ich mal mit Dos­to­jew­ski am Rou­lette­tisch zocken, oder ihm bei einem epi­lep­ti­schen Anfall zur Sei­te ste­hen, mit Bal­zac Mok­ka sau­fen und von der »Dro­gue« kos­ten, mit Gaul­tier einen Box­kampf bestrei­ten, dem besof­fe­nen Jean Paul etwas Klu­ges ablau­schen, oder mit Dan­te über die Lie­be schna­cken, für den blin­den Mil­ton den Schrei­ber machen, der Vir­gi­nia Woolf eine Nacht steh­len, mit Ezra Pound die Zel­le tei­len, James Joy­ce die Bril­le put­zen, Hou­el­le­becq die Ziga­ret­ten anzün­den, und wenn man nur ein­mal mit Bukow­ski den urba­nen Hipster­girls die Röcke his­sen könn­te… Es ist Sehn­sucht, viel­leicht Lie­be – und die Lie­be läßt sich nun mal nicht erzwin­gen! Die Schrei­ber­lin­ge ver­gan­ge­ner Zei­ten wol­len nicht gedul­det sein, son­dern gebe­ten wer­den! Und das sind wir ihnen auch schuldig!

»Infi­zie­ren« kann ein Leh­rer nicht, das ist zuviel ver­langt, viel zuviel. Inf­ziert wird man nachts unter der Bett­de­cke mit der Taschen­lam­pe über einem Buch… Lie­ber Meis­ter Bos­sel­mann, für die Katz ist jed­we­des Bemü­hen, einer Welt, deren Vital­funk­tio­nen digi­ta­ler Natur sind, Leben, gar Lei­den­schaft ein­hau­chen zu wol­len. Wo noch Leben in den Men­schen ist, wird es sich Bahn bre­chen. Viel­leicht schla­gen wir Aus­er­wähl­ten, wir Begna­de­ten eine klei­ne Bre­sche ins Dickicht, aber kom­men müs­sen sie schon alleine…

Die Mes­ser gewetzt,
Raskolnikow

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)

Für diesen Beitrag ist die Diskussion geschlossen.